Rede zum Festakt von Ulrich Wilkens als PDF

Festvortrag von Ulrich Wilkens
zum Festakt „800 Jahre Billinghausen“
am Freitag, dem 19. Juni 2015
Mittwoch, 17. Juni, kurz vor fünf.
Ich sitze im ICE von Hamburg nach Hannover.
Mir gegenüber ein Pärchen.
Rainer und Elvira.
Auf Silberhochzeitsreise.
Sehr nett die beiden. Wirklich!
Allerdings verbal total inkontinent.
Eine Stunde – und ich weiß mehr über die beiden, als ich eigentlich wissen will.
Aber geschenkt. Zuhören ist ja mein Job – kann ja auch mal ganz schön sein...
Also: Rainer und Elvira.
Baujahr 60 und 62.
Er im Sommer. Sie im Winter.
BMI verrat´ ich jetzt hier nicht. (Obwohl ich´s weiß...)
Also: Rainer und Elvira.
Kommen aus der tiefsten Pfalz.
Da, wo man sich den Magen mit Saumagen vollschlägt.
Aus Waldfischbach.
Südwestpfalz.
Nie gehört vorher.
Ich weiß inzwischen: Dort gibt es die Moosalbtaler Blasmusik. Und den rührigen Verein der Siedler und
Kleingärtner.
Dann die Frage von Rainer und Elvira:
„Und wo kommst Du weg?“
Wie bitte? Weg?
Ich dachte, ich hör´ nicht richtig...
Weg? Wo kommst du weg?
Haben Rainer und Elvira vielleicht lippische Urahnen?
Ich sage:
„Wo ich herkomme, meint Ihr?
Aus Billinghausen!“
„Billing – was?“
„Billinghausen“
„Wo liegt denn das?“
„Ha, erwischt! Bildungslücke!
Billinghausen liegt zwischen Wissentrup und Hiddentrup.“
„Is schon klar...“
„O.k., Scherz beiseite. Billinghausen liegt zwischen Hannover und Dortmund. Um nicht zu sagen, zwischen
Warschau und Rotterdam.“
Leute! Gäste auf diesem Feste!
Die kannten Billinghausen nicht!
Ist es denn die Möglichkeit?
Saumagen fressende Tief-Pfälzer pseudolippischer Mundart kennen Billinghausen nicht...
Ignoranten...
Ich sag´ noch zu Rainer und Elvira: „Billinghausen - da muss man gar nicht wechkommen, da kann man ruhig
auch mal hinkommen!
Spätestens die Goldhochzeitsreise...“
Nix gegen Hape Kerkeling, aber Billinghausen – da ist man nicht bloß mal weg – da ist man hin und weg
davon!
Ich hätte so gerne noch mehr erzählt...
Von unserem liebenswerten Dörfchen.
Von unserem kurz bevorstehenden Mega-Event,
der 800 Jahr - Feier.
Keine Chance!
Schneller, als die Intercitys fahren können, waren Rainer und Elvira thematisch wieder in Waldfischbach.
Und bei ihren lieben Kindern...
...die ihnen zur Silberhochzeit die tolle Reise nach Hamburg geschenkt hatten.
Schade, dachte ich, als ich später in Hannover saß und auf den ICE nach Bielefeld wartete.
Schade! Ich hätte auch jede Menge über Billinghausen erzählen können.
Dann hätte ich ja schon mal üben können für in zwei Tagen, für den Festakt.
Schade! Denn im ICE nach Bielefeld gab es weit und breit niemanden, der auch nur annähernd den Pfälzern
Rainer und Elvira das Wasser reichen konnte.
Schade! Keine Revanche möglich für den Knopf, den ich inzwischen fest an der Backe hatte.
Und so stehe ich jetzt heute hier, und muss völlig ungeübt irgendwas zu Billinghausen sagen.
Nicht, weil ich unbedingt will, sondern weil ich soll.
Ein Festvortrag soll es sein.
Booaah....
Was für ein Wort:
„Festvortrag“!
Dafür hätten wir eigentlich den Gauck gebraucht – aber nein, der hat ja kurzfristig abgesagt.
Der ärgert sich vielleicht immer noch, dass er das Mautgesetz unterschrieben hat...
Also gut. Festvortrag.
Aber keine Sorge, bis zur Disco heute Abend sind wir fertig.
Fertig mit den Nerven...
Nein, ich sollte es mit Martin Luther halten.
Er hat Rednern mal den Tipp gegeben:
„Tritt frisch auf – tu´ s Maul weit auf – hör bald auf!“
Er hatte ja so recht, der gute alte Luther.
Darum habe ich mir gedacht:
800 Jahre alt ist Billinghausen nun.
Für jedes Jahr, das Billinghausen auf dem Buckel hat, 1 Sekunde Redezeit – das werden mir wohl auch die
Ungeduldigsten heute verzeihen, oder?
Macht nach Adam Riese 13 Minuten und 20 Sekunden.
Wovon übrigens mindestens 200 Sekunden jetzt schon um sind!
Also... Billinghausen... was gibt’s dazu zu sagen?
Wo fängt man da bloß an? Und wo hört man da wieder auf?
Eigentlich kann man da ja nur vom Hölzchen auf´s Stöckchen kommen. Na ja, wie Rainer und Elvira eben.
* Fangen wir mal an mit der 800.
800! Wahnsinn! Kein Schwein wird so alt – aber Billinghausen!
Und es kommt ja noch viel besser: Archäologen können beweisen: hier haben schon in der Jungsteinzeit
Menschen gelebt. 5000-2000 Jahre v. Chr.!
Schon damals wusste man eben: hier lässt sich´s gut leben!
*Apropos Leben. Das Leben vor Ort hat sich im Laufe der Jahre schon erheblich geändert. Am
gravierendsten natürlich in den letzten 100 Jahren. Früher waren die Bilser als Wanderarbeiter unterwegs.
Z.B. als Ziegler und Torfstecher. In Norddeutschland, Holland und Dänemark. Heute wird mehr gefahren als
gewandert, um in die Industriebetriebe der Nachbarstädte zu gelangen. Und das „außerbillinghausensche
Ausland“ ist erheblich näher gerückt. Was war das früher für ein Abenteuer, wenn Opa und Oma in die
große Stadt wollten, nach Bielefeld. Denn das „Ausland“ begann ja schon gleich hinter der Bilser Grenze.
Als ich 2000 nach Billinghausen kam, erzählte mir ein echter Bilser Jung´ ganz stolz, er und seine
Geschwister seien der Bilser Heimat treu geblieben. Nur die Schwester sei im Ausland gelandet. Ich dachte
dabei zuerst an Holland. Soll es ja geben, dass jemand dort hinzieht. Da gibt’s ja immer lecker Käse.
Ausland? Vielleicht ist sie ja in Holland, dachte ich.
Bis er dann sagte: „Unsere Schwester wohnt in Wissentrup...“
Ach ja, so sind se, die alten Bilser...
Seit 1918 stehen sie übrigens unter Strom!
Eine Katastrophe damals für die vielen Petroleumlampenmanufakturen des Landes.
Ob sich über die beginnende Elektrifizierung 1918 alle Bürger gefreut haben, sei einmal dahingestellt. Denn
wie heißt es so schön:
Warum lesen die Lipper ungern bei elektrischem Licht?
Antwort: Weil es umständlich ist, vor dem Umblättern jeder Seite das Licht aus- und danach wieder
einzuschalten.
Oder fast noch besser ist dieser hier:
Muttern sacht zu ihrer Tochter Elfriede, die den ersten Verehrer mit nach Hause gebracht hat: „Du
Friedchen, den Adolf, den soltteste dir man warmhalten. Das issen chanzen Sparsamen.“ „Wieso, Mama?“
„Na ja, immer, wenn Ihr aufem Zimmer alleine seid, macht der chanz schnell das Licht aus...“
*Also, Strom müssen se seit fast 100 Jahren auch bezahlen, die Bilser. Und Wasser?
Klar, gibt’s hier auch. Zwar hart wie Krupp-Stahl, aber noch isses ja immerhin flüssig – noch...
In Bilsen stieß man 1957 auf... ...nein, leider nicht auf Öl, sonst sähen unsere Straßen heute nicht so aus...
...man stieß auf Wasser. 1957 wurde am Kammerweg gebohrt. Und gebohrt. Und gebohrt. Und gebohrt.
Und gebohrt. Und gebohrt. Und gebohrt.
Oh nein, ich hab´ ja nur 800 Sekunden...
Nach 90 Metern stieß man auf Wasser - und eine 10 Meter hohe Fontäne war nicht mehr zu stoppen. Bei
Hannings Ernst lief sogar der Keller voll...
Billinghausen hatte Anteil an allen Errungenschaften der modernen Zeit.
Hier gab es allen ernstes einen so genannten „Blutlauskontrollbeamten“. Das war der Schuhmachers Fritz
aus der Nummer 43. Der sorgte dafür, dass die Blutlaus, die aus Amerika eingeschleppt wurde und durch
Baumkrebs viele Bilser Obstbäume vernichtete... ...vernichtet wurde. Toll diese Beamten, nicht wahr!
Und noch was: Am 31. Juli 1954 wurde die letzte Postkutsche durch einen Opel Blitz ersetzt. Und am 1.
Oktober 1954 bekam Billinghausen endlich eine eigene Poststelle, die im Übrigen bis 1997 betrieben wurde.
* Im Export waren die Billinghauser ja immer schon die größten Experten. Nein, ich meine jetzt nicht das
Bier. Es geht ihnen doch nichts über den chuten lippsken Wacholder...
Nein, ich meine jetzt auch nicht in erster Linie die verdammt leckeren Pieper-Würstchen, die Billinghausen
Arbeit und Brot und allen anderen vernünftiges Essen gebracht haben.
Nein, ich erinnere beim Stichwort Export daran, dass das allererste motorisierte Feuerwehrfahrzeug der
Feuerwehr Hörste aus Billinghausen kam. 1944! Ja, die Billinghauser waren schon immer sehr großzügig,
wenn es um Entwicklungshilfe für den Nachbarn hinter dem Bilser Berg ging...
Und noch etwas:
Es gab in Billinghausen bis in die siebziger Jahre einen Ziegenzuchtverein. Kein Zickenzüchtigungsverein. Ein
Ziegenzuchtverein! Und dass die Billinghauser Gene schon immer ein wahrer Exportschlager waren, verrät
das Protokoll des Billinghauser Gemeinderats von 1958:
„Der örtliche Ziegenbock kann auch die Ziegen der Gemeinde Wellentrup mit betreuen.“
Ja ja, was war sie doch damls keusch und züchtig die Zeit, als man noch von „betreuen“ sprach und Dr.
Sommer noch nicht heimlich unter der Bettdecke gelesen wurde...
*Großzügig, so muss man sagen, waren die Menschen in Billinghausen ja schon immer.
Nach dem Krieg wurden hier sehr viele Flüchtlinge aufgenommen. Und sie wurden wirklich gut
aufgenommen. Sie wurden voll in die Gemeinschaft im Dorf integriert. Ob Ur-Bilser oder Zugezogener –
wen interessiert das heute noch?
Die Solidarität nach dem Krieg war groß. Es wurden Sammlungen durchgeführt. 1947 gab es eine
Eiersammlung: 480 Eier kamen zusammen! Im selben Jahr wurden 120 Pfund Erbsen und Bohnen
gesammelt und 8,5 Zentner Kartoffeln. Was für eine Spendenbereitschaft!
Der folgende lippische Witz kann unmöglich in Billinghausen entstanden sein, auch wenn er hier spielt:
Novembertag in Billinghausen. Seit Stunden regnet es. Es ist ungemütlich kalt. Ein Tag, an dem man keinen
Hund vor die Tür schickt. Ewald, der aus Pivitsheide rübergekommen ist, sagt: „Komisch. Keine Beerdigung.
Kein Dorffest. Und dieses Sauwetter. Trotzdem sind die Straßen hier schwarz vor Menschen.“
Erinnert ihn seine Frau Hilde: „Hast Du nicht gelesen? Stand doch in der Zeitung: Heute findet in
Billinghausen die jährliche Haussammlung statt“.
*Und nun einige Anmerkungen zum Billinghauser Vereinsleben:
Neben den heute aktiven Vereinen der Dorfgemeinschaft gab es in Billinghausen auch Vereine, von deren
Existenz heute kaum noch einer etwas weiß:
So gab es zum Beispiel den Rad-Sportverein. Und zwar ganz ohne E-Motor! Und es gab den eben schon
erwähnten Ziegenzuchtverein. Und natürlich die Brieftaubenfreunde Billinghausen, die inzwischen bereits
vom Winde verweht sind. Oder die Eber- und Bullenhaltungsgenossenschaft.
In diese Richtung geht auch der Schweineversicherungsverein. Waren hier eigentlich die Schweine
versichert, oder wer?
Am kürzesten bestand der RSV... ...nein, nicht Hörste. RSV Billinghausen. Dieser Fußballverein existierte von
1934 bis 1935.
Bedenklich übrigens, dass die örtliche Sterbekasse in den sechziger Jahren aufgelöst wurde. Zitat wörtlich:
„aus Mitgliedermangel“. Tja, Verstorbene sind halt von der Beitragspflicht entbunden...
Einen heute noch aktiven Verein muss ich allerdings erwähnen.
Ich hoffe, die anderen sind nicht sauer.
Die Gartenfreunde Billinghausen haben eine Wandergruppe. Diese Wandergruppe hat bis heute sage und
schreibe über 4000 km Fußweg zurückgelegt.
Und das nicht, weil sie sich einmal im Monat an einem Sonntag sagen: Bloß schnell weg von Billinghausen...
Sondern weil ihr Lieblingsspiel die Reise nach Jerusalem ist.
Die bisher zurückgelegte Wegstrecke entspricht nämlich laut Google Maps exakt der Distanz zwischen
Billinghausen und Jerusalem. Ich hab´ das genau recherchiert: 4023 km Fußweg. Berechnet bei Abgang
Bökehof Landhandel mit Ankunft Jerusalem Klagemauer.
Dabei frage ich mich die ganze Zeit:
warum sollten die Bilser zur Klagemauer laufen? Bei uns gibt’s doch nix zu klagen...
* So, ich nähere mich nun gefährlich der 800 Sekunden - Grenze.
Es wird Zeit, dass ich zum Schluss komme.
Was kann man über Billinghausen zusammenfassend sagen?
Warum lohnt es sich einfach, hier zu leben?
1. Die Bilser – sie sehen ganz und gar nicht alt aus, trotz ihrer 800 Jahre auf dem Buckel.
2. In Billinghausen gibt es zwar kein Krankenhaus und kein Freudenhaus, noch nicht einmal eine Turnhalle,
dafür aber eine Sporthalle mit 3. Halbzeit. Einmalig, dass die Vereinsmitglieder einen Eigenanteil von mehr
als 350.000 € eingebracht haben, um dieses Projekt zu realisieren. Seit 2004 ist Billinghausen stolzer
Besitzer dieses neuen Dorfzentrums.
3. In Billinghausen gibt es ganz viele helle Köpfe – da kommt man sogar klar mit einer notorischen
Unterversorgung an Straßenbeleuchtung.
4. Die Billinghauser sind nicht nur ein freundliches, fröhliches und gerne feierndes Völkchen, sie sind auch
ausgesprochen geduldig:
Die Bilser ertragen es nämlich geduldig, wenn löchrige Straßen nicht saniert werden, dafür aber intakte
Straßen einfach gesperrt werden, um sie angeblich zu sanieren.
Sie ertragen es auch, dass ihnen einfach die Grundschule vor der Nase zugemacht wird. Eine Schule, die seit
1881 in Billinghausen bestand und 1966 sogar neu gebaut wurde.
5. Billinghausen ist trotz allem ein aufstrebender Ort. Hier wird gebaut wie verrückt. Und in Billinghausen,
da findet man immer mehr auch seine Ruhe. Die Einwohner der umliegenden Orte finden verstärkt in
Billinghausen ihre Ruhe – ihre letzte Ruhe, denn der Friedhof – er expandiert!
6. Billinghausen ist einfach zeitlos. Auch abends ist hier immer noch „Mojjän“ unterwegs.
800 Sekunden Billinghausen – endlich sind sie rum!
Ich bitte vielmals um Verzeihung, wenn ich einige Sekunden überzogen haben sollte.
Zum Schluss stimmt alle mit ein:
Billinghausen lebe hoch! Es lebe hoch! Hoch! Hoch!
Gemeinsam: Hoch! Hoch! Hoch!
P.S.: Rainer und Elvira in Waldfischbach kriegen demnächst vielleicht Post aus Billinghausen:
Unsere Dorfchronik!
Ist das o.k.?