Wie das gefleckte Vieh zum Fleckvieh wurde

Historisches
Wie das gefleckte Vieh
zum Fleckvieh wurde
l Dr. ing. Dr. Dietmar Stutzer, Neustift / Oberösterreich
Das Recht, Tierzucht zu betreiben, war im hohen Mittelalter adeliges und klösterliches
Vorrecht, das den Bauern vorenthalten war. Doch am 5. April 1459 war es damit
vorbei - und zwar letztlich für ganz Europa. An diesem Tage übernahm die Stadtrepublik Bern die Oberherrschaft über die Herrschaften Weissenburg, Erlenbach,
Diemtig und Wimmis. Dies kann als Datum des Beginns einer bäuerlichen Tierzucht
in Europa überhaupt gelten, weil die Stadtrepublik Bern nach dieser Herrschaftsübernahme die adeligen Vorrechte sofort aufhob und auf die Bauern übertrug, die
damit als Tierzüchter frei handeln konnten.
dert zum zentralen Ort der
Fleckviehzucht überhaupt
und des europaweiten
Zuchtviehexportes aus der
Schweiz werden. Die Tier-
zuchtliteratur gegen Ende
des 19. Jahrhunderts sagt
von der großstirnigen Rinderrasse (Bos taurus frontosus heißt sie in der Zoolo-
gie), dass sie ihre eigentliche
Heimat in den Kantonen
Bern und Freiburg habe.
Man unterscheide in der
Schweiz zwischen einem
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Einer der 1459 von Bern
übernommenen Orte, Erlenbach am Eingang des Simmenthales, konnte auf dieser Basis im 19. Jahrhun-
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„rothbunten Schlag“, der
am schönsten im Kanton
Bern vertreten sei und deshalb auch Berner-Schlag
genannt werde, und einem
schwarzbunten Schlag, der
in größerer Zahl nur noch im
Kanton Freiburg gefunden
werde und Freiburger-Schlag
heisse.
Der deutsche Tierzuchthistoriker Noerner schreibt 1888 in
seinem Werk „Das Schweizer
Fleckvieh“: „Wir glauben,
dass das Fleckvieh in früheren
Zeiten nur aus einem einzigen
Schlage von dunkelroter Farbe
mit und ohne Abzeichen bestand. Später traten kleine
weiße Abzeichen (in Gestalt
eines Sternes, an den Füßen
etwa) häufiger auf, die im
Laufe der Zeiten an Größe
zunahmen. Gegen Ende des
18. Jahrhunderts findet man
in der Literatur neben der
rothen auch die schwarze
Farbe erwähnt, ohne dass
wir jedoch im Stande sind,
hierfür eine richtige Erklärung abzugeben. Diese ursprünglich dunkelrote oder
braunrote Farbe wurde allmählich immer heller, so
dass wir gegenwärtig (Ende
19. Jahrhunderts) als Lieblingsfarbe des Simmenthaler
Schlages eine gelbe Grundfarbe mit mehr oder weniger
großen weißen zerstreuten
Flecken haben.“ So ist das
„Simmenthaler Fleckvieh“
von heute eine Rinderrasse
des 19. Jahrhunderts, die
durch Evolution entstanden
ist.
Das bereits im 16. Jahrhundert außerhalb der Schweiz
bekannte Berner Vieh waren
die „Berner Roten“, die eine
von den topographischen
und ökologischen Bedingun-
l Original Simmenhaler Kuh – 4,5 Jahre alt.
gen der Großregion Bern
bestimmte Ausprägung des
alten keltischen Rotviehs
waren, das von Skandinavien bis zum Ural und bis nach
Oberitalien die frühzeitliche
Rinderhaltung beherrscht
hat. Um 1545 hat sich Graf
Wolfgang von Stolberg zu
Stolberg im Harz umfassend
um die Findung und Einführung einer Rinderrasse bemüht, die den harten Umweltbedingungen des Har-
lDas schweizer Simmental gilt als die Wiege
der Fleckviehzucht.
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zes gewachsen war. Gefunden hat er sie nach langem
Bemühen schließlich in der
Schweiz, in Bern. Nach intensivem Schriftwechsel
bekam er auch Zuchttiere,
einige Stiere und eine Anzahl Kühe, aus denen das
leider schon seit längerem
verschwundene „Harzer
Rotvieh“ entstanden ist.
Es erscheint ein wenig bizarr, daß ab etwa 1880 die
damals besten Köpfe der
Tierzuchtwissenschaft
Deutschlands, des deutschsprechenden Österreich und
der Schweiz gemeinsam
nach dem Verbleib der „roten Berner“ gefahndet haben, ohne Erfolg. Mit den
damaligen Mitteln konnte
nicht erkannt werden, daß
sie alle noch da, aber jetzt
das „Simmenthaler Fleckvieh“ waren. Ebenso leben
die roten Berner in den
„schönsten Kühen der
Welt“, den Pinzgauern in
Salzburg weiter. Im Mittelpunkt der europäischen
Aufmerksamkeit standen
stets die „Berner Roten“
und vor allem das aus ihnen
l Freiburger Schwarzfleckvieh.
A. von Rueff (1877).
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hervorgegangene Fleckvieh
von heute. Das Berner Rotvieh ist vermutlich die Ausgangsrasse zahlreicher Kultur- und Leistungsrassen in
Mitteleuropa.
Nach einer Berner Quelle
von 1894 sind während des
19. Jahrhunderts allein nach
Deutschland 17.958 Zuchtrinder, davon 1.810 Stiere im
Wert von 8.716.579 Franken
ausgeführt worden - eine für
die damalige Zeit sehr hohe
Summe, die den Ertrag der
Milchproduktion übertroffen
hat. Die behördlichen Zählungen haben nicht nach
Rassen unterschieden, es ist
aber anzunehmen, dass
65 - 75 % davon auf Simmenthaler aus Bern entfielen. Dabei hat auch eine
Rolle gespielt, daß die
Schweiz - ähnlich wie die
österreichischen Alpenländer - von einer genetischen
Katastrophe der Rinderzucht
nach den napoleonischen
Kriegen nicht betroffen war,
der „Verzwergung“ der Rinderbestände. Sie war eine
Folge der negativen genetischen Selektion, die im Ge-
folge der großen Seuchenverschleppungen während
der Kriege, der Fehlernährung durch Futtermangel
und der Wegnahme der
besten Tiere bei militärischen Durchzügen entstanden war.
Für das 19. Jahrhundert ist
von besonderem Interesse,
dass die Genossenschaftsbewegung in der Schweiz
vor allem auf die Viehzuchtgenossenschaften ausgerichtet war, viel weniger auf
die Waren- und Kapitalgenossenschaften. In Deutschland hat es eine ähnliche
Entwicklung nur in Baden
gegeben. Die Genossenschaften waren auch unmittelbare Träger des breiten
züchterischen Fortschritts,
weil sie die kostspielige
Anschaffung und den Unterhalt von genetisch wertvollen Vatertieren übernahmen
und damit den kleineren
Fleckviehzüchtern den Zugang zum genetischen Fortschritt offen gehalten haben.
Die Rinderzucht der Schweiz
wurde auch in weit geringerem Maße von dem Problem
der Deckseuchen bedrängt,
als in den größeren Nachbarländern. Auch hier hat sich
das Vorsorgesystem gegen
Tierseuchen, das durch den
Arzt, Biologen und Dichter
(„Die Alpen“) Albrecht von
Haller in der Mitte des 18.
Jahrhunderts geschaffen
wurde, bis zur Gegenwart
bewährt.
1903 wurde die Milchleistungsprüfung eingeführt, mit
staunenswerten Ergebnissen, nämlich Jahresleistungen bis zu 10.000 Kilo Milch
und Lebensleistungen von
Kühen von 90.000 Kilo
Milch. Solche Spitzenleistungen hat es in Deutschland
auch vereinzelt gegeben.
Der Begründer der modernen Molkereiwirtschaft,
Wilhelm Fleischmann, hat
dafür die „schwarze Jette“
angeführt, eine Kuh, die gar
nicht schwarz, sondern rot
war, weil sie zum schlesischen Rotvieh gehörte und
auf einem Betrieb eines
Grafen Pinkus bei Neustadt
in Niederschlesien stand. Er
hat aber auch eine damalige
Aktien- Großmolkerei in
l Berner Rothscheck-Kuh.
Gemalt 1887 (Flückinger).
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Stalden bei Bern zitiert, die
immer wieder Kühe aus
ihrem Einzugsgebiet mit
7.000 bis 8.000 Litern Jahresleistung herausgestellt
hat. Auch Österreich hat
einige solcher „Wunderkühe“ gekannt, interessanterweise in niederösterreichischen, mährischen und slowakischen Ackerbaulandschaften und nicht in den
Gebirgen.
Bemerkenswert ist auch,
dass bereits 1920 eine Kommission für Stammbuchzüchter beim Simmentaler
Fleckvieh eingerichtet wurde, daß sich also eine Tendenz zu Kreuzungen auch in
der klassischen Fleckzucht
vor 100 Jahren bereits geltend gemacht hat. 1925
wurde für die Simmentaler
Fleckviehzucht eine Widerristhöhe bei Kühen von 150
Zentimetern, ein Gewicht
bis 1100 Kilogramm und ein
Leistungsziel etwa 8.000
Kilo Milch pro Jahr formuliert. Massive Änderungen in
der Definition des Fleckvieh-Zuchtzieles gab es
1930: „Wir wollen korbige,
dicke, kurzbeinig breitgestellte Kühe mit breit angesetztem, faltigem Euter“, so
lautete diese Formulierung.
Zu ihrer Verwirklichung wurden von 1935 - 1955 nicht
weniger als 100.000 Tiere
aus der Zucht ausgeschlossen, die Fleckviehpopulation
der Schweiz wurde 12 bis
14 Zentimeter kleiner. In der
Zuchtgeschichte nennt man
jetzt diese Periode den
„kurzbeinigen Irrtum“.
Es hat viel gekostet, diesen
kurzbeinigen Irrtum wieder
aus der Welt zu schaffen.
Kaum noch wirklich vorstellen kann man sich, dass in
der Schweizer Fleckviehzucht die künstliche Besamung bis 1961 in aller Form
verboten war. Etwas weniger schwer verständlich wird
dies, wenn man bedenkt,
dass die Schweiz mit allen
Tierseuchenproblemen und
eben auch mit dem der
Deckseuchen in den letzten
250 Jahren besser fertig
geworden ist als alle ihre
Nachbarn. Nur Dänemark
hat es ihr gleichgetan. Aus
heutiger Sicht beurteilen die
l Kuh Hanni, geboren am 14.12.1917.
Gewicht: 688 kg. Widerristhöhe: 143 cm.
FLECKVIEHWELT 2/2015 Züchter allerdings die Aufhebung des Verbotes der
künstlichen Besamung 1961
einhellig als Befreiungsschlag, der unabhängig von
der Deckseuchenproblematik die großen Schübe in der
Genetik erst möglich gemacht hat.
Eine Überraschung, die in
den anderen Fleckviehzuchtländern kaum bekannt ist,
war „La guerre des vaches“
- der „Krieg der Kühe“, der
in den mittleren und späteren 50iger Jahren eingesetzt
hat. Gemeint ist damit ein
erstaunlicher Viehschmuggel, nämlich die Einführung
von Zuchtkälbern aus den
Fleckviehzuchten des Montbeliard „etwas außerhalb
von Rechtsnormen“.
Die Montbeliarde bilden
einen Kern der französischen Fleckviehzuchten und
haben manche Ähnlichkeit
mit den badischen Vorderwäldern, weichen also von
den gewohnt schweren
großrahmigen Tieren mit
Gewichten um 1.000 kg und
mit der Heimat Simmental
ab.
Das Montbeliarde war einst
die deutsche Reichsgrafschaft Mömpelgard, ihre
Grafen waren die Herzöge
von Württemberg und die
Grafschaft war vor 1806 der
Anteil des alten deutschen
Reiches am Burgund. Heute
gibt es 9.200 Herdbuchtiere
vom Montbeliard-Fleckvieh
in der Schweiz und nur noch
25.000 Simmentaler Reinzuchttiere. Den größten
Anteil mit 67.000 oder 87 %
haben Kreuzungen mit Red
Holstein. Die Einkreuzungen
mit Red Holstein haben
1967 begonnen - mit anhaltendem Erfolg. Die französischen Montbeliarde mit
ihren kräftigen Farben und
ihren eleganten Bewegungen haben genetische Ähnlichkeiten mit den „Kampeten“. So hießen die Bergschecken im Österreich
nördlich der Donau, aus
denen sich die Ausprägungen des heutigen Fleckviehs
in den Mittelgebirgen Österreichs entwickelt haben.

l Bulle Herkules, geboren am 20.10.1894. Gewicht:1113 kg, Widerrist­
höhe: 157,5 cm. Sieger Ehrenpreis der Landwirtschaftskammer für
die Provinz Sachsen. DLG Wanderausstellung Dresden 1898.
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