Ein paar schlechtere Jahre – das ertragen wir Text: Andreas Giger Wenn es einen Begriff gibt, mit dem sich die Haltung von SIGVARIS-Miteigentümer Stefan Ganzoni gegenüber den Herausforderungen der Zukunft beschreiben lässt, dann lautet dieser Zuversicht. Für diese Zuversicht gibt es gute Gründe. Keine Zukunft ohne Herkunft Das Selbstporträt auf der eigenen Homepage beginnt so: »Im Jahr 2014 feierte SIGVARIS 150 Jahre. Das Schweizer Unternehmen blickt auf erfolgreiche Schritte zurück und geht kontinuierlich in Richtung Zukunft - treu nach dem Motto «Every day a step further». Mit diesem Satz schlägt SIGVARIS selbst eine Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft. Wie respektvoll das Unternehmen mit der eigenen Vergangenheit umgeht, zeigt sich unter anderem darin, dass das Jubiläum mit einem opulenten Buch über die Firmengeschichte gefeiert wurde. Und diese Geschichte ist eindrucksvoll genug: Begonnen hat SIGVARIS als Zweimannunternehmen, als „reines Merceriegeschäft“ in Winterthur, mit anderen Worten als Gemischtwarenladen. 150 Jahre später setzt die Firmengruppe rund CHF 250 Millionen um, beschäftigt weltweit 1400 Mitarbeiter, und hat Produktionsstandorte in vier Ländern sowie eigene Tochtergesellschaften in weiteren acht Ländern, die weltweit rund 70 Länder beliefern. In ihrem Kerngeschäft ist die SIGVARIS AG mit einem Anteil von rund einem Viertel am Gesamtmarkt Weltmarktführer. Seit den Anfängen bis heute ist das Unternehmen zu hundert Prozent im Eigentum der Familie. Das, so Stefan Ganzoni, sei ein entscheidender Faktor gewesen, um jenes Kapital aufzubauen, das gerade in seinem Markt von entscheidender Bedeutung ist: Vertrauen. Liebevoll statt sexy Nein, als sexy gelten die Produkte von SIGVARIS bestimmt nicht. Im Gegenteil: Wer diese Produkte braucht, hat ein Problem. Ein medizinisches, behandelt vom Fachgebiet Phlebologie. Ja, auch der Chronist musste erst googeln: Es handelt sich dabei um ein medizinisches Fachgebiet, das sich mit der Erkennung und Behandlung von Gefässerkrankungen befasst, insbesondere von Venenerkrankungen wie z.B. Krampfadern. Dagegen ist zwar kein Kraut gewachsen, doch es gibt eine Möglichkeit zu helfen: die so genannte Kompressionstherapie. Deren wichtigstes „Instrument“ ist der medizinische Kompressionsstrumpf, im Volksmund „Stützstrumpf“ genannt, allerdings fälschlicherweise, wie Stefan Ganzoni betont: Stützstrümpfe sind wie Aspirin – für leichtere Fälle, auch als Lifestyle-Produkt nutzbar und frei erhältlich. Medizinische Kompressionsstrümpfe dagegen gibt es nur auf Rezept. SIGVARIS hat zwar auch Angebote im nichtmedizinischen Bereich (Well Being und Sports), doch der faktische Schwerpunkt liegt ebenso wie der strategische im Kernbereich medizinische Kompressionsstrümpfe, für den sich das Unternehmen vor fünfzig Jahren entschieden hat, und dem es seither mit einer Konsequenz, die andere Sturheit nennen mögen, treu geblieben ist. Wie schafft man es, rund acht Millionen Paare von einem Produkt zu verkaufen, das nun wirklich niemand als sexy oder attraktiv bezeichnen würde? Im Gespräch mit Stefan Ganzoni schälen sich einige Antworten heraus: Indem man viel Herzblut investiert. Indem man versucht, beste Qualität mit ästhetischen und modischen Eigenschaften zu kombinieren. Indem man Schritt für Schritt die Qualität von Produktionsprozessen und Serviceleistungen verbessert. Indem man sich für Forschung und Kommunikation auf dem eigenen Fachgebiet engagiert. Kurzum: Indem man liebevoll, dynamisch und effizient entwickelt, produziert und verkauft. Solide Werte-Basis Stefan Ganzoni scheut sich nicht, Worte (und Werte) wie Liebe, Respekt, Anstand, Vertrauen oder Frieden in den Mund zu nehmen. Er bekennt sich offen zu seinem liberal protestantischen Hintergrund, aus dem er seine Glaubensüberzeugungen gewinnt. In einem eigens verfassten Text beschreibt er die Werte-Basis seines Vaters so: Das Geschäft geht vor, ist strenge Pflicht, braucht den vollen Enthusiasmus, die Begeisterung. Im Unternehmen findet viel kreatives Gestalten statt. Hüte dich vor den Banken! Ein Unternehmen muss frei handeln können. Der Mitarbeiter ist wichtig, gehört gewissermassen zur Familie. Männer gehören in die Welt, in die Geschäftswelt. Frauen verstehen davon wenig. Der Familienzusammenhalt in der Grossfamilie ist wichtig, auch wenn immer wieder schwere Konflikte auftauchen, die es mutig zu bewältigen gilt. Die Beschäftigung mit den schönen Künsten, vor allem der klassischen Musik, weitet den Horizont des Unternehmers und bildet Räume, welche die kreativen Energien fördern. Das private Vermögen ist nicht von Bedeutung, das Vermögen steckt in der Unternehmung. Privater Reichtum ist „per se“ unwichtig. Mit einer Ausnahme (Rolle der Frau) hält sich auch die heutige Generation an diese Prinzipien. Bankkredite etwa gibt es nach wie vor nicht. Auch Stefan Ganzoni ist (zusammen mit seiner Frau) begeisterter Musiker. Und als reich bezeichnet er sich zwar selbst, versichert jedoch glaubhaft, er sei immer noch am Lernen wie er sinnvoll damit umgehen soll. Eines jedoch hat sich geändert. In der Ägide des Vaters wurden Werte verordnet, oft recht kritiklos übernommen und ohne darüber zu diskutieren. An dieser Sprachlosigkeit litt Stefan Ganzoni durchaus: »Wie konnte es möglich sein, dass der Zweite Weltkrieg als Wertezertrümmerer schlechthin kein wirkliches Thema war am Familientisch? So schnell zurück zu „bürgerlichen Gepflogenheiten“?« Heute hat er in seiner Frau, einer ausgebildeten Theologin und Musikerin, eine kongeniale Gesprächspartnerin, mit der er täglich über Themen wie Gottesbilder oder gelebte Werte diskutiert. Vieles wird auch in einer um seinen Neffen Christian, den Inhaber der anderen Aktienhälfte, und dessen Frau erweiterten Runde besprochen. Solche Auseinandersetzungen um die eigene Werte-Basis bleiben nicht ohne Folgen für das Unternehmen. So wurde schon vor langer Zeit beschlossen, ganz auf die früher in manchen Märkten übliche Praxis von „Schweizerfranken – Boni“ zu verzichten, auch wenn diese Entscheidung zu einigen Umsatzeinbussen führte. Die im Frühjahr 2015 durchgeführte FBA-Studie „Zukunft Familienunternehmen 2.0“ hat gezeigt, dass die Schweizer Familienunternehmen in zunehmendem Mass erkennen, wie wichtig und wertvoll ihr „Werte-Portfolio“ ist, und dass sie hier einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil gegenüber anderen Unternehmensformen besitzen. Hier wird das aufs Schönste bestätigt: Die Familie Ganzoni verfügt über ein gut gefülltes Werte-Portfolio in Form einer soliden Werte- Basis. Und vom Unternehmen SIGVARIS wird dieses Werte-Portfolio aktiv und erfolgreich bewirtschaftet. Familienbande Mit dieser Umsetzung von Familien-Werten in Unternehmens-Werte ist SIGVARIS ein ganz normales Familienunternehmen. Auffallend sind dagegen andere Merkmale. So ist etwa die verwandtschaftliche Beziehungen zwischen den beiden Eigentümern Stefan und Christian Ganzoni kompliziert: Christian ist der Sohn von Werner Ganzoni Schwarzenbach, Stefans Halbbruder aus der erster Ehe von Stefans Vater. Fest steht: Es gibt zwei Familienstämme, deren „Oberhäupter“ ziemlich verschiedene Charakteren sind, woraus sie aber das Beste gemacht haben. Man könnte mit Fug und Recht von einer Patchwork-Familie sprechen, wozu Stefan Ganzoni meint: »Ich verstehe die Familie als Mikrokosmos – als Raum des wichtigsten sozialen Trainings –, dies kann man auf eine Unternehmung übertragen: Diese ist ein soziales System wie eine Familie auch; die Familie ist klein, die Unternehmung gross, aber die «comédie humaine» – das Lachen und Weinen, die Tragik und die Emotionen –, die in den beiden Räumen spielt, ist letztlich die gleiche. Vielleicht ist Patchwork das anspruchsvollere Drama, vermutlich ist es dafür aber auch der Wahrheit näher.« Unüblich ist das formale Verhältnis zwischen Familie und Unternehmen geregelt: Im Verwaltungsrat haben – bewusst und gewollt – Nichtfamilienmitglieder die Mehrheit. Und seit einigen Jahren führt ein Nichtfamilienmitglied das Unternehmen operativ. Ob sich das jemals wieder ändern wird, steht noch in den Sternen. Stefan Ganzoni hat seit seinem Rückzug von der operativen Spitze zu seinem Unternehmen noch einmal ein neues Verhältnis entwickelt, nicht zuletzt deshalb, weil er, zusammen mit Christian, bei der Übernahme des Aktienanteils von Caspar Ganzoni, Christians Bruder, erstmals auch in die Rolle des Investors schlüpfte. Vorher, so meint er, sei das Unternehmen quasi ein „Geschenk“ gewesen. Diesen Rollenwechsel habe er als sehr spannend erlebt. In seiner neuen Rolle im Verwaltungsrat hat Stefan Ganzoni verstärkt die Bedeutung eines weiteren Wertes kennen und schätzen gelernt: Sorgfalt. Und eine alte Erkenntnis bestätigt gefunden: Zuerst gilt es, in der Familie Frieden zu halten, dann im Unternehmen. Zukunfts-Kurs Vor der Zukunft ist jemandem wie Stefan Ganzoni nicht bange. Sicher, SIGVARIS leidet als exportorientiertes Unternehmen unter dem starken Franken mehr als nur ein wenig. Das wird sich auf die Ertragslage auswirken, dessen ist er sich bewusst. Doch er meint dazu lakonisch: »Ein paar schlechtere Jahre – na und?« Wer 150 Jahre Familien- und Unternehmensgeschichte hinter sich weiss, kann eben auch vorwärts einen grösseren Zeitraum ins Auge fassen als ein Topmanager, dessen Blickfeld kaum über die nächsten Quartalszahlen hinaus reicht. Und wem es ein echtes Anliegen ist, herauszufinden, wie man „anständig reich“ sein kann, den braucht es nicht zu kümmern, wenn die Dividenden eine Zeit lang magerer ausfallen. Ohnehin lasse sich die Zukunft nicht vorhersehen. In seinem Fall mit einer Ausnahme: Wenn es immer mehr ältere und alte Menschen gibt, wächst die Nachfrage nach medizinischen Kompressionsstrümpfen unweigerlich. Dieses Potenzial zusammen mit dem Wissen um die eigenen Kompetenzen stimmt ihn zukunftsfroh. Wichtig sei, dass ein Unternehmen über eine überzeugende Strategie verfüge. Dabei hält Stefan Ganzoni wenig von modischen Management-Theorien, die er oftmals als „ alten Wein in neuen Schläuchen“ empfindet. Seine Strategie beruht auf Erfahrung und gesundem Menschenverstand. So wurde eisern an der Konzentration auf die eigene Kernkompetenz festgehalten, auch in Zeiten, da alle Welt nur von Diversifikation sprach. Dieses Festhalten war das Resultat intensiver und permanenter Arbeit an der strategischen Ausrichtung. Als ebenso erfolgreich erwies sich die frühe Einführung dezentraler Strukturen, die grösstmögliche Nähe zum Kunden und optimale Anpassung an regionale kulturelle Eigenheit ermöglicht. So erfährt der Chronist nebenbei, dass Frankreich der wichtigste Absatzmarkt von SIGVARIS ist, weil, wie Stefan Ganzoni schmunzelnd erläutert, das Klischee von den Französinnen offenbar doch stimme, die ein besonderes Verhältnis zu ihren Beinen hätten und diesen deshalb die besonders gute Qualität der SIGVARISProdukte gönnen würden. An diesen und anderen strategischen Grundsätzen wird sich auch in Zukunft nichts ändern, daran lässt Stefan Ganzoni keinen Zweifel. Ebenso wenig wie am Charakter eines reinen Familienunternehmens. Bei der Umsetzung der Strategie dagegen bedeute Stillstand Rückschritt, es gelte tatsächlich, jeden Tag einen Schritt vorwärts zu machen. Und dabei auch externe Kompetenzen in Anspruch zu nehmen, von denen es im Unternehmen noch zu wenige gibt. Als konkrete Beispiele dafür nennt er die Innovations-Förderung sowie das Thema „Mergers & Acquisitions“. Bei alledem ist sich der Mitinhaber durchaus der Relativität seiner eigenen Rolle bewusst. Jedes Gelingen, so sagt er ausdrücklich, sei eine Mischung aus eigenem Verdienst und dem, was er als Gnade bezeichnet. Diese Grundhaltung von Bescheidenheit, so wird spürbar, hindert ihn im Gegensatz zu manchem Topmanager daran, auf einem Ego-Trip abzuheben. Stattdessen setzt er auf Vertrauen. Als wichtigstes Element innerhalb der Beziehungen zwischen Unternehmen und Kunden oder Mitarbeitenden. Auf Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und Potenziale. Und auf Vertrauen in so etwas wie höhere Mächte – und damit in kommende Zeiten. Kein Wunder also, sagt er der Gattung Familienunternehmen im Allgemeinen wie seiner eigenen Firma im Besonderen eine glänzende Zukunft voraus.
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