Worauf es ankommt im Leben

Jan Vermeer:
Das Mädchen mit dem
Perlenohrring, um
1665–1667
Den Haag, Koninklijk
Kabinet van Schilderijen
Mauritshuis
© Margareta Svensson,
Amsterdam
BÜCHER-FASS
WEIHNACHTSBRIEF
2015
Worauf es ankommt im Leben
Der Himmel über Kyoto war von strukturlosem, hellem Grau und
Regen fiel unablässig dicht in feinen Tröpfchen. Ich sass vor der Nässe
geschützt auf einer blank polierten Holzdiele und schaute auf einen
rechteckigen, fein und kunstvoll gerechten Kiesplatz, in welchem in
geheimnisvoller Anordnung ein paar wenige Steinbrocken auf einem
sorgfältig gezirkelten Moosgrund lagen. Vertäute Schiffe in einer
ruhigen Bucht. Hinter der begrenzenden Gartenmauer brachte ein
rosa blühender Kirschbaum einen fröhlichen Tupfer in das trübe Licht
des Morgens. Der Ryoan-ji, bis vor 80 Jahren noch ein unbeachteter
Garten unter vielen, ist heute der wohl meistbesuchte Zengarten in der
alten japanischen Kaiserstadt.
Ich war unterwegs in einer kleinen Gruppe von Freunden und wir
waren gespannt auf den Abend, wo wir alte Freunde treffen würden,
die beruflich in Burma tätig waren. Die Freude über das Wiedersehen
an einem fremden Ort war gross, und ausgelassen machten wir uns
auf, um in einem Okonomiyaki-Lokal zu essen.
Nach westlich-japanischer Sitte sassen wir um einen grossen runden
Tisch auf einem Kissen auf dem Boden, wobei wir die Beine bequem
in der Vertiefung unter der Tischplatte verstecken konnten. In der
Mitte des Tisches ist, für diese Art Restaurant typisch, eine teppan,
eine eiserne Kochplatte, eingelassen, auf welcher jeder Gast individuell
1
INHALT
Markus Werner
Von Bäumen, Moosen,
Tau und Sternen
Geschichte
Reiseberichte
Zhuangzi
Bildbände
Philosophie
Politik und Gesellschaft
Belletristik
Worauf es ankommt im
Leben (2)
Dank
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seine Auswahl an Gemüse, Fleisch oder Meeresfrüchten in einem Teig
mit Grünzeug gart. Wir waren hungrig und bestellten üppig; nur M.K.,
der in Burma tätige sprachgewandte IKRK-Delegierte, blieb bescheiden.
Mit dem warmen Reiswein wurden unsere Stimmen lauter, was
kein Wunder ist, wenn politische Meinungen ausgetauscht werden.
M.K. blieb ruhig und ass bedächtig, lange kauend seine zubereiteten
Okonomiyaki; er ist von hagerer Statur, tief liegen seine Augen im scharf
geschnittenen, kantigen Gesicht.
Nach einer Weile fragte ich ihn, ob ihm nicht wohl sei; da wurden
seine manchmal stechend dreinblickenden Augen ganz freundlich:
«Doch, doch, ich fühle mich wohl unter euch, ich bin nur satt. Weisst
du, die Menschen, die ich täglich besuche, müssen mit viel weniger
auskommen, eine dünne Suppe täglich und ein Schälchen Reis müssen
genügen.» In wenigen Worten sagte er alles Wichtige und ich blieb
schweigsam für den Rest des Abends.
Von Bäumen, Moosen, Tau
und Sternen
Dass Pflanzen Lebewesen sind, ist seit jeher evident und unbestritten.
Dass Pflanzen aber so etwas wie ein Leben haben könnten, wie es Tiere
haben oder gar wir Menschen, ruft immer noch Skepsis hervor, vor
allem, wenn von der Seele oder der Intelligenz von Pflanzen die Rede
ist. In den frühen Siebzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts publizierten Peter Tompkins und Christopher Bird im Berner Scherz Verlag
ein Buch mit dem Titel Das geheime Leben der Pflanzen; den beiden
Autoren ging es vor allem darum zu zeigen, dass Pflanzen mit Menschen
in Interaktion treten können, und sie sprachen dabei von der Seele der
Pflanzen. Verlag und Autoren betonten dabei ausdrücklich, dass ihre
Studie auf naturwissenschaftlichen Grundlagen und Methoden basiere.
Als politisch bei den JUSO engagierter junger Buchhändler brachte ich
den Theorien des Buches zwar Neugier entgegen, doch ich speicherte letztlich den Titel in meiner Gedächtnisschublade unter Esoterik
ab. Rund zwanzig Jahre später erschien im selben Verlag – in dessen
Gemischtwarenprogramm u.a. schon Walther Bringolfs Autobiographie
oder das gepfeffert-frivole Tal der Puppen von Jacqueline Susann,
Solschenizyns Archipel Gulag oder Churchills Memoiren, Robert
Jungks Die Zukunft hat schon begonnen oder Fritjof Capras
Wendezeit publiziert wurden – von David Attenborough, seltsamerweise unter demselben Titel, ein Band, der aber das Augenmerk viel
mehr auf intelligente Handlungen von Pflanzen richtete.
Dieses Jahr erschienen nun gleich drei Titel zu dem von Tompkins/Bird
oder Attenborough aufgegriffenen Themenkreis. Stefano Mancuso von
der Universität Florenz und die Wissenschaftsjournalistin Alessandra
Viola zeigen in ihrem anschaulich geschriebenen Buch, wie Pflanzen
zum Beispiel Umweltreize aufnehmen und verarbeiten, und sie zeigen
eindrücklich, wie vielfältig sich Pflanzen verhalten können, um ihr
Überleben, das auch unser Überleben bedeutet, zu sichern. Ob in jedem
Falle allerdings von Intelligenz gesprochen werden kann, auch wenn
diese ganz weit gefasst definiert wird, möge dahingestellt sein.
schauwerk
Das andere Theater
Schaffhausen
Szenische Lesung
Abgänge nach Markus Werner
In der installativen Lesung der Theatercompagnie «Erweiterte
Zugeständnisse» werden zentrale Motive aus Markus Werners
Romanen Zündels Abgang und Die kalte Schulter miteinander verwoben und die Handlungen auf bildhafte Weise
umgesetzt.
Die Figuren in Werners Werken scheitern beständig an den
Anforderungen des Lebens, misstrauen konsequent der Idee von
Sicherheit, fühlen sich unzugehörig. Sie treten ab, rebellieren,
verstummen. Als Gegenpol zu dieser haltlosen Welt verspricht die
Begegnung zwischen Mann und Frau scheinbar Geborgenheit,
bis die Angst vor dem Scheitern zur Verweigerung der Liebe führt
oder der Tod eintritt.
Markus Werner:
- Die kalte Schulter. Fr. 12.30
- Zündels Abgang. Fr. 11.20
beide: Fischer TB
HABERHAUS BÜHNE, Neustadt 51, Schaffhausen
Freitag, 8. und Samstag, 9. Januar 2016, 20.30 Uhr
Türöffnung und Barbetrieb ab 20 Uhr
Eintritt: 30.–/20.– (mit Legi)
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Phänomene aus der Natur. Selbst wer sich für nichts interessiert, was
mit der Natur zu tun hat, wird von zwei Büchern Jens Soentgens fasziniert sein. Der Autor studierte Chemie und Philosophie, arbeitete als
freischaffender Journalist und lehrte an Universitäten in Brasilien und
Deutschland; seit 2002 ist er Leiter des Wissenschaftszentrums Umwelt
an der Universität Augsburg. Vor fünf Jahren erschien der wunderbar
gestaltete Band Von den Sternen bis zum Tau, eine Reise durch die
Natur vom Makrokosmos zum Mikrokosmos. Aussergewöhnlich daran
ist, dass der Autor die Kapitel über den blauen Himmel, den Mond, den
Pirol, die Minze oder die Kohlenstoffatome, um nur eine Auswahl zu
nennen, als Lobreden formuliert und sie doch ganz aus der Perspektive des
Naturwissenschaftlers analysiert. 120 Phänomene aus der Natur nimmt
Soentgen unter die Lupe und verknüpft diese auch mit Experimenten
– Gold is, where you find it! heisst ein alter Goldgräberspruch, und hier
erfährt man nicht nur, dass der Rhein unterhalb von Basel am meisten
Gold mit sich führt, sondern, fast schon wichtiger, dass wer Gold wirklich finden möchte, zuvor nicht nur das Verhalten von Sand und Kiesel
beobachten, sondern auch die drei französischen R nicht aus den Augen
verlieren sollte: regarder, réfléchir, réaliser!
Nun ist ein weiterer Band erschienen – mit «Goldmachen!» übertitelt der
Autor sein Vorwort und er deutet mit diesem Wort schon an, dass von
Alchemie in irgendeiner Form die Rede sein wird. Jens Soentgen verfolgt
in seinem neuen Werk die Geschichte der Chemie, wobei man gleichermassen von historischen Ereignissen und von chemischen Reaktionen
viel mitbekommt. Wir erfahren zum Beispiel, was Elefantenkotpapier
zu tun hat mit der Wahrscheinlichkeit, dass die Grauhäuter vor den
Ziegen aussterben werden; oder dass Jean Paul Marat nicht nur in der
französischen Revolution, sondern auch im Wissenschaftsbetrieb (er
war ein überzeugter Vertreter der Phlogistontheorie) eine schillernde
Rolle spielte und weshalb sein Gegenspieler Antoine de Lavoisier, dessen
Forschungen zu wichtigen chemischen Prozessen (Sauerstofftheorie)
noch heute in ihren Grundlagen gelten, trotz solidem wissenschaftlichem Arbeiten vom Furor und Terror der politischen Umwälzungen
getroffen wurde.
Beide Bücher sind von Vitali Konstantinov illustriert und eignen sich
bereits für junge Erwachsene, doch wer auch schon viel Wissen und
Erfahrung im Rucksack trägt, wird seine helle Freude daran haben.
Spaziergang in den Wald. Ebenfalls 2015 erschienen und schon in
11. Auflage vorliegend ist Peter Wohllebens Buch Das geheime Leben
der Bäume. Der Förster nimmt den Leser mit auf einen Spaziergang
in den Wald und zeigt ihm zum Beispiel einen vermoosten Stein, der
sich schliesslich als uralter Baumstrunk entpuppt, und der Autor erklärt
uns dann, weshalb ein vor 400 Jahren gefällter Baum noch heute leben
kann. Ein einfach geschriebenes, wunderbares und höchst informatives
Buch für alle, die ab und zu im Wald unterwegs sind.
Nur mit Lupe und Objektiv beobachtet. Für The Forest Unseen.
A Year’s Watch in Nature erhielt David G. Haskell 2013 den Best
Book Award der National Academies. Für seine Beobachtungen wählte
der Biologieprofessor ein kleines, kaum quadratmessergrosses urwüchsiges Stück Wald im Südosten von Tennessee – ein Stück Wald so gross
wie ein tibetisches Mandala. Während eines Jahres besuchte Haskell
mehrere Male wöchentlich sein Versuchsfeld, betrat es dabei nie,
beobachtete es nur mit Lupe und Objektiv, mit Stift und Notizblock,
mit Geduld und Zeit.
Lesen Sie zum Beispiel das Kapitel «Moos» – und Sie werden sogleich
über diese seltsamen Pflanzen noch mehr erfahren wollen. Haskells
Beobachtungen beschränken sich nicht nur auf die Pflanzen, er bezieht
genauso die Tierwelt mit ein, und wir Leser nehmen jedes Kapitel auf
wie eine kleine Lektion Biologieunterricht.
Moose: Rund 16'000 bekannte Arten. Ariel Bergaminis Moose im
Kanton Schaffhausen gewährt Ihnen einen spannenden Einblick
in Lebewesen, die das Zeitalter der Dinosaurier offenbar problemlos
überdauert haben.
Alle vier letztgenannten
Bücher lehren uns, durch
genaues Beobachten
wieder zu staunen.
Mancuso, St./Viola, A.:
Die Intelligenz der Pflanzen.
Kunstmann Verlag, Fr. 25.30
Wohlleben, P.:
Das geheime Leben der Bäume.
Ludwig Verlag, Fr. 25.20
Jens Soentgen: Von den
Sternen bis zum Tau. Eine
Entdeckungsreise durch die
Natur.
Kunstmann Verlag, Fr. 32.70
Haskell, D.: Das verborgene Leben des Waldes.
Kunstmann Verlag, Fr. 29.10
Bergamini, A.: Moose im Kanton Schaffhausen.
Neujahrsblatt der Naturforschenden
Gesellschaft Schaffhausen Nr. 67/2015, Fr. 24.–
Jens Soentgen: Wie man mit
dem Feuer philosophiert.
Chemie und Alchemie für
Furchtlose.
Kunstmann Verlag, Fr. 36.80
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Guillaume le Maréchal. Ritter, Ritterturniere und Ritterburgen spielen nicht nur in der Phantasie von Buben eine Rolle, wie im Sommer
2014 die spektakulären Ritterspiele auf dem Herrenacker bewiesen
haben. Doch was wissen wir überhaupt über die Kultur des Rittertums?
Über welche Tugenden und Qualitäten der ideale Ritter verfügen
sollte, davon berichteten schon im Mittelalter die grossen Dichtungen
von Wolfram von Eschenbach (Parzival) oder der Prosa-Lancelot.
Doch es lebte von ca. 1144 – 1219 auch ein Ritter, der offensichtlich
dem Idealtypus sehr nahe kam: Guillaume le Maréchal. 1984 widmete ihm der grosse französische Mediävist Georges Duby eine kleine
Monografie.
Mehr als dreissig Jahre später schiebt jetzt der englische Historiker
Thomas Asbridge, der vor ein paar Jahren eine viel beachtete Geschichte
der Kreuzzüge vorgelegt hat, eine neue Biographie des untadeligen
Ritters nach. Der Vater Guillaumes, Jean, war ein Nordmann, dessen
Vorfahren im Tross einer Invasionsarmee – mit Wilhelm, Herzog der
Normandie, an der Spitze – den Ärmelkanal überquerten und bei
Hastings die Angelsachsen 1066 entscheidend geschlagen hatten. Als
Kleinkind kam er als Geisel gegen das Ehrenwort seines Vaters an den
englischen Hof, wo König Stephan 1152 beschloss, den Jungen hinrichten zu lassen …
Es kam anders. Guillaume le Maréchal war später mit Richard
Löwenherz oder König Johann Ohneland befreundet; im Weiteren
arbeitete er auch an der 1215 besiegelten Magna Charta mit; diese erste
Verfassung Europas, die Freiheits- und andere Rechte und Pflichten
(zumindest für den Adel bindend) festhielt, bedeutete auch einen ersten Schritt aus dem Dunkel des frühen Mittelalters in die Neuzeit.
Gleichzeitig kündigt sich der Niedergang einer Epoche an, die Duby
unvergleichlich formuliert: «Er konnte friedlich dem Tod entgegengehen, stolz darauf, das Werkzeug des letzten, höchst flüchtigen, anachronistischen Triumphs der Ehre über das Geld, der Treue über den Staat
gewesen zu sein und das Rittertum zu seiner Vollendung gebracht zu
haben.»
Meister des Codex Manesse
(Grundstockmaler):
Herr Heinrich von Rugge
1305–1315
Quelle: UB Heidelberg
Geschichte
Nach wie vor modern. Die Menschen forschen und suchen seit alters
her in der Hoffnung, dass ihre Erkenntnisse zu Fortschritten führen, die
das Leben weniger mühselig machen. Das gelang und gelingt in vielen
Bereichen, obwohl die Rückseite der Fortschrittsmedaille nicht immer
genau untersucht wird. Eine Ausnahme bildet die Disziplin der Geschichte:
Legion ist die Zahl der Historiker, die stets von Neuem, beharrlich und
zäh, Ereignisse der Vergangenheit zu ergründen versucht, wohl wissend
um ihre Sisyphusarbeit, denn es scheint sich zu bewahrheiten, was Hegel
in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte formuliert hat: «Was die Erfahrung aber und die Geschichte lehren, ist dieses,
dass Völker und Regierungen niemals etwas aus der Geschichte
gelernt und nach Lehren, die aus derselben zu ziehen gewesen wären,
gehandelt haben.»
Hegel hielt diese Vorlesungen insgesamt fünf Mal, wobei die meisten
Editionen auf jene vom Wintersemester 1830/31 zurückgehen. Es ist
wahrscheinlich sein am einfachsten zu lesendes Werk und ist auch heute
insofern noch spannend, weil es einen Einblick in das Wissen über die
Geschichte und die Welt des frühen 19. Jahrhunderts gibt. Und Hegel
deutet schon Zusammenhänge an, die nach wie vor modern sind. Eine
empfehlenswerte Lektüre für alle, die genügend Musse haben.
Duby wie auch Asbridge bedienen sich derselben Quelle – einer Handschrift, die 1226, nur wenige Jahre nach dem Tod Guillaumes, entstanden ist. Diese wurde 1861 vom jungen französischen Gelehrten Paul
Meyer bei einer Auktion von Sotheby’s entdeckt. Beide Autoren beherrschen den Stoff souverän; Duby erzählt jedoch ganz klar aus der Distanz
des Wissenschaftlers, die ihm auch Raum lässt für Interpretationen;
Asbridges Stärke liegt hingegen im Erzählerischen und man fühlt sich
beim Lesen in die Zeit hineinversetzt.
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Georg Wilhelm Friedrich
Hegel: Vorlesungen zur
Philosophie der Geschichte.
Werke bd. 12.
stw Fr. 26.90
Georges Duby:
Guillaume le Maréchal oder
Der beste aller Ritter.
Suhrkamp st Fr. 14.–
Thomas Asbridge:
Der grösste aller Ritter und
die Welt des Mittelalters.
Klett-Cotta, Fr. 37.90
Reiseberichte
Schrecklich amüsant – aber in Zukunft
ohne mich. Harper’s Magazine bot dem damals
33-jährigen David Foster Wallace an, eine siebentägige Karibik-Kreuzfahrt zu unternehmen
und darüber für das Magazin eine Reportage
zu schreiben, die dann ein Jahr später unter
dem Titel «Shipping out» auch tatsächlich
erschienen ist.
Der junge talentierte Autor staunte zwar nicht
schlecht über das Angebot, das den Auftraggeber schon 3000 US $ kostete, bevor auch
nur eine einzige Zeile geschrieben war, doch er
nahm an.
In einer überarbeiteten Fassung erschien dann
1997 die Essayreportage A Supposedly Fun
Thing I’ ll Never Do Again. Der schlicht geniale
Text vereint zwei Dinge: Im Stil einer Collage
beschreibt der Autor einerseits detailversessen,
was er beobachtet, und ergänzt oder erläutert
in ebenso langen wie amüsanten Fussnoten,
wenn nötig seriös und bestens recherchiert,
eine vertiefte Variante.
Foster Wallace gelang damit ein hochkomischer Erlebnisbericht auf einem Luxusliner,
der gleichzeitig eine schonungslose Bestandsaufnahme des «American Way of Life» ist.
Das 2002 im Mare Verlag erstmals auf Deutsch
erschienene Buch liegt jetzt in einer neuen
Taschenbuchausgabe vor und sei Ihnen wärmstens empfohlen, wenn Sie es noch nicht kennen.
Mit liebevoller Ironie. Der Schutzumschlag ist
grauenhaft, der Titel leicht esoterisch. Charlotte
Peter, geboren 1924 in Zürich, ist auch mit 91
Jahren noch eine aktive Gesellschaftsdame –
sie doktorierte in Zürich in Geschichte, war
lange Zeit Chefredaktorin der Modezeitschrift
«Elle», sie arbeitete für die Swissair und ist
im zweiten Leben immer noch Reisende und
Reiseschriftstellerin.
Obwohl mir Usbekistan nicht unbekannt ist
und ich weiss, dass nicht wenige Usbeken
den Schrein des alten Sufimeisters Naqshband
(14. Jh.) verehren, war mir bis anhin Scheich
Sufi Tabib kein Begriff – aber ich verkehre
ja auch weder in Sufikreisen noch in anderen
Geheimbünden.
Charlotte Peter also machte sich vor zwei Jahren
mit einer Bekannten, die aktives Mitglied des
Ordens von Sufi Tabib ist und in Zürich eine
Zweigstelle betreibt, auf, um den Meister in der
Nähe von Taschkent zu besuchen. Entstanden
ist daraus ein mit leichter Hand geschriebenes Porträt über die Praktiken und Ideen des
Gurus; by the way erfährt man aber auch einiges über das zentralasiatische Land – kurz: ein
mit liebevoller Ironie süffig geschriebener und
auch informativer Reisebericht über eine wenig
bekannte Weltgegend.
1000 Tage zu Fuss unterwegs. Vielleicht
mögen Sie sich erinnern an das mehrseitige
Porträt im Magazin des Tages-Anzeigers, wo
über die unglaublich anmutende Reise der
Jurassierin Sarah Marquis berichtet wurde. Die
Schweizerin war 1000 Tage zu Fuss unterwegs
– von Sibirien nach Südaustralien – und legte
dabei rund 20'000 Kilometer zurück. Ohne
Zweifel, Sarah Marquis' Leistung ist impeccable
in sportlicher Hinsicht, und es scheint auch,
dass der Fussmarsch für sie eine ganz spezielle
Bedeutung hatte. Abgesehen jedoch davon,
dass der eigene Körper aus freiem Willen bis
an die Grenzen geschunden wurde, was auch
nach vollbrachter Leistung Genugtuung sein
mag, war das Unternehmen jedoch in erster
Linie Selbstzweck. Darin unterscheidet sie
sich nicht von andern Extremsportlern. Zwar
müsste nicht über jedes dieser Abenteuer auch
ein Buch geschrieben werden, doch wen solche
Leistungen begeistern, nimmt Allein durch
die Wildnis mit Gewinn zur Hand.
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Mit grosser Beobachtungsgabe. Wer Natur
erleben möchte, muss nicht zwingend in die
Mongolei oder nach Patagonien reisen. Der
Schotte Robert Macfarlane findet ausserordentliche Orte auch auf den Britischen Inseln
und beschreibt einige davon in seiner Karte
der Wildnis.
Ohne Zweifel, man findet Orte wenig berührter Natur auch in der Schweiz und anderswo.
Doch ganz selten findet man Bücher, die
mit derart grosser Beobachtungsgabe von der
Natur erzählen und gleichzeitig Beziehungen
knüpfen zu Werken der bildenden Kunst oder
der Literatur. Auf dem Vorsatzblatt des zudem
ausserordentlich schön gestalteten Buches wird
eine Karte mit den Namen der Wildnisorte
wiedergegeben, eine Karte, die jedoch mit keiner Landkarte übereinstimmt: Wildnis, könnte
man damit interpretieren, findet eben stets
auch in der Imagination statt. Macfarlanes
Buch ist zudem ein literarisches Juwel, vergleichbar mit den Werken von Anita Albus.
9
Michael Punke ist Anwalt und Schreibtischtäter, weil er neben seiner eigentlichen Arbeit
auch noch Bücher schreibt: Der Totgeglaubte
heisst sein neustes.
Er erzählt darin die kaum fassbare Geschichte
des Pelztierjägers Hugh Glass, der 1823 bei
der Rocky Mountain Fur Company anheuerte.
Ende August desselben Jahres, als er mit zwei
weiteren Trappern in den Rockies unterwegs
war, wurde er auf einem Kundschaftsgang von
einem Grizzly angefallen und lebensgefährlich verletzt. Die beiden andern pflegten ihn
zuerst, liessen ihn dann jedoch im Stich, als
sie glaubten, dass er sich nicht mehr erholen
würde. Dabei nahmen sie ihm noch Messer
und Gewehr ab. Doch Hugh Glass kam wieder
auf die Beine und schwor Rache …
Punke schrieb ein packendes Abenteuerbuch
über die Zeit des frühen Wilden Westens, das
alle Klischees über jene Zeit erfüllt und dennoch eben auf einer tatsächlichen Begebenheit
beruht.
Giorgos Seferis erhielt 1963 als erster Grieche den
Literaturnobelpreis – sein Werk umfasst in erster Linie
Lyrik und Essays und Tagebücher, sein Roman Nacht
über der Akropolis ist vergriffen wie viele andere
Ausgaben auch.
Es ist dem kleinen Waldgut-Verlag zu verdanken, dass
seit diesem Herbst erstmals in deutscher Sprache sein
Reiseessay Drei Tage bei den Höhlenklöstern von
Kappadokien greifbar ist.
Wer in der Türkei nicht nur Ferien am Strand macht,
besucht oft auch die phantastische Erosionslandschaft um
Göreme. Die Touristen steigen in Heissluftballons hoch,
um die bizarren Landschaftsformen besser aus luftiger
Höhe betrachten zu können. Ein derartiges Spektakel wäre
Seferis fremd gewesen, hätte es dies in den 50er-Jahren
schon gegeben, als er mit einer kleinen Forschergruppe
die Gegend besucht hatte. Sein kunsthistorisch gelehrter
Bericht ist ein perfektes Beispiel dafür, dass ein Reisebericht
eben nicht das persönliche Abenteuer hervorheben muss,
sondern für zukünftige Reisende ein Reiseführer sein
kann.
Der Band enthält neben Fotos des Autors auch einen umfangreichen Anhang zu den besuchten Klöstern und der
Malerei sowie ein Nachwort von Evtichios Vamvas, der
den Text zusammen mit Clemens Müller übersetzt hat.
Zhuangzi – Das Schwere
ist der Ursprung des Leichten
Vertiefte Hintergrundreportagen. Nicht zu vergessen
sind die Reisenden, die beruflich unterwegs sind:
Korrespondenten für Zeitungen, Radio oder Fernsehen. Ihr Fokus liegt in der Tagesaktualität, doch es gibt
auch Journalisten, die vertiefte Hintergrundreportagen
erarbeiten.
Der 1950 geborene Basler Alexander Gschwind gehört mit
Diesseits und jenseits von Gibraltar zu ihnen; ab 1978
war er Auslandredaktor bei Schweizer Radio DRS und
regelmässig in den Sendungen Echo der Zeit zu hören, er
berichtete als Korrespondent vor allem über Nordafrika,
Spanien und Portugal.
Im Kapitel «Gernika» – die baskische Stadt wurde 1937
von der deutschen Flugwaffe zu Schutt und Asche bombardiert, worauf Pablo Picasso dann sein weltberühmtes
Antikriegsbild Guernica schuf – erhellt Gschwind die
Geschichte der Unabhängigkeitsbewegung des Baskenlandes und von deren militärischem Arm, der ETA. Und
der heutige Zeitgenosse erschrickt ganz leicht, wenn er sich
wieder inne wird, dass in den 70er-Jahren noch Bomben
in Spanien explodierten und Generalisimo Franco, wenige
Monate vor seinem Tod, noch 1975 fünf Mitglieder der
ETA erschiessen liess. Ein informatives Buch nicht nur für
Reisende auf die iberische Halbinsel.
Wallace, David Foster: Schrecklich amüsant – aber in Zukunft
ohne mich. Kiepenheuer-Taschenbuch KiWi, Fr. 10.90 (auch noch
in Leinen gebunden bei Mare erhältlich für Fr. 26.90)
Charlotte Peter: Ich bin Sufi Tabib. Zwei Frauen auf einer Reise
zum Guru. Offizin Verlag, Fr. 29.–
Sarah Marquis: Allein durch die Wildnis. Malik Verlag, Fr. 19.80
Michael Punke: Der Totgeglaubte. Eine wahre Geschichte
Malik Verlag, Fr. 25.40
Robert Macfarlane: Karte der Wildnis – Naturkunden No. 18.
Mathes & Seitz, Fr. 41.50
Giorgos Seferis: Drei Tage bei den Höhlenklöstern von
Kappadokien. Ein Reiseessay. Waldgut Verlag, Fr. 24.–
Giorgios Seferis: Logbuch III … Zypern, wohin das Orakel mich
wies … (Gedichte). Waldgut Verlag, Fr. 25.–
Dschuang Dsi: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland (übersetzt von Richard Wilhelm). Marix Verlag, Fr. 14.–
Alexander Gschwind: Diesseits und jenseits von Gibraltar. Als
Korrespondent unterwegs in Spanien, Portugal und Nordafrika.
Blaukreuz-Verlag, Fr. 33.80
Zhuangszi. Auswahl, Einleitung u. Anmerkungen von G.
Wohlfahrt. Reclam, Fr. 6.50
Thomas Merton: Sinfonie für einen Seevogel und andere Texte des
Tschuang-tse. Zhuangzi ausgewählt und frei übersetzt aus der Sicht
eines amerikanischen Mönchs und Mystikers.
Patmos Verlag, Fr. 24.50
Billeter, Jean François: Das Wirken in den Dingen. Vier
Vorlesungen über das Zhuangzi. Verlag Matthes & Seitz, Fr. 20.80
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Das wahre Buch vom südlichen Blütenland des
Dschuang Dsi entstand im 4. Jahrhundert v. Chr., kurz
nach dem Tao te king des Laotse, und gilt als einer der
drei grundlegenden Texte des Taoismus. (Ich verwende
durchgehend die heute veraltete, von Richard Wilhelm
eingeführte deutsche Schreibweise.) Heute wird allgemein
vom Zhuangzi gesprochen und man bezeichnet damit
sowohl das Werk wie auch den Autor, bzw. die Autorschaft.
Hermann Hesse nannte es einst «eines der herrlichsten
Bücher Chinas». Es ist noch heute ein Text, der durch
seine literarische Qualität besticht, und die kreativen und
paradoxen Weisheiten bringen einen stets von Neuem zum
Nachdenken – die gleichnishaften Geschichten zählen zu
den wichtigsten Quellen des taoistischen Verständnisses
zwischen Mensch und Kosmos.
Jean François Billeter, 1939 in Basel geboren, war ab
Mitte der 80er-Jahre bis zu seiner Emeritierung 1999
ordentlicher Professor für Sinologie. Seine ursprünglich
in Französisch gehaltenen vier Vorlesungen über das
Zhuangzi eröffnen einen Zugang zum Werk des alten chinesischen Klassikers, indem er konsequent die Kernaussage
des Buches aufnimmt: «Dem zu folgen, was ist» oder das
Leben zu akzeptieren, wie es ist. Man mag dann darüber
nachsinnen, was denn überhaupt ist oder ob das, was ist,
das Richtige ist. Das bei aller Komplexität erfrischend verständlich geschriebene Büchlein verleitet zudem den, der
sich verführen lässt, auf neues, doch verwandtes Terrain
bei Ludwig Wittgenstein etwa.
Bildbände
Opulente Bildbände sind nicht mehr so en vogue wie noch vor einigen
Jahren. Die Technologie der Digitalkameras ist heute so hochentwickelt
und preisgünstig, dass alle ihren eigenen Bildband produzieren können.
Vielleicht ist der Text dann nicht ganz so geschliffen, dafür sind die
Bilder nicht nur in guter Qualität, sondern stehen auch in direktem
Bezug zur Person, die sie aufgenommen hat. Und doch gibt es Bildbände,
die nicht ersetzt werden können!
Strahlkraft über Jahrzehnte. Auch Kunstbücher zählen zu den
Bildbänden, die man selber kaum herstellen kann. Noch bis zum 10.
Januar 2016 zeigt die Fondation Beyeler einmal mehr eine einzigartige
Ausstellung: Auf der Suche nach 0,10. Die letzte futuristische
Ausstellung der Malerei.
Es gibt in der Kunstgeschichte nur wenige Gruppenausstellungen, deren
Strahlkraft über Jahrzehnte andauert. «Der Blaue Reiter» ist da zu erwähnen und diejenige der Suprematisten und russischen Konstruktivisten,
die vom 19. Dezember 1915 bis zum 19. Januar 1916 in Petrograd gezeigt
wurde. Nach hundert Jahren wird diese nun im Sinne einer kritischen
Rekonstruktion jenes wirkungsmächtigen Ereignisses in der Fondation
Beyeler nochmals aufgenommen.
Beim Durchblättern des hervorragenden Kataloges entdeckte ich übrigens,
dass, wie so oft, auch hier Bilder als Illustrationen von Buchumschlägen
verwendet werden. Konkret: Den bei Dörlemann diesen Herbst erschienenen, in den 20er-Jahren entstandenen Roman Der Buchstabenmörder
von Sigismund Krzyzanowski ziert die «Suprematistische Komposition
(mit acht roten Rechtecken)» von Kasimir Malewitsch, wobei der
Grafiker das Bild jedoch um 180 Grad gedreht hat … Auch wenn ich die
Ausstellung selber noch nicht gesehen habe, weiss ich, dass der Katalog in
meine Bibliothek gehört.
Am Ende der bewohnbaren Welt. Wer schon Patagonien und Feuerland
besucht hat, dem werden die kargen, weiten und wilden Landschaften
nicht mehr aus dem Kopf gehen: die kalten, steppenartigen Flächen in
Argentinien nicht, und nicht die schroffen, zum Teil vergletscherten
Bergspitzen und Schründe der Anden, nicht das oft stürmische südliche
Meer und nicht die Kanäle und Fjords, und auch nicht die zum Teil noch
dichten Wälder auf Feuerland, wo die Biber ihre Burgen bauen. Und
wer dann einmal die ruhigen Gestade der «Bahía Inutíl», der nutzlosen
Bucht, entlang gefahren ist, Richtung Camerón zum Lago Blanco, der
weiss, das Ende der bewohnbaren Welt ist nicht mehr weit. Und auf diesem entlegenen Flecken Erde wohnten bis in die 20er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts die letzten Indígenas des südlichen Halbkontinents:
die Selk’nam, Yámana und Kawesqar. Heute werden an Souvenirshops
bedruckte T-Shirts mit Motiven und Emblemen der ausgerotteten
Stämme verkauft.
Martin Gusinde kam 1912 nach Santiago de Chile, wo er am Liceo
Alemán als Lehrer für Naturwissenschaften arbeitete. 1918 unternahm
er seine erste Reise nach Feuerland, der bis 1923/24 noch drei weitere
folgen sollten. Auf diesen Reisen entstanden rund 1200 Fotos, von denen
der vorliegende Band eine eindrückliche Auswahl zeigt. Beiträge zum
heutigen Forschungsstand, zu den Mythen und Initiationsriten sowie zur
Besiedelung und Entstehung Feuerlands von Christine Barthe, Marisol
Palma Behnke, Anne Chapman und Dominique Legoupil vervollkommnen den exquisiten Band. 1946 übrigens erschien im Zsolnay Verlag
Gusindes eigener Reisebericht.
Geheimnisvolle Augen. Seit einigen Jahren blicke ich an meinem
Schreibtisch in ein geheimnisvolles Augenpaar – wer das dazugehörige
Bild auch nur einmal gesehen hat, weiss, in welches: Es sind die bernstein-braun-farbenen Augen des Mädchens mit dem Perlenohrring von
Johannes Vermeer.
Als ich 1995 in Den Haag die letzte grosse Ausstellung des Meisters aus
Delft (1632 – 1675) besuchte, waren 22 seiner 35 zweifelsfrei ihm zugeschriebenen Werke zu bestaunen. Der nun vorliegende grossformatige
Band Vermeer. Das vollständige Werk zeigt nun alle plus zusätzlich
zwei, die mit einiger Vorsicht ebenfalls als eigenhändig gemalte Werke
Vermeers gelten können.
Der Band besticht nicht nur durch seinen fachkundigen Text, sondern
auch durch die Abbildungen, von denen einige vergrösserte Details zeigen, die das ausserordentliche Talent und die Könnerschaft eindrücklich
belegen. Er ist die beste Art, Vermeer zu sehen, falls man seinen Bildern
nicht direkt gegenüber stehen kann.
Der Lebensraum des Menschen oszilliert zwischen Natur und Geist.
Der Natur und ihren Gewalten ist er ausgeliefert und von den Früchten
der Natur lebt er – den Geist benötigt er, um erstere zu zähmen und
letztere zu kultivieren. Dieses Wechselspiel widerspiegelt sich in den allermeisten Religionen. Toby Musgrave ist eine der führenden Autoritäten zu
den Themen Garten- und Gartengeschichte.
In seinem neusten Werk Paradiesgärten untersucht der Botaniker und
Gartenhistoriker, wie Spiritualität, Religion und Mystik die Gartenkultur
prägen. Seine gewählten Beispiele reichen zurück in die Antike, behandeln u.a. Hatschepsuts Totentempel oder ein Fresco im Speisezimmer der
Livia in Rom; er fragt sich, was es mit dem Garten Eden auf sich hat,
und geht dem Geheimnis der japanischen Zengärten nach. Und selbst
wenn Menschengruppen wie die Indianer Nordamerikas zum Beispiel
keine Gartenkultur kannten, so wussten sie doch um die besonders schön
gelegenen Naturparadiese und hielten diese heilig.
Das vielfältige, kenntnisreiche und schön bebilderte Buch ist weit mehr
als ein exquisites Stück für den coffeetable.
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Begegnungen auf Feuerland. Selk’nam, Yámana, Kawesqar. Fotografien von
Martin Gusinde. Hatje/Cantz, Fr. 82.20
Martin Gusinde: Urmenschen im Feuerland. Vom Forscher zum Stammesmitglied.
Zsolnay Verlag, 1946, vergriffen
Toby Musgrave: Paradiesgärten. Gartenkultur geprägt von Spiritualität, Religion
und Mystik. DVA, Fr. 62.90
Auf der Suche nach 0,10 (Null-Zehn) – Die letzte futuristische Ausstellung der
Malerei. Hatje/Cantz, Fr. 79.30
Karl Schütz: Vermeer. Das vollständige Werk. Taschen Verlag, Fr. 125.–
12
13
13
Philosophie – denken und leben
Prächtig! «The Universe is made of stories, not of atoms». Das Motto,
das Richard Precht seinem neusten Werk voranstellt, ist Programm. Er
gilt in der Zunft der Philosophen als Leichtgewicht; wohl deshalb, weil
er fähig ist, auch kompliziertere Sachverhalte verständlich darzustellen.
Sein 2007 erschienenes, äusserst erfolgreiches Buch Wer bin ich – und
wenn ja wie viele? Eine philosophische Reise war für Unzählige eine
Offenbarung zu den Fragen, die Philosophen umtreiben und für wenige
Fachleute ein Ärgernis, eine Schaumschlägerei.
Nun legt Precht eine Geschichte der Philosophie vor, und wahrscheinlich fragen sich wieder einige, ob es denn davon nicht schon genug gäbe.
Allein, Erkenne die Welt, so der Titel des ersten Bandes, ist prächtig!
Der Autor versteht es ausgezeichnet, neben der Geschichte der Ideen
auch das historische, soziale, wirtschaftliche und kulturelle Umfeld,
in dem die entsprechenden Philosophen gelebt, gedacht und gehandelt
haben, darzustellen; so wird dem heutigen Leser auch verständlich,
woher und warum so oder so über diese und jene Probleme nachgedacht wurde. Zugegeben, es tönt im O-Ton etwas salopp, wenn Precht
zum Beispiel über die Sophisten, die nach hundertfünfzig Jahren philosophischen Nachdenkens plötzlich konkreter werden, schreibt: «Sie
lehren nicht in religiösen oder parareligiösen Zirkeln, sondern unterrichten ganz pragmatisch rhetorisches und anderes Handwerkszeug.
Philosophie (…) wird nun zur Nüchternheit der Juristen. Leuchtende
Sätze werden wichtiger als erleuchtete Einsicht!» Ich bin jetzt schon
gespannt auf die kommenden zwei Bände.
«Der Theoretiker hält sich dem Leben fern: Ihn interessieren nur
abstrakte Begriffe und Argumente.» Es ist die hohe Kunst eines
Klappentextes, den nur einen flüchtigen Blick werfenden Leser in Bann
zu ziehen: Dass dieser erste Satz eine Behauptung ist, der nicht widersprochen werden kann, vermutet man im gleichen Augenblick.
Die drei Autoren Dieter Thomä, Vincent Kaufmann und Ulrich Schmid
scheuen sich in der Folge nicht, sich aufs Glatteis zu begeben, wenn sie
versuchen, die Theoriengebäude von berühmten Ideenkonstrukteuren
aus ihrer Autobiografie herzuleiten. Der Einfall des Lebens – der
Titel des Buches ist treffend gewählt, macht er doch deutlich, dass die
Lebenserfahrungen nicht ganz aus der Theorie gebannt werden kann.
Das Buch eignet sich als Einführung für Fortgeschrittene in Leben
und Werk der geschilderten Personen. Man mag vielleicht bemängeln,
dass der Fokus der Biografierten etwas zu schwerlastig auf Frankreich
liegt und abgesehen von Susan Sontag nur Vertreter aus Europa und
Russland berücksichtigt wurden.
Gedankensteinbruch. «Ein Gedicht ist wie ein Igel / Es braucht
Stacheln». Der in Schaffhausen aufgewachsene Markus Waldvogel lebt
schon lange im Berner Seeland, wo er in Biel Deutsch und Philosophie
unterrichtete. Unter dem Titel Zingara Triste erschien dieser Tage sein
neustes Buch; das schmale Bändchen kann als fotografische Impression
einer Reise nach Triest und Duino betrachtet und zusammen mit den
Aphorismen und Gedichten als Gedankensteinbruch gelesen werden.
Richard David Precht: Erkenne
die Welt. Eine Geschichte der
Philosophie Bd. 1: Antike und
Mittelalter.
Goldmann Verlag, Fr. 29.10
Kluger und streitbarer Kopf. Mark Lilla, geboren 1956, lehrt als
Professor für Geisteswissenschaften an der New Yorker Columbia
University und in jüngster Zeit kann man auch ab und an Kommentare
von ihm in der NZZ lesen. Mark Lilla ist ein kluger Kopf und auch
ein streitbarer. 2001 schon erschien sein Buch The Reckless Mind,
in welchem er die Theorien einiger europäischer (politisch-philosophischer) Meisterdenker von Hannah Arendt über Carl Schmitt bis Michel
Foucault einer Nagelprobe unterzieht, indem er sie der gelebten Realität
gegenüberstellt. Es fällt dann auf, dass Theorie und Praxis keineswegs
deckungsgleich sind – was niemanden erstaunen wird. Lilla stellt aber
auch fest, dass wir unsere ideologischen Kämpfe hinter uns gelassen
haben und damit auch die Fähigkeit zu verstehen, was neue Ideologien,
zum Beispiel den Islamismus, wirklich antreibt. Lilla schrieb ein
unglaublich anregendes, griffig und prägnant formuliertes Buch für
politisch interessierte Leser, ein Buch, das man hin und wieder zum
Teufel wünscht und es dann doch wieder aufnimmt, um die eigene
Kritikkraft zu schärfen.
Mark Lilla: Der hemmungslose
Geist. Die Tyrannophilie der
Intellektuellen.
Kösel Verlag, Fr. 25.60
Dieter Thomä / Vincent
Kaufmann / Ulrich Schmid:
Der Einfall des Lebens. Theorie
als geheime Autobiographie.
Edition Akzente Hanser,
Fr. 31.80
Markus Waldvogel: Zingara
Triste. Texte und Bilder.
verlag die brotsuppe, Fr. 25.–
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Politik und Gesellschaft
Geld und Macht in der Schweiz. Seit die
NZZ vor wenigen Monaten unter dem neuen
Chefredaktor Eric Guyer auf der politischen
Skala deutlich nach rechts gerückt ist und
sich täglich nicht nur Kommentare, sondern
bedenklicherweise auch Berichterstattungen
lesen wie einst Elaborate der rechtsbürgerlichen Meinungspresse in der Zeit des Kalten
Krieges, erstaunt es nicht, dass das neue Buch
von Ueli Mäder – Professor der Soziologie
an der Universität Basel – ganz bös unter die
Räder kam. In der Ausgabe vom 25. November
rezensiert ein Hansueli Schöchli das Buch im
Wirtschaftsteil und gleich eingangs fällt sein
Verdikt: «Das Buch ist in erster Linie ein politisches Traktat, das die gängigen Parolen von
Linksparteien und Gewerkschaften spiegelt.»
Worum handelt es sich jedoch in macht.ch
wirklich? Im ersten, umfangreichsten Teil des
Buches untersucht Mäder mit seinem Soziologenteam die Rolle, die Finanzinstitute,
Denkfabriken, Unternehmen, staatliche Verwaltungen etc. in der heutigen Gesellschaft
haben. Erhofft wird eine Antwort, ob die
Macht der 300 Reichsten in der Schweiz, die
1989 über 89 Milliarden Franken verfügten
und heute über 589 Milliarden, entsprechend
grösser geworden sei. In Gesprächen mit
Mächtigen und Reichen sollen über «das Biografische dominante Strukturen, Werte und
Einstellungen erhellt werden».
Dem Leser erlaubt dies zwar einen authentischen Einblick auf Einstellungen und
Haltungen der Interviewten, doch darüber,
wie gross nun ihr wirklicher Einfluss auf
die politische Macht ist, kann nur spekuliert
werden. Im Kapitel «Bankenstaat» untersucht
dann Peter Streckeisen die Verflechtungen von
FINMA und Nationalbank und leuchtet diese
juristische Grauzone der «vierten Gewalt» des
Staates aus – ein erhellendes Kapitel, das allein
schon die Lektüre des Buches lohnt.
Seit 2013 verhandeln die EU und die USA
intensiv und zumeist hinter verschlossenen
Türen über ein Freihandelsabkommen, das
kaum abschätzbare Folgen haben wird und von
dem sich die grossen internationalen Unternehmungen viele Vorteile versprechen. In der
NZZ vom 10. Januar 2015 schreibt Yvonne
Helble ein Loblied auf diese Handels- und
Investitionspartnerschaft; es sei «eine einmalige Chance» und weiter: «Der Ausgang des
Vorhabens wird die Zukunft des Welthandels
bestimmen.» Derweil in Deutschland sich
heftiger Widerstand gegen das Abkommen
regt, bleiben die kritischen Stimmen in der
Schweiz vergleichsweise leise – SVP-National(und jetzt Bundes-)rat Guy Parmelin oder
SP-Nationalrätin Jacqueline Badran reichten
vor einem Jahr Interpellationen ein, die vom
Bundesrat beantwortet, aber im Rat noch nicht
behandelt wurden.
Thilo Bode, seit Jahren politischer Anwalt
der Verbraucher und der Umwelt, stellt in
seinem klar und verständlich geschriebenen Buch TTIP (Transatlantic Trade and
Investment Partnership) die Pro-Argumente
von Regierungen und Unternehmungen vor
und legt anschliessend analytisch messerscharf
dar, wie und warum die Konsequenzen aus
einem TTIP-Abschluss Konsumentenrechte
sowie soziale und Umweltstandards gefährden
würden. Zu grossem Bedenken Anlass gibt zum
Beispiel das vorgesehene Schlichtungsverfahren
im Streitfall, das jedoch ausserhalb staatlicher
Gerichtsbarkeit wirksam würde. Der Autor
zeigt im Weiteren verständlich auf, wie das
Abkommen die Position der multinationalen
Unternehmungen stärkt und die Rechte der
Konsumentinnen und Konsumenten schwächt
– Thilo Bode schrieb ein informatives wichtiges Buch, das auch die Schweiz betrifft!
macht ch
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Zum Thema Grenze erschien im Sommer
ein ganz schmales, anregendes Bändchen des
französischen Anthropologen Marc Augé. Der
Autor denkt in seinem kleinen Aufsatz darüber
nach, was Grenzen denn für das Individuum
bedeuten, und kommt zum Schluss, dass
kein einziges Individuum sich über eine
Zugehörigkeit definiert. Jedes (menschliche)
Individuum steht in Verbindung zu anderen,
was allerdings bedeute, dass dazwischen jedoch
eine Grenze besteht. Für die menschlichen
Gesellschaften könne dies nicht bedeuten, dass
Kulturen eingeebnet würden, es hiesse aber
auch keineswegs, dass sich Traditionen abschotten; das Ideal liege eigentlich viel mehr dort,
wo im friedlichen Sinne Überschreitungen von
Grenzen Neues und Anderes erfahren lasse.
Ueli Mäder: macht.ch.
Geld und Macht in der
Schweiz.
Rotpunktverlag,
Fr. 39.90
Thilo Bode: TTIP.
Die Freihandelslüge.
Warum TTIP nur den
Konzernen nützt – und
uns allen schadet.
DVA, Fr. 18.90
Ein gewaltiges Buch! Martín Caparrós gilt
als einer der sprachmächtigsten und bedeutendsten Intellektuellen der spanischsprechenden Welt. In deutscher Sprache erschienen
schon die Romane Valfierno, worin es um
Kunstfälscher und Kunsthandel geht, und Wir
haben uns geirrt, ein unter die Haut gehender Roman über die Zeit der Militärdiktatur
in Argentinien.
In seinem neusten Buch, Der Hunger,
untersucht Caparrós eine der bedrohlichsten
Konsequenzen von Armut – täglich sterben
auf dieser Welt 25'000 Menschen direkt oder
indirekt an Hunger!
Das knapp 850 Seiten starke Werk besticht
durch erzählerische und sprachliche Qualitäten
genauso wie durch inhaltliche Stringenz – es
liest sich so packend wie ein Essay von Hans
Magnus Enzensberger und ist in seinen Aussagen so engagiert und hellsichtig wie dieser.
Ein gewaltiges Buch, auch wenn es einen angesichts des Elends, das so gerne schöngeredet
wird, schier verzweifeln lässt.
Ueli Mäder
Foto: Mediathek Uni Basel
Thilo Bode
© Heike Steinweg
Marc Augé (Juli 2010)
Marc Augé: Die illusorische Gemeinschaft.
Matthes & Seitz,
Fr. 10.90
Martín Caparrós:
Der Hunger. «Wie
zum Teufel können wir
weiterleben, obwohl
wir wissen, dass diese
Dinge geschehen?»
17Suhrkamp, Fr. 37.70
Martín Caparrós
© Christiane von Enzberg / Agentur Focus / Suhrkamp Verlag
Belletristik
Die schöne Literatur, einst Flaggschiff einer
jeden Buchhandlung, die etwas auf sich hielt,
spielt zwar im Feuilleton noch eine Rolle;
allein, welche Zeitung leistet sich noch diesen
Luxus? Ich halte mich aus zeitlichen Gründen
knapp zu den einzelnen Titeln, doch ich versichere Ihnen, dass jedes vorgestellte Buch in
seinem Genre sowohl in sprachlicher wie auch
in inhaltlicher Hinsicht eine Trouvaille ist.
Dennoch sind Handschuhe nicht mit Socken
zu vergleichen oder konkret aufs Buch bezogen: Für einen Krimi gelten andere Massstäbe
als für die experimentelle Literatur. Stets sollten sie sich jedoch mit den Besten ihres Faches
messen. Ich bin mir natürlich bewusst, dass
meine Auswahl eine persönliche ist und keineswegs Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhebt.
Unser Wunsch – und damit meine ich den
Wunsch aller meiner Mitarbeitenden – ist und
bleibt der Anspruch, für Sie das Buch zu finden, das Sie individuell wünschen oder suchen.
bedient und dennoch eine Ahnung von savoir
vivre vermittelt, von dem wir heute nur noch
träumen können. Wenn Sie an den Schauplatz,
die Insel Porquerolles vor St. Tropez an der
Côte d’Azur, fahren möchten, dann nehmen
Sie den TGV nach Paris, steigen aber in Dijon
um und sind knapp dreieinhalb Stunden später
in Marseille … Meine persönliche Meinung:
lesen!
Für Vargas-Fans. Fred (eigentlich: Frédérique)
Vargas war meine Entdeckung im Jahr 2000,
als ihr Roman Bei Einbruch der Nacht auf
Deutsch erschien. Die Autorin arbeitete damals noch als Archäologin – heute gilt sie als
die wichtigste französische Krimiautorin. Die
Gemeinde der KrimileserInnen ist geteilter
Meinung was ihre Bücher betrifft. Wer sie jedoch schätzt, der/die zählt ihren neusten Roman
Das barmherzige Fallbeil seit langem zu
ihren besten. Meine persönliche Meinung:
lesen, wenn Sie Fred Vargas schon kennen –
oder kennenlernen wollen.
Spannungsliteratur bestimmt heute das
Sortiment der meisten Buchhandlungen,
Spannungsliteratur macht gut 25 % des Umsatzes der meisten Buchhandlungen aus. Auch
im Bücher-Fass finden Sie Titel, die zu dieser
Warengruppe zählen.
Viel Savoir vivre erfahren Sie in Georges
Simenons Mein Freund Maigret. Nein,
mögen Sie denken, nicht schon wieder eine
aufgebrühte Suppe des Buchhändlers, der von
Krimis keine Ahnung hat!? Doch: Haben
Sie schon Maigret gelesen, und diesen im
speziellen? Ich staunte, nachdem ich vor vielen Jahren ziemlich viele Maigret-Krimis des
französischen Klassikers gelesen hatte, über die
erstaunliche Qualität dieses Kriminalromans,
der mit allen Wassern gewaschene Klischees
George Simenon:
Mein Freund Maigret.
Diogenes, Fr. 12.–
Fred Vargas: Das
barmherzige Fallbeil.
Limes Verlag, Fr. 25.50
Robert Harris:
Dictator.
Heyne, Fr. 28.90
Ein historischer Politthriller der Spitzenklasse (keine Verlagswerbung, sondern meine
Meinung) ist Dictator, der neuste Roman von
Robert Harris. Es ist der dritte, jedoch unabhängig zu lesende Band der Roman-Trilogie,
die mit Imperium und Titan begann und
den Kampf zwischen Cicero und Caesar zum
Thema hat.
Das neue Buch ist aus der Sicht Tiros, des verbürgten Privatsekretärs Ciceros, geschrieben
und lässt damit viele Freiheiten offen. Dennoch
hält sich Harris an die historischen Facts.
Caesar bootet Cicero aus und zwingt ihn, Rom
zu verlassen; derweil rüstet er zum Kriegszug
gegen die Gallier. Caesar und Cicero sind zwei
Giganten, die weit über das römische Reich hinausleuchten. Harris betrachtet die Geschichte
aus Ciceros Sicht, aus der Sicht des Philosophen
und an Macht interessierten Politikers; Caesar,
der als Feldherr, Politiker, Autor und Liebhaber
von Cleopatra letztlich diktatorisch nach der
Kaiserkrone des römischen Reiches greifen will
und daran scheitert, ist sein schillernder
Gegenpart. Meine persönliche Meinung: unbedingt lesen.
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Glückliche Entdeckung. Antonio Dal Masetto wurde
1938 in Intra (Verbania) am Lago Maggiore geboren und
wanderte mit seinen Eltern 1950 nach Argentinien aus. Er
verstarb dieses Jahr in Buenos Aires; in der argentinischen
Literaturszene zählt er zu den bekannteren Autoren. Drei
seiner literarischen Kriminalromane erschienen auch in
Deutsch.
Sein 2003 in Argentinien erschienener Roman Oscuramente fuerte es la vida legte der Zürcher Rotpunktverlag
schon fünf Jahre später auf Deutsch auf, doch es scheint,
dass das Buch nur wenig beachtet wurde.
Als wäre alles erst gestern gewesen handelt in den
30er-Jahren in Italien; es erzählt vom aufkommenden
Faschismus, aber auch von den Menschen, die sich dagegen gewehrt haben, es erzählt von einem entbehrungsreichen Alltag, der dennoch reich war. Erzählerin ist die
80-jährige Agata, die die Mutter des Autors sein könnte.
Einem Zufall verdanke ich, kürzlich auf das Buch aufmerksam geworden zu sein – die glückliche Entdeckung
eines grossen, anrührenden Buches.
Einfache und packende Sprache. Aharon Appelfeld
wurde 1932 in Czernowitz geboren, wie früher schon
Paul Celan oder Rose Ausländer. Er überlebte Verfolgung
und Krieg im Ghetto, im Lager und in den ukrainischen
Wäldern, 1946 kam er nach Palästina; heute lebt er in
Jerusalem.
Sein neuster Roman, Ein Mädchen nicht von dieser
Welt, nimmt ein Thema auf, das der Autor schon mehrmals aufgegriffen hat: Die Flucht von Juden aus dem
Ghetto. Dieses Mal sind es zwei Knaben, die von ihren
Müttern im Wald ausgesetzt werden. Ein Hund gesellt sich
Antonio Dal
Masetto: Als wäre
alles erst gestern
gewesen.
Rotpunktverlag,
Fr. 22.–
Aharon Appelfeld:
Ein Mädchen nicht
von dieser Welt.
Rowohlt, Fr. 24.50
Christine Lavant:
Zu Lebzeiten
veröffentlichte
Erzählungen.
Wallstein, Fr. 47.30
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dazu und Mina, das kleine Mädchen. Und nicht zu vergessen ist auch die Rolle der Natur, die massgeblich beteiligt
ist am Ausgang der Geschichte.
Das Buch ist aus der Kinderperspektive in einer einfachen
packenden Sprache erzählt, die einen von der ersten Seite
weg entführt. Dass die Geschichte zum Ende gut ausgeht,
ist weder Kitsch noch Seifenoper; es grenzt viel mehr an
ein Wunder, woran man nach der Lektüre wieder zu glauben beginnt, obwohl man die Wunder oft längst schon im
Abfall der Legenden und Märchen entsorgt glaubte.
Ein eindringliches, grosses Werk. Christine Lavant wurde
1915 als Christine Thonhauser im Lavanttal, Kärnten
geboren; aus gesundheitlichen Gründen musste sie ihre
Schulbildung schon früh abbrechen; Lungenentzündungen,
Tuberkulose und schwere Depressionen verlangten immer
wieder Aufenthalte im Krankenhaus. In den dreissiger
Jahren sandte sie einen ersten Roman dem Leykam Verlag
zu, der nach anfänglichem Lob dann aber eine Publikation
zurückwies, worauf sie alle vorhandenen Manuskripte zerstörte. In der Folge verdiente sie sich ihren Lebensunterhalt
jahrelang als Strickerin und lebte für lange Zeit am oder
unter dem Existenzminimum.
1948 erschien dann erstmals ein schmaler Band mit
Gedichten, erstmals auch unter dem Namen Lavant. In
kleineren Verlagen erschienen bis zu ihrem Tod 1973 verschiedene Erzähl- und Gedichtbände. Zweimal wurde sie
für ihr ihre Lyrik mit dem Georg-Trakl-Preis für Lyrik ausgezeichnet, 1970 erhielt sie den Grossen Österreichischen
Literaturpreis.
Im vergangenen Jahr erschienen im Rahmen einer auf
vier Bände geplanten Werkausgabe die Gedichte und
nun endlich liegen auch die zu Lebzeiten veröffentlichten
Erzählungen vor. Ein eindringliches, grosses Werk ist
nun wieder lieferbar – ich wünsche dem Buch die verdiente
Anerkennung und viele LeserInnen.
Glaubt uns: ein Superbuch! Die Kanadierin
Jocelyne Saucier, geb. 1948, lebt heute in
einem Handvoll-Seelen-Dorf im nördlichen
Quebec. Sie schrieb bisher vier Romane, Ein
Leben mehr ist ihr erster in deutscher Sprache.
Was für ein tolles Buch! In einer wunderbar
eleganten Sprache erzählt die Autorin die
spannende und berührende Geschichte von
drei alten Männern, die sich in die nordkanadischen Wälder zurückgezogen haben. Sie
lieben die Freiheit und möchten eigentlich
nicht gestört werden. Da taucht eine junge
Journalistin auf, die nach einem Überlebenden
der grossen Waldbrände sucht, der auch gemalt
haben soll. Doch damit nicht genug: Einer
der drei holt eines Tages seine alte Tante aus
der psychiatrischen Klinik; geplant war ein
kurzer Ferienaufenthalt, doch die Frauen blieben – und alles wurde etwas komplizierter als
gedacht.
Das Buch zählt zu den absoluten Lieblingsbüchern der Bücher-Fass-Crew, und doch erleben
wir, dass es nicht ganz einfach ist, es zu verkaufen (was ja auch eine unserer Aufgaben ist).
Wer sich aber darauf einlässt, uns zu glauben,
der ist bis heute noch immer zurückgekehrt
mit dem Feedback: ein Superbuch.
Mitreissend und lebensprall. Bücher aus Osteuropa haben es nicht ganz einfach, im Westen
richtig Fuss zu fassen. Vielleicht gelingt dies
nun Serhij Zhadan, der im Nordosten der
Ukraine in Charkiw lebt – ich lernte in der
Schule noch den alten russischen Namen der
bedeutenden Universitäts- und Industriestadt:
Charkow. Mesopotamien, so der Titel des
neuen Roman, handelt nicht im historischen
Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris,
sondern in der multikulturellen Stadt Charkiw,
die an der Mündung des gleichnamigen Flusses
in den Lopan liegt, welcher seinerseits in den
Udy mündet.
Ein packend geschriebener, mitreissender
Roman, der uns lebensprall in poetischem
Übermut und manchmal auch surrealen Szenen
davon erzählt, dass wenn in den Strassen auch
geschossen wird, die Hoffnung auf ein friedliches Zusammenleben der unterschiedlichsten
Kulturen noch längst nicht begraben ist.
Georg-Büchner-Preisträger. Im vergangenen Oktober
wurde Rainald Goetz der bedeutendste deutschsprachige
Literaturpreis verliehen: der Georg-Büchner-Preis. Die
Erfahrung zeigt, dass wir Schweizer ziemlich resistent sind
gegenüber preisgekrönten Autorinnen und Autoren, wenn
die verliehenen Kronen aus Deutschland kommen und
ihre Träger ebenfalls. Es sei denn, eine Schweizerin oder
ein Schweizer werde ausgezeichnet.
Wie viele der Büchner-Preisträger ist auch der 1954
in München geborene Rainald Goetz keiner, der sich
anbiedert. Was aber eben keinesfalls heisst, dass seine
Bücher nur Eingeweihten verständlich sind. Sein erstmals 2012 erschienener Roman Johann Holtrop zum
Beispiel erzählt vom rasanten Aufstieg und Fall eines
Managers in den Nullerjahren. Egomanie und Ehrgeiz
führten zum Aufstieg und zum Erfolg, der niemals satt
macht; Weltmissachtung und Missachtung der Arbeit, der
Menschen, der Gegenwart und des Rechts führen jedoch
nicht zu noch glänzenderem Glanz, sondern zum Desaster.
Johann Holtrop ist keine Identifikationsfigur, doch darum
geht es Goetz auch nicht; seine Romane, virtuos formuliert, sind Gesellschaftsanalysen, die aussagekräftiger sind
als soziologische Untersuchungen. Vielleicht möchten sich
manche solche Romane am liebsten vom Leib halten, aber
wer sich dann darauf einlässt, wird reich belohnt.
Unter die Haut geht der schmale Roman
Erschlagt die Armen! der in Paris lebenden
Bengalin Shumona Sinha. Der irritierende
Titel des Buches ist einem Gedicht Baudelaires
mit demselben Titel entnommen. Die junge
Protagonistin scheint ihn ernst genommen
zu haben, denn sie schlägt einem Migranten
in der Metro eine Weinflasche auf den Kopf,
worauf die dunkelhäutige Frau sich in Polizeigewahrsam wiederfindet. Die Tat ist auf den
ersten Blick kaum nachvollziehbar, denn die
Täterin indischer Abstammung arbeitet in der
Asylbehörde als Dolmetscherin. Bald beginnt
man jedoch zu begreifen, dass die Migrantin
eben von den weissen Beamten nicht akzeptiert wird und auch nicht von denjenigen, die
nach Asyl nachfragen. Und die Dolmetscherin
versteht auch glasklar, dass alle aufgetischten
Geschichten sich ähneln wie ein Ei dem andern
und es letztlich nur darum geht, dem Elend des
Herkunftslandes zu entkommen.
Die nichteuropäische Sicht auf ein globales
Problem tut not, packt, fesselt und lässt einen
zuerst einmal rat- und hilflos zurück.
Beglückend. Olav H. Hauge zählt in Norwegen zu den
ganz grossen Lyrikern; 1908 geboren, schrieb er seit 1924
Tagebuch, das erst wenige Tage vor seinem Tod 1994
abbricht. Ein Tagebuch, das es in sich hat. Hauge lernte
Gärtner und betrieb später auf dem Hof seiner Eltern
Obstgartenbau. Vor allem aber wollte er auch Dichter sein,
eine Profession, die er sich selbst beibrachte. Das gelingt
den Wenigsten; für viele, die denselben Weg begehen
möchten, wird es ein Irrweg.
Auf Deutsch ist nun eine Auswahl aus seinen Tagebüchern erschienen: Mein Leben war Traum. Das Buch
zeigt, wo der genialische Aspekt seiner Dichtung liegt: im
genauen und doch zurückhaltenden Beobachten und in
der Fähigkeit, dies in Übereinstimmung zu bringen mit
subjektivem Empfinden.
Olav H. Hauge war auch ein grosser Leser und man erfährt
ganz nebenbei und doch überzeugend, was Literatur zu
bewegen vermag. Kurz: Ein beglückendes Hausbuch für
lange Zeit.
Ein bewegendes Buch über einen integren Menschen.
Der französische Romancier Olivier Rolin legt mit der
Romanbiografie Der Metereologe ein Buch vor, das
Jocelyne Saucier: Ein Leben mehr. Insel, Fr. 25.20
Serhij Zhadan: Mesopotamien. Suhrkamp, Fr. 28.80
Shumona Sinha: Erschlagt die Armen! Nautilus, Fr. 22.90
Rainald Goetz: Johann Holtrop. Suhrkamp, Fr. 13.–
Olav H. Hauge: Mein Leben war Traum. Aus den Tagebüchern 1924–1994.
Edition Rugerup, Fr. 31.60
Olivier Rolin: Der Meteorologe. Liebeskind, Fr. 25.30
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aktueller ist, als man auf den ersten Blick vermutet. Es ist
die Lebensgeschichte des Alexei Wangenheim. Geboren
wurde er 1881 in einem kleinen ukrainischen Dorf und
Zeit seines Lebens waren die Wolken sein Fachgebiet.
Er wurde zum bedeutendsten Meteorologen der UdSSR,
die Wettervorhersagen für ihr grosses Reich dringendst
benötigte. Wangenheim war überzeugter Sozialist und
ihm war es recht, am Aufbau der noch jungen Sowjetunion
mitzuhelfen. Wie Millionen anderen auch, half dies alles
nichts, und er kam 1934 ins Lager, wo er 1937 erschossen
wurde.
Aus dem Gulag konnte er kleine Zeichnungen und Briefe
an seine Tochter hinausschmuggeln. Rolin stiess per
Zufall bei einer Recherche in einem Archiv auf diesen
Packen – entstanden ist ein bewegendes Buch über einen
integren Menschen. Die Aktualität liegt im Indirekten:
Wo geschossen wird und Bomben fallen gegenüber etablierten Staaten, spricht man heute von Terror und vom
Krieg gegen den Terror. Vergessen wird dabei schnell, dass
es noch nicht so lange her ist, dass Terror auch von einer
völkerrechtlich anerkannten Staatsmacht ausgehen kann,
ja, dass solcher Terror noch heute in einigen Ländern gang
und gäbe ist. Wangenheim war Wissenschaftler und überzeugt, dass es eine gerechtere Welt geben müsse. Von den
Mächtigen wurde er dafür verraten.
Buchwoche 2015. Vor Kurzem ist die Schaffhauser
Buchwoche 2015 mit schönem Erfolg zu Ende gegangen.
Alle vorgestelltenBücher kann ich Ihnen auch hier guten
Gewissens empfehlen. Das gilt für Ralph Dutlis Die
Liebenden von Mantua ebenso wie für Daniel Guts
Neidkopf, Catherine Safonoffs Der Bergmann und der
Kanarienvogel, Michèle Minellis Die Verlorene und
Sandra Gattis Mörderhölzli. Und es gilt auch für die
folgenden Titel:
Michael Fehrs Simeliberg ist ein packender Text, dessen
Nähe zur spoken-word-Szene spürbar ist. Es lohnt sich, die
spannende Geschichte eines Bauern mit anarchistischem
Gedankengut, den das Sozialamt bevormunden möchte,
für eine oder zwei Seiten laut zu lesen. Als Leser wird man
hineinversetzt in eine den Voralpen ähnelnde Landschaft
mit Streusiedlungen und einem Bezirksort; wahrscheinlich würde ein überwiegender Teil dieser Bevölkerung der
Masseneinwanderungsinitiative zustimmen …
Afrika besser begreifen. Die vom Theologen, Journalisten
und Afrikakenner Al Imfeld herausgegebene Anthologie
Afrika im Gedicht sollten Sie ziemlich oben auf Ihre
Bücherwunschliste setzen. Das Buch, ein Bijou in jeder
Hinsicht, versammelt über 550 Gedichte von 250 afrikanischen Autorinnen und Autoren. Sie sind zwischen
1960 und 2014 entstanden. «Gedichte sind das Geflecht
einer Gesellschaft, eine besondere Form von Philosophie»
schreibt Al Imfeld im Vorwort: Wer sich auch nur ein
wenig in das Buch vertieft, beginnt Afrika und seine komplizierten letzten 50 Jahre besser zu begreifen.
Ein gewaltiger Roman ist Werner Rysers Walliser
Totentanz. Fast unglaublich, dass es einem Autor mit
seinem ersten Buch gelingt, aus der Perspektive eines
Dorfes im Obergoms einen Roman zu schreiben, der
neben der lokalen auch die europäische Geschichte miteinbezieht. Und in Europa, wie auch im Wallis, standen
sich um 1500 machtpolitische Interessen gegenüber, die
ganz selbstverständlich kriegerisch gelöst werden wollten.
Ryser verfällt nie der Versuchung, seinen Hauptpersonen
mehr Glück und Kraft als andern zukommen zu lassen.
Alle Personen des Romans sind Kinder ihrer Zeit, von der
erfundenen Kräuterfrau Magdalena Capelani bis zum ganz
realen Kardinal Schiner oder seinem Kontrahenten Georg
Supersaxo.
Eine Trouvaille. Regula Wenger, eine junge Autorin
aus Basel, ist ausserhalb der Stadt am Rheinknie kaum
bekannt. Leo war mein erster handelt nicht etwa vom
ersten Liebhaber. Die Icherzählerin Pia ist von Beruf
Putzfrau, die sich auf das Reinigen von Wohnungen
Verstorbener spezialisiert hat. Regula Wenger erzählt mit
Wärme und Sprachwitz, mit augenzwinkerndem Humor
und Empathie eine Geschichte von Tod und viel Leben,
wie man sie nicht nur so, sondern überhaupt noch nie
gehört hat: eine Touvaille!
TAMANGUR – allein schon der Klang lässt einen kaum
mehr los. Tamangur, ein grosser Arvenwald im S-charl-Tal
bei Schuls, wird bei Leta Semadeni auch Sinnbild für den
Ort, wo die Toten wohnen, der Grossvater etwa. Der erste
Roman der in Lavin wohnenden Lyrikerin ist ein schmales
Buch und ein grosser Wurf.
In kurzen Kapiteln erzählt die
Autorin die Geschichte einer
tragischen Katastrophe, die man
als Leser mehr ahnt, als dass
wirklich davon erzählt wird.
Darin liegt die grosse Kunst dieser
vordergründig harmlosen Geschichte,
die immer wieder mit Humor viel
Alltägliches aus dem Leben der
Grossmutter ihres Enkelkindes
berichtet.
Worauf es ankommt im Leben (2)
Es gibt Leute, die schreiben eigentlich für ein Publikum und erhoffen sich
eine möglichst grosse Leserschar; und es gibt Leute, die schreiben für sich
und wünschen allenfalls bescheiden, einem kleinen Kreis von Freunden eine
Freude zu machen. Kommt ein Autor nun mit seinem Text zu einem Verleger,
so stellt sich dieser immer auch die Frage: Wen interessiert es denn wirklich?
Nuot Ganzoni war während vieler Jahre Chefarzt der chirurgischen Abteilung am Kantonsspital Schaffhausen, und ich erinnere
mich noch gut an einen Abend in den 70er-Jahren, als ich mir beim
Schneiden eines Steckens für den Cervelat in den linken Daumen hackte
und dabei eine Sehne durchtrennte. Dr. Ganzoni nähte mir diese im
Kantonsspital wieder zusammen, nicht ohne mir angedroht zu haben, dass er
mich unter Vollnarkose legen würde, wenn ich nicht endlich aufhöre mit der
verwundeten Hand zu zucken. Das hat Wunder gewirkt.
Nach der Pensionierung 1996 erfüllten sich Nuot und Trix Ganzoni einen
Traum: Sie kauften eine Segelyacht und segelten von der Flensburger Förde
während zehn Sommerhalbjahren auf der «Cavistrau» den Küsten Europas
entlang bis ins Schwarze Meer.
In seinem schon 2009 erschienenen Reisebericht Wolken, Wind und Wogen
erzählt Nuot Ganzoni nicht nur über persönliche Erlebnisse, sondern er
knüpft auch immer Bezüge zu historischen und kulturellen Ereignissen; darüber hinaus regen die eingestreuten Reflexionen über das Alter und das Leben
an, über die eigene Zukunft nachzudenken. Dem Autor gelingt es, auch diejenigen Leser und Leserinnen aufs Boot zu holen, die ihn nicht kennen.
Nuot Ganzoni:
Wolken, Wind und
Wogen. Eine Seglerreise entlang Europas
Küsten.
Kranich Verlag, Fr. 48.–
Al Imfeld (Hrsg.): Afrika im Gedicht. Offizin, Fr. 72.–
Regula Wenger: Leo war mein erster. Waldgut, Fr. 28.–
Alexander Wanner: In
Arkadien. Impressionen
aus einem Sabbatical.
edition vogelfrei, Fr. 25.–
Leta Semadeni: Tamangur. Rotpunktverlag, Fr. 22.–
Michael Fehr: Simeliberg. Der gesunde Menschenversand, Fr. 27.–
Werner Ryser: Walliser Totentanz. Nagel & Kimche, Fr. 34.90
Bibliografische Angaben und Kurztexte zu den anderen BuchwocheTiteln auf w w w.schaff hauserbuchwoche.ch
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Alexander Wanner, geboren 1965 in
Schaffhausen, studierte in Zürich, Lausanne
und Caen Romanistik und Latein und
unterrichtet seit 1994 an der Kantonsschule
Schaffhausen. Im Sommer 2014 gestattete er
sich ein Sabbatical, das er besonnen und sorgfältig plante. Die geschenkte (oder gewonnene)
freie Zeit sollte nicht ungenutzt verrinnen.
Neben ein paar kleinen Vorhaben setzten
vier Projekte eine intensivere Planung voraus.
In einem Kloster wollte er sich Vergil widmen, die Erwägung einer Wiederaufnahme
von Prousts «Recherche» liess ihn an einen
Aufenthalt in Caen denken, die Erinnerung
an sein virtuoses klassisches Klavierspiel, das
ihm in jungen Jahren einen Preis eingebracht
hatte, liess ihn an einen Jazzkurs denken, und
weil ihm nach dem vielen Bier im Rahmen der
Scaphusianer (meine vermutete Interpretation)
der Saft gekelterter Trauben zu schmecken
begann, stellte er sich ein Praktikum auf einem
Château im Bordelais vor.
Die Erlebnisse und Erfahrungen aus diesen
vier Projekten liegen nun gesammelt in seinem Buch In Arkadien vor. «Auszeit» wählte
Alexander Wanner als Arbeitstitel, der mich als
Verleger zu sehr an Eishockey erinnerte oder
an ein nicht immer ganz freiwilliges Timeout
im Arbeitsprozess. «Arkadien» steht auf der
anderen Seite der Begriffsskala und klingt
nach Musse und paradiesischen Zuständen.
Alexander Wanner schreibt oft augenzwinkernd und mit feinem Humor – «Leider bin
ich weder Schriftsteller noch Nobelpreisträger
…» notiert er in Zusammenhang mit einem
Bonmot zu André Gide – und bleibt doch
genau in seinen Beobachtungen.
In beiden Texten spürt man, dass die Autoren
in oder mit ihrer Arbeit eine Erfüllung erfahren haben, wie man sie gemeinhin nur dem
idealen Gärtner zuerkennt. Als Leser oder
Leserin ahnt man unvermittelt, worauf es
ankommt im persönlichen Leben.
Herzlichen Dank!
Überall und immer, wenn Menschen gemeinsam ein Projekt verfolgen,
sei es privat oder beruflich, ist Verlässlichkeit notwendig und muss
selbstverständlich sein. Wo Menschen aber ohne zwingende Gründe
miteinander zu tun haben, ist nichts selbstverständlich. Viele von Ihnen
haben die Buchhandlung seit den Gründungsjahren begleitet, sind mit
uns älter geworden – und haben immer wieder einen Umweg in Kauf
genommen, um sich im Bücher-Fass mit geistiger Nahrung einzudecken. Dafür möchte ich Ihnen herzlich danken. Ihrer Treue verdanken
wir unsere Existenz und Unabhängigkeit.
Danken möchte ich wie immer auch meinen Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern Ursula Stamm, Gabriele Meier, Martina Cucinotta und
Norbert Hauser, die mit Engagement, Herzblut und fachlicher Kompetenz wesentlich dazu beitragen, dass das Bücher-Fass so ist, wie es ist.
Öffnungszeiten
Wir wünschen Ihnen ein frohes Weihnachtsfest, viel Freude und alles
Gute im neuen Jahr.
Und am Samstag, den 9. Januar 2016
bleibt der Laden wegen Inventur
geschlossen.
Georg Freivogel
Ein Buch als Kunstwerk. Ein rätselhafter
Knüller ist der Roman S. – Das Schiff des
Theseus des Filmemachers J.J. Abrams
und des Romanautors Doug Dorst. Er
spielt mit mehreren Textebenen und
kommt als veritables «Musterexemplar»
im Werkstattlook daher, versehen mit
unzähligen handschriftlichen Notizen,
Bibliotheksstempeln, Zeitungsausschnitten,
Unterstreichungen und Verschmutzungen.
Der Plot: Eine junge Studentin findet
in der Bibliothek den (fiktiven) Roman
«Das Schiff des Theseus» eines (ebenso
fiktiven) Autors V. M. Straka, in welchen ein anderer Student Hunderte
von Randbemerkungen gekritzelt hat. Die junge Frau ist fasziniert und
ergänzt die Notizen mit eigenen Mutmassungen. Zwischen den beiden
Studenten Jen und Eric entspinnt sich eine lebhafte Unterhaltung, die
allein auf der Textebene der Randnotizen zum Binnenroman «Das
Schiff des Theseus» stattfindet.
Ein Witz mit Tiefgang? Oder ein Frontalangriff aufs E-Book, wie ein
Rezensent findet? Überzeigen Sie sich selbst!
Abrams J.J. / Dorst D.: S. – Das Schiff des Theseus.
gebunden im Schuber. (Limitierte Auflage)
Kiepenheuer & Witsch, Fr. 54.90
Sonntag, 20. Dezember: 12 –17 Uhr
Montag, 21. Dezember: 8.30–18.30 Uhr
Donnerstag, 24. Dezember: 8.30 –16 Uhr
Montag, 28. Dezember: 13.30 – 18.30 Uhr
Donnerstag, 31. Dezember: 8.30 – 16 Uhr
Das neue Jahr beginnen wir am
Montag, den 4. Januar, wie immer um
13.30 Uhr.
Impressum
Weihnachtsbrief 2015
Bücher-Fass Webergasse 13
8201 Schaffhausen
Telefon 052 624 52 33
www.buecherfass.ch
Texte: Georg Freivogel
Gestaltung: Silvia Bartholdi
www.richtigundschön.ch
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