Album aus der Jugend

Daniel Seefeld
Album aus der Jugend
Inhalt:
Onkel Walters Höllenfahrt.............................................2
Amerikafeindlichkeit.....................................................5
lieder eines fahrenden gesellen......................................8
1 marja ….................................................................................8
2 diana …..................................................................................8
3 regina ….................................................................................9
4 was den chronist der ereignisse um dornröschen entging ….12
5 natascha (wie man dornröschen nicht wach kriegt) …..........13
Schülerszene, eine kleine Evaluationsgeschichte ….....18
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Onkel Walters Höllenfahrt
Ziemlich plözlich war Onkel Walter nicht mehr der alte. Er habe es schwer am Herzen gekriegt,
hieß es.
Onkel Walter war mein Patenonkel. Eigentlich war er der uninteressanteste Onkel, doch das
wurde mir erst viel später bewusst. Solange er lebte fühlte ich mich privilegiert unter meinen
Geschwistern, Onkel Walter zum Paten zu haben, denn von dem kriegte man zu Weihnachten die
besten Geschenke. Manche fand ich zwar etwas enttäuschend, z.B. das Polizeiauto: Die Fenster
und die drinnen sitzenden Polizisten waren aufgemalt, das sah so "uncool" aus! Und die Batterien
trieben keinen Motor an sondern ein Tonband mit den Worten: "Achtung, Achtung, kommen Sie
mit erhobenen Händen heraus, wir werden nicht schießen". - Onkel Walters legendärstes
Geschenk war der Panzer: Der hatte einen Motor und konnte mit seinen Ketten über alles drüber
fahren! Das war so spannend, was der alles an Hindernissen überwinden konnte! Meine Brüder
waren ziemlich neidisch wegen des Panzers, zumal das Ding sich als ausgesprochen langlebig
erwies. - Außerdem schenkte mir der Onkel zum Geburtstag immer eine Rakete: Die konnte man
mit einem Gummi hoch in die Luft schießen, dann segelte sie an einem Fallschirm wieder nach
unten. Raketen waren sein Hobby. Er hatte eine riesige Mondrakete zusammengebaut, aus einem
Modellsatz, die war fast so groß wie ich! Und man konnte die verschiedenen Stufen abnehmen
und viele Klappen öffnen und sehen, was in der Rakete alles drin war. Er schien alles über
Raketen zu wissen.
Onkel Walter war der Mann von Tante Edith, der ältesten Schwester meiner Mutter. Sie war
einige Jahre älter als der Onkel. Sie hatte in der Familie meiner Mutter als "unverkäuflich"
gegolten, das hatten ihre Brüder im Scherz einmal gesagt, weil sie linkisch war, nicht hübsch und
- obwohl im Grunde herzlich gut - ein ziemlich herrisches Wesen hatte, so daß niemand glauben
konnte, daß sie mal einen Mann fände. Außerdem war von der Familie vorgesehen, daß sie die
Eltern pflegen sollte, wenn die mal alt seien. - Auch Onkel Walter war kein schöer Mann
gewesen, so daß man mutmaßen konnte, daß er selbst bei dem Männermangel nach dem Krieg
wenig Chancen bei den jungen Frauen gehabt hatte. Ein Hochzeitsfoto der beiden zeigte einen
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kleinen, untersetzten aber dabei sehr schmalschultrigen Mann, der ziemlich weichlich wirkte,
daneben die Tante, fast einen Kopf größer und trotz ihrer Jugend mit einem Gesicht, das
männlicher wirkte, als das des Onkels. – Die beiden lebten in einer der langweiligsten Gegenden
Deutschlands: in Gerkrath, einer kleinen Kleinstadt in einer fast baumlosen, gänzlich flachen,
völlig zersiedelten Landschaft. Um Onkel Walter und Tante Edith zu besuchen, fuhren wir über
breite schnurgerade Straßen, vorbei an riesigen öden Ackerflächen, alle zwei Kilometer gab es
ein häßliches, ausgedehntes Straßendorf mit langweiligen schmutzig-grauen Eternit beplatteten
Häusern und in der Ferne sah man immer ausgedehnte Industrieanlagen. Die Straßen, hieß es,
seien hier so breit und geradlinig wegen des Militärflughafens in der Nähe, damit die Flugzeuge
zur Not auch auf der Straße landen könnten. Diese Vorstellung war für uns Kinder das einzig
spannende an der Fahrt: wir schauten immer aus der Heckscheibe und warteten, ob hinter uns
nicht ein Flugzeug landen wollte.
Onkel Walter wohnte im Haus seiner Eltern, ein winziges Reihenhaus in einer
Arbeitersiedlung. Er hatte es geerbt. Seine beiden Brüder waren im Krieg gefallen, so brauchte er
nur seine ältere Schwester auszuzahlen. Er selber war nicht im Krieg gewesen. Es hieß, er habe
die Raketenfabriken bewachen müssen. Daher kam wohl sein Interesse für Raketen. Und er war
riesig stolz darauf, daß er Herrn Werner von Braun, den Raketenbauer, der später in Amerika die
Mondrakete baute, oft persönlich gesehen und militärisch gegrüßt hatte. Und ich war ganz stolz,
daß mein Patenonkel Raketen bewacht hatte. Und ich war auch stolz, daß mein Patenonkel immer
im Preisskat gewann. Und daß er in der freiwilligen Feuerwehr war. Das war außerdem sehr
günstig, weil er uns öfter mitnahm, uns die riesigen Feuerwehrautos zeigte und wir im
Führerhaus sitzen durften! - Das alles genügte mir an meinem Patenonkel völlig. - Mehrmals
spielten wir mit ihm Fußball. Dabei zeigte er uns jedoch immer nur, was wir noch nicht konnten,
in deutlich erkennbarer trainerischer Absicht zwar, aber mit der Folge, daß mir dieses Spiel völlig
uninteressant wurde. Ich wollte spielen, nicht üben! Und so als Person war er, wie gesagt, auch
recht uninteressant. Aber das konnte nicht auffallen, weil: wenn wir bei ihm waren, konnten wir
immer mit seinen Rennautos spielen, und wenn er uns besuchte, waren wir immer mit seinen
Geschenken beschäftigt. So konnte gar keine Gelegenheit entstehen, in der wir Onkel Walter mit
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Langeweile verbunden hätten, zumal bei mir nicht, weil er mir, als seinem Patenkind, immer die
besten Geschenke mitbrachte. Onkel Walters Geschenke machten mich um so stolzer, weil mein
Vater sie immer mit den Worten würdigte: "Das war bestimmt teuer und soviel Geld haben die
auch nicht."
Onkel Walter betrieb die Imbissbude und das Klohäuschen am Bahnhof von Gerkrath, beides
mit einem, wie es hieß, beneidenswert günstigen und lebenslangen Pachtvertrag von der Stadt.
Den hatte er nach dem Krieg bekommen, weil er im Krieg die Raketen so gut bewacht hatte, da
hatte sich ein ehemaliger Vorgesetzter für ihn eingesetzt.
Weniger Glück hatte der Onkel mit seiner Tochter, meiner Cousine. Die hatte sich früh von der
Familie abgewandt, hatte Psychologie studiert und war nach Amerika ausgewandert. Der Onkel
bekam immer Tränen in die Augen, wenn er von ihr sprach und ich hatte richtig Mitgefühl mit
ihm, auch wenn mein Vater hinterher immer sagte, der sei doch bloß sentimental. Ich fand das
nicht in Ordnung von meinem Vater, Onkel Walters Tränen so klein zu reden. Ich weiß zwar
nicht, ob ich Onkel Walter wirklich mochte, doch ich spürte ein dankbares und anerkennendes
Gefühl für ihn, weil seine Weihnachtsgeschenke mir so oft große Überraschung und Freude
bereitet hatten, ich war sozusagen "auf seiner Seite".
Deshalb war ich sehr betroffen, als es hieß, Onkel Walter habe es plötzlich schwer am Herzen
gekriegt. Es hieß, er habe jemanden von früher getroffen, einen ehemaligen Häftling, hieß es, der
hatte in der Raketenfabrik arbeiten müssen, ein ganz mieser und nachtragender Charakter. Er
habe Onkel Walter was heimzahlen wollen und ihm ganz böse Sachen gesagt. - Als ich Onkel
Walter danach wieder sah, schien mit ihm tatsächlich etwas vorgegangen zu sein: Er sah stark
gealtert aus, seine Bewegungen waren verlangsamt, er sprach kaum noch und Tante Edith
entschuldigte ihn nach dem Essen, weil er ins Bett müsse, sich ausruhen, ihn würde jetzt immer
alles so anstrengen. - Ich sah ihn vielleicht noch zwei oder drei Mal. Zwei Jahre, nachdem er es
am Herzen gekriegt hatte, starb er. Die bösen Worte hatten ihn ins Grab gebracht.
In den Raketenfabriken der Nazis starben mehrere tausend Zwangsarbeiter wegen der
Arbeitsbedingungen und der Misshandlungen durch das Wachpersonal.
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Amerikafeindlichkeit
1995. Zwei Männer in einem Cafe. Einer bläßt Qualm in die Luft, der andere liest in einer
Broschüre des CDU-Familienministeriums über Scientologie.
K: (Von seiner Lektüre aufschauend.) „Оhne das rührige Engagement der CDU gegen
Scientologie schmälern zu wollen - aber manchmal haftet ihren Aussagen unfreiwillige Ironie an.
"Kirchliche Attribute werden von Scientologie benutzt um den Verkauf zu steigern" les ich da
grade. Darüber mokiert sich ausgerechnet eine kapitalistische Partei, die mit der Aufschrift
"christlich" auf Stimmenfang geht."
E: „Ja, wenn es um Scientologie geht, dann fängt die CDU sogar an, das Gewinnstreben
anzuprangern.“
K: „Das ist in diesem Falle auch noch Amerikafeindlich.“
E: „Amerikafeindlich? Wieso?“
K: „Na, nichts bringt doch den herrschenden Geist der "Neuen Welt" besser zum Ausdruck, als
die beiden ersten Sätze der Scientologie-Bibel: Make Money. Make more Money. Geldverdienen
als Gottesdienst. Das ist der Geist der alten Puritaner.“
E: „Da erinnere ich mich an was... weißt du, daß ich in einer streng amerikafeindlichen Familie
großgeworden bin?“
K: „Du? Das muß doch in den frühen sechzigern gewesen sein. Da gab es soetwas schon?“
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E: „Und ob! Wir waren katholisch!“
K: „Was hat denn das mit Amerikafeindlichkeit zu tun?“
E: „Ich kann mich z.B. noch erinnern, daß meine Mutter den Jazz abschätzig "Negermusik"
nannte. Es galt bei uns noch als anrüchig, so was zu hören. Und Kaugummi, Turnschuhe und
Kokakola galten als eindeutige Zeichen kulturellen Zerfalls.“
K: „Damit waren sie wohl nicht allein. Und - den Jazz ausgenommen - ist es ja an sich auch nicht
die dümmste Abneigung.“
E: „Aber im Falle meiner Eltern gilt der Ausspruch eines Historikers über die vormodernen
Wissenschaften: Sie irren selbst da, wo sie recht haben. Denn das, was von den Amis rüberkam
wurde von ihnen ja nicht deshalb abgelehnt, weil es das war, was es war: von gewinnsüchtigen
Konzernen den Leuten aufgeschwatzter Schwachsinn, sondern weil sie ganz einfach ignorant
waren gegen alles neue und ungewohnte...“
K: „... und vermutlich weil es mehr und mehr zum Attribut einer Jugendbewegung wurde, die
freizügiger und lebensfreudiger war als ihre von der Hitlerzeit geprägten Vorstellungen es
erlaubten.“
E: „Genau. Aber das beste war die Sache mit den Jeans: Wir durften keine Jeans tragen. Unsere
Versuche in diese Richtung endeten jedesmal in einer Familienkatastrophe. "Texashosen" hießen
die Jeans bei uns noch. Wir durften sie nicht tragen, weil wir doch schließlich keine Kuhjungen
seien. - Das hätte mal der benachbarte Bauer hören sollen, bei dem wir jeden Abend unsere Milch
holten! Sonntags morgens waren noch alle einträchtig in der Kirche - aber kaum hatten sie ihren
Gott wieder in seinen Tabernakel gesperrt, gab's keinen mehr, vor dem alle gleich waren, und das
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Klassenprestige florierte. Doch die eigentliche Ironie liegt noch woanders: ein Bekannter von mir
ist "drüben" aufgewachsen, in der "Ostzone" wie es bei uns noch hieß. Was die Jeans und den
Jazz angeht, hat er ganz ähnliche Erfahrungen gemacht: er wäre beinahe vom Gymnasium
geflogen, weil er sich weigerte, andere Hosen als Jeans zu tragen. Beide, seine Direktorin und
mein Vater, waren in ihrer Jugend für ihre verfeindeten Ideale jahrelang Lebensgefahr
ausgesetzt: er in Schlamm, Schnee und Stahlgewittern, sie im Gestapo-Knast. Und nach dem
Krieg standen deshalb auch beide voll hinter der atomaren Aufrüstung ihres jeweiligen Regimes.
- Da haben wir also zwei alte Todfeinde, so verfeindet, daß sie lieber die ganze Welt verbrennen
sehen, als daß einer klein bei gibt - aber gegen ihre Kinder stehen sie einmütig zusammen wegen einer Hose!“
K: „Dabei hätten sie nur die Vorzeichen austauschen müssen.“- (eine kurze pause tritt ein) „Weißt du noch, Mitte der achziger Jahre, als das Wort "Amerikafeindlichkeit" seine
Hochkonjunktur hatte? Wir galten als amerikafeindlich, weil wir gegen Ronni waren, gegen
Kriegstreiberei, Kapitalismus und Kabelfernsehen. Daß wir Peirce, Mead und Parsons studierten,
uns für die Musik von Ives und Cage einsetzten, für eine Edward Hopper Ausstellung nach
Frankfurt reisten, Melville, Whitman und Eliot lasen - das zählte nicht.
E: „Tja, wir waren offenbar an das falsche Amerika geraten.“ -
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lieder eines fahrenden gesellen
1 marja
als wir ins tränengas gerieten und zu rennen anfingen, nahm sie meine hand, damit wir uns nicht
verlören und um die wenigen blicke, die jedem von uns noch möglich waren, gemeinsam zu
nutzen. - und ich war narr genug, zu hoffen, sie habe auch noch einen anderen grund dafür
gehabt, meine hand zu suchen. - die wirren rissen uns auseinander und wir gerieten in
verschiedene ströme. ich sah sie in die reihen der beamteten schläger laufen, ohne ihr helfen zu
können und verlor sie aus dem blick. - wie erleichternd, als ich abends zurückkehrte, daß sie zu
hause war! einer der staatsschergen hatte ihr auf den kopf geschlagen. ihr war übel und sie
fürchtete eine gehirnerschütterung. ich war stolz, daß nur ich mich um sie kümmern durfte und
keiner der anderen männer. einer ist allerdings nicht da. und als ich am nächsten abend vom
besetzerrat zurückkomme sehe ich marja und ihn necken und schmusen. ich war verreist gewesen
und hatte nicht mitbekommen, was sich da angebahnt hatte. ich tue so, als sei es mir längst
bekannt und als lasse es mich völlig kalt. ich überprüfe sorgsam an den reaktionen der anderen,
ob das bittre irgendetwas an mir verdächtig verzieht. keiner soll wissen, welche illusion ich mir
gemacht habe, keiner soll etwas in der hand haben gegen mich.
am liebsten möchte ich wieder in eine straßenschlacht verwickelt sein oder gefährliche
sabotageakte ausüben.
2 diana
gegen abend bin ich in einer vorübergehenden bleibe in der fremden stadt angekommen, eine
unfaßbar weitläufige altbauwohnung. ich bin ganz allein, weil sie entmietet wird. ich habe ein
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warmes bad genommen. die wanne ist ganz neu, die alte rissige wand über ihr verschimmelt, es
war gegen 1 uhr nachts, und aus dem radio klang ein mozart klavierkonzert. doch die ganze zeit
suchte mich der wunsch heim, sie anzurufen - aus der wanne heraus, wie in den krampfhaft auf
anspruchsvoll getrimmten filmen, in denen alle immer so wichtig tun. – doch ich ließ es. sie hatte
nie etwas von mir gewollt, dennoch umarmte sie mich zum abschied und sagte: „paß auf dich
auf!“ kann man denn nach einem solchen abschied noch anrufen? gibt es überhaupt noch
richtigen abschied, wenn man anrufen kann? - ich liege in einem leeren zimmer in einem fremden
bett. neben mir, auf die schmutzige hellblaue tapete, ist mit einem kuli „ich“ gekritzelt. darüber
hängt an einem dicken nagel ein verblichenes gummi. es ist morgen. aber was soll ich hier? ich bin gewohnt, daß meine ganze zeit sich um sie zentriert,
daß alles nur davon kündet, daß ich sie sehen werde, selbst über wochen des nichtsehens hinweg.
aber nun, wo ich weggegangen bin, beginnt alles zu wanken, ich spüre keinen festen boden mehr
unter den füßen und befürchte verschlungen zu werden von der zügellosen flut der geschehnisse
und dinge, die ihr da sein sonst bändigte. - es ist, als habe etwas ein loch in die wirklichkeit
gerissen, aus der sie herausfließe, ins bodenlose.
3 regina
es begann schon zu dämmern, als eine hübsche frau mit intelligentem gesicht zu fuß den rastplatz
betrat. sie war brav-bieder gekleidet, wie eine bankangestellte. ich traute meinen augen nicht,
denn sie kam - sichtlich erfreut - direkt auf mich zu. ich merkte, daß sie angetrunkten war. eh´ ich
mich versah, fiel sie mir um den hals. ich kam mir vor wie im märchen, denn eine umarmung war
mir damals, als ich noch nie eine frau berührt hatte, eine solche wonne, wie es den erfahrenen
selbst der ganze liebesakt oft nicht ist. meiner verwunderung erwiderte sie, sie habe mich mit
jemandem verwechselt. das war ihr aber gar nicht peinlich: wir herzten und drückten einander
wie lang vertraute und hatten im nu die flasche wein geleert, die ich dabei hatte. allerdings
beschlich mich ab und zu ein etwas schlechtes gewissen, ihren zustand auszunutzen, und ob ich
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nicht berechtigte erwartungen in ihr wecken würde, durch die sie einen anspruch auf mich
gewönne, dem ich mich nur um den preis würde entziehen können, mich als gemeiner schuft zu
fühlen - aber im vordergrund keimte die hoffnung, endlich aus meiner körperlichen einsamkeit
erlöst zu werden.
sie erzählte, daß ihr freund krank sei, und sie müsse in hamburg seinen arzt um rat fragen. ich wurde nicht recht klug, aus dem was sie sagte, ich verstand nur, daß sie bereits einen freund
hatte. das versetzte meiner hoffnung einen schweren schlag. das schiff, das auf meiner einsamen
insel gestrandet war, würde nur wasser und verpflegung an bord nehmen, aber mich in meiner
einsamkeit zurücklassen. immerhin bot sie mir an, bei ihr in hamburg zu übernachten, ihre mutter
wohne dort.
wir zogen auf der raststätte herum und neckten die rastsuchenden autofahrer, indem wir sie
anbettelten. auf diese weise wurden wir mit zwei feinen geschäftsreisenden um die 40 bekannt.
sie luden uns zu einem kaffee ein. der eine, der etwas spitzbübisch aussah, und dem es
offensichtlich nur um regina zu tun war, versuchte uns etwas von 68 zu erzählen, aber es wirkte
unglaubhaft. vermutlich löste unser auftritt in ihm romantische vagabundenphantasien aus,
jedenfalls schien etwas, das er in uns sah, ihn neidisch zu machen. - seinem kollegen, der brav
und etwas dümmlich aussah, war unsere gesellschaft sichtlich peinlich.
ich verließ die drei, um mir am kiosk schnaps zu holen. ich wollte noch trunkener werden,
mich noch weiter von der verantwortung für die gegenwart befreien, ich wollte von mir selbst
urlaub machen, taumeln. - als ich - an den tisch zurückgekehrt - den schnaps in den kaffee
schüttete, wurde die verkniffene empörung im mienenspiel der anderen gäste so unübersehbar,
daß die kassenfrau fürchten mußte, es werfe ein schlechtes licht auf ihre art, den betrieb zu
führen, wenn sie weiter schweige. sie kontrapunktierte das verkniffene schweigen mit einem
verkniffenen reden, indem sie mich ärgerlich anfuhr, mitgebrachte speisen zu verzehren sei hier
verboten.
erst spät in der nacht wurden wir mitgenommen von ein paar rockmusikern. regina fing
während der fahrt an, den fahrer zu liebkosen. er ließ es sich gefallen, obwohl ihm dabei sichtlich
komisch zumute war. meine zärtlichkeiten wies sie nun barsch zurück. als ich sie nach dem
aussteigen fragte, erklärte sie mir, sie könne ja schließlich nicht jeden liebhaben. das stach mir ins
herz. ziemlich ernüchtert tappte ich hinter ihr her zur nächsten u-bahn-station. mir war kalt. nackt
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und grau schlangen sich die asphaltbänder im fahlen neonlicht ineinander. zwischen sie waren
betonkübelterrassen eingezogen, mit ordentlich zurechtgestutzten bäumchen bepflanzt - doch
schien sich das junge leben von dieser zweckwüste abzustoßen wie wassertropfen von einem
ölfilm.
die wohnung, in der reginas geschiedene mutter mit der 12jährigen schwester lebte, lag in
einer öden einförmigen vorstadtsiedlung. als wir eintreten, fällt mein blick auf die von unruhigen
träumen zerwühlte bettstatt, von der sich ihre mutter erhoben hat, um über den unvermuteten
schlafgast aufgeklärt zu werden. sie ist nicht begeistert, aber scheint an überraschungen gewöhnt.
ich rolle meinen schlafsack aus, schräg zwischen tisch und sofa. das kleine wohnzimmer ist
musterhaft gepflegt und eingerichtet, mit jener beflissenen enthaltung von aller originalität, die
das, was man „vorzeigbarkeit“ nennt, gewährleistet: den distanzierten anstand biederer
bürgerstuben.
der nächste morgen weckt mich mit billiger radiomusik und der hohlen, gesichtslosen, guten
laune der ansagerstimmen. regina umarmt mich. der frühstückstisch ist üppig. später frage ich
nach dem schicksal der entglasten wohnzimmertür. die mutter erzählt, das bügeleisen sei
hineingefolgen, als sie regina vergeblich daran zu hindern versucht habe, in irgendeiner sache, in
die sie hineingeraten war, auf eigene faust, ohne polizei, etwas zu unternehmen.
als wir auf dem morgenfrischen balkon stehen, rauchend, und über die verregnete vorstadt
hinwegschauen, spüre ich plötzlich, wie schwer mir der abschied fällt von ihnen, die auch das
chaos kennen, und mich, den fremden, so solidarisch aufgenommen haben.
regina nimmt mich mit zur u-bahn. sie wird allmählich immer reservierter gegen mich und
läßt mich merken - vermutlich aus angst, der fremde könnte anhänglich werden - daß sie mich
loswerden will. ungeduldig, aber gewissenhaft, wie aus pflicht, erklärt sie mir, wo ich hin muß,
wenn ich weiter zum meer trampen will. in der bahn vertieft sie sich in ihre papiere und wechselt
kein wort mehr mit mir. als sie aussteigt, scheint sie mich schon fast vergessen zu haben. obwohl
ich mit dem gleichen zug weiterfahren muß, folge ich ihr, sage ihr zwischen zwei waggons, daß
ich herzlich für sie empfinde. sie schaut verwundert auf, überrascht, daß die unverbindlichkeit
eines endes noch etwas herzliches hervorbringt. ich beeile mich in die nächste tür zu springen,
schon fährt der zug.
meine erneute einsamkeit ist mir, als träte ich aus dem schutz eines waldes: mit dem wind und
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dem regen spüre ich die freiheit der weite.
4 was dem chronist der ereignisse um dornröschen entging
erinnern wir uns:
verwunschen schläft die bekannte prinzessin im abgelegenen turm eines weitläufigen schlosses.
dornen haben es meterdick überwuchert. viele freier haben sich daran versucht, die dornen zu
durchdringen, aber, alle mehr oder weniger auf einen billigen fick aus, wurde es ihnen schnell zu
sauer, preiswertere angebote warben sie ab.
endlich kommt unser held. wir wissen nicht, was ihn dazu treibt, sich zentimeter um zentimeter
tiefer in die dornen zu kämpfen. vielleicht dauert ihn der prinzessin schicksal, vielleicht ist er
auch nur ein hoffnungslos weltfremder träumer; vielleicht sind die frauen seiner zeit so geistlos,
daß die menschheit aussterben würde, wären ihre hintern so ungebildet wie ihre gesichter;
vielleicht ist er auch bloß so schüchtern, daß es ihm einfacher erscheint, ein meer von dornen zu
durchqueren, als eine frau anzusprechen - jedenfalls: die geschichte erzählt nur von den mühen,
die er zu bewältigen hatte.
dabei hatte die böse fee auch der schlafenden arbeit auferlegt, um die erlösung - damit sie
künftigen prinzessinnen erschwert werde - eventuellen chronistenblicken zu entziehen. die fee
zählte darauf, daß die menschen in ihrer getriebenheit sich gar nicht vorstellen können, daß ein
schlafendes dornröschen arbeite. aber dornröschen schlief nicht nur: sie träumte, träumte
jedesmal ähnlichen traum, sobald ein freier sich näherte:
sie steht auf ihrem söller, der frostwind der einsamkeit schneidet ihr ins gesicht. aber sie duldet
es. die ungeduld, die die hoffnung ihr macht, ist größer, treibt sie immer wieder hoch auf die
zinne, ausschau zu halten. nähert ein held sich, hüpft ihr das herz vor freude. doch kaum berührt
er die erste dorne, verwandelt sich ihr der prinz in ein ekelhaftes etwas: eine art reptil,
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ausgehungert, jeden knochen kann sie zählen, die schuppen zerfetzt, bedeckt von widerlichen
warzen, in denen gewürm haust und eitrigen geschwüren, die aufplatzen. nur mit mühe schleppt
es sich voran, sein steifes mannesglied, fast so groß wie es selbst, hindert jede bewegung. es
achtet die dornen nicht, sein stinkender brodem macht sie schlabbrig und schmerzlos watscheln
seine kralligen füße darüber hinweg, noch mit dem giftig-fauligen schlamm seines sumpflochs
bedeckt. seine triefend-entzündeten, hervorquellenden augen stieren mit einer geilen blödheit, die
an den gestank ungepflegter pissoirs erinnert.
wie oft hat sie die dornen verwunschen, an deren anblick so manchen freiers mut gebrach. wie
bangt ihr jetzt, wo sie zu matsch werden. schnell stellt sie sich tot - und je länger sie den atem
verhält, umso härter werden die dornen und das tier verliert seine lust.
doch nach und nach verfliegt die letzte wärme aus der zeit, da ihre familie noch munter war, und
die dornröschen so lange befähigte, den eisigen wind ihrer einsamkeit auszuhalten. die
einsamkeit fängt an, weher und weher ins herz zu schneiden, so daß ihr schließlich selbst der
anblick des tieres ins zwielicht gerät: sein atem stinkt, aber er ist auch warm. das läßt in ihr die
illusion keimen, sich das tier zu einem artigen gespielen zu zähmen (vor sein glied kann sie ja ein
hübsches sauberes tuch hängen, und im geiste erwägt sie schon welches). doch damit gerät sie
nur noch tiefer in zwiespalt: die angst hindert, der illusion zu vertrauen, die illusion verspricht,
die angst zu zerstreuen.
wenn dornröschen nicht den mut aufbringt, die ahnung, daß sich das tier an ihr verwandelt,
durchzuhalten, durch zwiespalt und unsicherheit - dann freut sich die böse fee.
5 natascha (wie mann dornröschen nicht wach kriegt)
als ich heute einer frau in der s-bahn sagte, daß ich gerne mit ihr einen kaffee trinken gehen
würde, kam ich mir wieder so schmierig vor mit meinem souveränen gehabe. wieder schien es
nur die alternative zu geben zwischen verkniffenem unterlassen und einer merkwürdigen
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entfremdung, die einen leicht widerlichen geschmack hinterließ. ähnliches widerfuhr mir vor
einigen tagen mit natascha:
beim abendessen fragte sie, ob ich massieren könne, das erste training nach wochen habe ihre
beine schmerzhaft angespannt. die beine massieren! war das nun eine erotische aufforderung oder
sollte das wirklich nur bedeuten, ihr diesen gefallen zu tun? ich verneinte redlich, doch schon im
gleichen augenblick tat es mir leid, denn genau darauf hatte ich ja schon einige tage gehofft, daß
sich eine gelegenheit zu unverfänglichem körperkontakt ergeben würde, der die möglichkeit
innewohne, erotisch ausblühen zu können. aber nur um mit ihr "in berührung" zu kommen, so zu
tun, als ob ich beine massieren könne, wäre mir charakterlos vorgekommen - obwohl sie
vielleicht genau das im sinn hatte: daß ich mit einer solchen kleinen unaufrichtigkeit das spiel mit
unentscheidbarkeiten, hinter denen jeder in deckung und unverbindlichkeit bleiben kann,
mitmachte. in der hoffnung, daß sie sich auch auf anderes einlassen könne, sagte ich ihr
wahrheitsgemäß, daß ich mich allerdings gut darauf verstehe, rücken zu massieren - sie reagierte
darauf jedoch nicht. mir wurde schmerzlich bewußt, daß sie meine verneinung ihrer frage auch
als zurückweisung verstanden haben könnte, weil es ihr vielleicht gar nicht darum zu tun
gewesen war, herauszufinden, ob ich sie gekonnt berühren könne, sondern nur, ob ich sie
überhaupt berühren wolle. - wir aßen erst einmal zusammen zu abend und plauderten.
die plauderei überdauerte unser mahl und hatte schließlich die grenze zur immer peinlicher
werdenden ersatzhandlung überschritten. natürlich würde diese grenzüberschreitung auf mich
zurückfallen, da es traditionellerweise den männern zukommt, eine erotikschwangere situation
durch initiative zu vereindeutigen. weil ich ihr so gerne nah sein wollte, wagte ich schließlich, die
uneindeutigkeit zu verringern und meine deckung zu gefährden, indem ich ihr anbot, daß ich wenn sie wolle - ja mal ausprobieren könne, ob meine massagekünste auch müden beinen einen
vorteil verschaffen könnten. schaute aus diesem entgegenkommen, nachdem sie auf mein erstes
anerbieten, ihr den rücken zu massieren nicht zurückkam, nicht allzu plump mein wunsch heraus,
sie zu berühren? was ich fürchtete war: daß ich damit tolpatschig und aufdringlich wirken würde,
und ihr so die nötige sicherheit fehlen könnte, um sich auf mich einzulassen, daß ich mir also die
chance verpatzen würde, von der süße ihrer nähe kosten zu können. zu meiner erleichterung
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zeigte sie sich jedoch nicht im geringsten abgeneigt, die frage der anwendbarkeit meiner
massagekünste auf müde frauenbeine an ihr zu untersuchen.
ich massierte zuerst ihre füße und waden, und war schon ratlos, als ich ans ende kam, weil ich
noch nicht aufhören wollte, da sagte sie plötzlich, sie habe auch starke Rückenschmerzen durch
das training, weil sie es nicht mehr gewohnt sei. das ließ ich mir nicht zweimal sagen, und
begann mit meiner japanischen druckmassage, einer massageart, bei der meine handflächen über
den rücken gleiten. zwar konnten sich meine hände gar nicht flächig genug machen, doch achtete
ich sorgsam darauf, nur soviel über die rein instrumentellen berührungen hinauszugehen, wie es
die grauzone zur offensichtlichen liebkosung nicht überschritt. die situation spitzte sich weiter zu,
als sie nach beendigung der rückenmassage ausdrücklich darauf bestand, daß ich nun noch ihre
oberschenkel massiere. ich tat wie mir geheißen, doch vermied ich dabei, meine hände weiter als
bis kurz über die mitte ihrer oberschenkel zu führen, aus sorge, die schicklichkeit zu verletzen
und damit als jemand dazustehen, der für gleichermaßen anmaßend, täppisch und charakterlich
schäbbig gehalten werden könnte, weil er hilfsbereitschaft nur vortäusche, um sich einen vorteil
zu erschleichen. ich gefiel mir jedoch auch darin, einem altertümlichen gentleman-ethos genug zu
tun, und ihr sowohl wie mir selbst damit zu zeigen, daß ich meine impulse im griff habe und
distanz zu wahren verstehe. andererseits war mir klar, daß ich es nicht bei dieser distanz belassen
wollte, nur wußte ich nicht recht, auf was ich wartete, wodurch sich eine zum verlassen der
distanz geeignete situation auszuzeichnen hätte. sie machte es mir noch schwerer, als ich mit
meiner massage geendet hatte, denn sie wickelte sich ganz in ihre decke ein und schien
einschlummern zu wollen. ich ärgerte mich nun, daß ich nicht die rückenmassage genutzt hatte,
um einen fließenden übergang zur reinen liebkosung zu finden. aber ich wollte mich noch nicht
entfernen. es wäre gewesen, wie ein warmes gemütliches zimmer zu verlassen, in die kälte eines
wintertages. so entstand eine pause, die mir peinlich war. um die peinlichkeit zu überspielen und
etwas zeit zu gewinnen, aber auch um gleichzeitig ihr initiative in die hand zu spielen, stellte ich
die eingetretene situation als gemeinsames problem dar: dadurch, daß sie mir oft bedeutet hatte,
wie angenehm ihr die massage sei, durfte ich so tun, als ob ich davon auszugehen hätte, daß sie es
schade fände, wenn diese unverbindliche annehmlichkeit nun ihr definitives ende gefunden hätte.
ich sagte daher mit einer aufgesetzen coolheit: "tja, jetzt fällt mir nichts mehr ein". mir war
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freilich vor mir selbst nicht ganz wohl damit, so unbeholfen zu sein, aber vor allem: mich so
verlogen zu verstellen. das ist einer der punkte, aus denen diese schmierige onkelhaftigkeit
entspringt. warum fiel mir nicht ein, einfach zu sagen, was in mir vorging? es war die angst, eine
chance zu verspielen, die mich gefangen hielt, die angst von menschen, die sich nicht trauen, sich
genügend chancen zu verschaffen, um nicht mit den wenigen, die sich von selbst ergeben, geizen
zu müssen.
die initiative, die ich mir von ihr erhofft hatte, kam nicht. doch erlaubte mir der kleine
zeitgewinn, in ruhe einen entschluß zu fassen. ich tat so, als fiele mir doch noch etwas ein –
etwas, das ich freilich schon während der massagen mehrmals erwogen hatte. ich setzte mich
nach ihrer zustimmung an ihr kopfende und massierte ihren nacken. als ich auch damit ans ende
gekommen war, und mir nun wirklich nichts mehr einfiel, riskierte ich es, nicht aufzuhören, ihr
über kopf und haar zu streichen - eine Handbewegung, die sich unverfänglich aus der
nackenmassage ergeben hatte. ich erwartete ihre befremdung, aber sie schien es genauso zu
genießen wie alles vorherige. so wurde ich mutiger und streichelte ihre arme - und auch darauf
zeigte sie keine ablehnende reaktion. ich kam nun etwas unter druck, weil mir zunehmend schien,
als verlange mein verändertes verhalten eine erklärung - nämlich daß ich sie möge. und so stark
die spannung auch war, die sich vor dieser vereindeutigung aufbaute: es war süß, die worte über
die lippen zu schieben. natürlich erhoffte ich mir von der vereindeutigung auch die wirkung, daß
natascha irgendetwas tun oder sagen würde, was mir anzeigte, daß sie meine zuneigung erwidere,
und was schließlich dazu führen würde, daß wir richtig zu schmusen begännen. doch nichts
dergleichen geschah. sie lag unverändert am boden, schweigend, völlig passiv, und ließ sich
meine liebkosungen gefallen. aber da sie mein bekenntnis auch nicht ablehnend kommentierte,
fühlte ich mich berechtigt, mir mehr herauszunehmen: von ihren schultern streichelte ich mich
über ihr brustbein zwischen ihren brüsten hindurch zur taille und von da ihre seiten entlang
wieder hinauf bis zu den achseln. nach einer weile, kurz bevor meine hände ihre stillung auf ihrer
brust gesucht hätten, sagte sie plötzlich, jetzt wär es besser, schnell aufzuhören, bevor es zuviel
würde, erhob sich zügig und fing an, belanglos herumzulabern. sie hielt das gespräch dabei von
allem fern, was dazu geeignet gewesen wäre, noch einmal auf das einzugehen, was wir gerade
zusammen erlebt hatten, so daß ich die äußerung meines wunsches, sie zum abschluß umarmen
zu wollen, nur deplazieren konnte. ich wagte es dennoch. nein, erwiderte sie, das wolle sie lieber
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nicht, und auf meine nachfrage erwähnte sie ängstlichkeit, und signalisierte, daß sie nicht bereit
sei, weiter darüber zu reden - was ich ihr anbot - ob und wie es möglich sei ihre beunruhigung
abzubauen, nein, es ginge ihr zu schnell, meinte sie. aber tags darauf und seitdem verbringt sie
die nächte mit rüdiger.
ich kam mir lächerlich vor in der feigheit meiner vorsicht und der gelähmtheit meiner
aufrichtigkeit. meine zurückhaltung aus angst täppisch zu sein, war selbst täppisch.
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Eine kleine Evaluationsgeschichte
Nach dem Examen wollte ich nichts mehr von Hochschulen wissen und fuhr nach Hiddensee, zur
Erholung.
Ich lag am Strand, auf dem Gipfel einer kleinen Düne, blinzelte in die Wolken und gab mich
genüßlich dem dösigen Nichts in meinem Kopfe hin, als mir plötzlich Sand auf die Haut rieselte.
Seine Quelle war die Hand eines blonden, brettbauchig-mageren Mädchens vom Typ der
schnippischen Prinzessinnen, die immer alles besser wissen.
„Das ist mein Platz, du liegst auf meinem Platz, ich habe da gesessen! Ich war nur kurz weg,
um ein Eis zu holen“ sagte sie anklagend.
„Oh, Entschuldigung, das wußte ich nicht“ antwortete ich höflich, und stand auf, obwohl ich
seit mindestens einer halben Stunde dort gelegen hatte. Dann machte ich einen Fehler: ich streifte
mein Tieschört über, weil mir plötzlich kühl geworden war. Auf dem Schört prangte das Logo
meiner Hochschule. Das Mädchen zeigte mit dem Finger darauf und lachte verächtlich:
„Gehörst du etwa zu denen, die noch an einer stinknormalen Hochschule studieren?“
Auf diese Weise ließ ich mich von ihr in ein Gespräch verwickeln, das nur darauf angelegt war,
mich ins Hintertreffen zu bringen. Auf meine törichte Rückfrage, wo sie denn studiere, hatte sie
nur gewartet. Mit gespielter Langeweile erzählte sie, während sie ihren Nagellack kontrollierte,
daß sie von der „Neuen Akademie“ komme. - Das ist jene private Elite-Hochschule in
Neukleindenkersdorf, die sich schon aus rein ökonomischen Gründen für etwas Besonderes
ausgeben muß. Dort ist natürlich alles ganz anders, was sonst!
„Warst du schon mal an einer „stinknormalen“ Hochschule, wie du es nennst?“, fragte ich in
taktischer Vorwärtsverteidigung. „Nein“ mußte sie zugeben, und ich setzte nach:
„Woher willst du dann wissen, was dort abläuft?“
„Da gibt es doch einschlägige Evaluationsergebnisse“, antwortete sie rechthaberisch.
„Ich weiß ja nicht, was du da gelesen hast, jedenfalls meine Hochschule ist nicht schlecht“,
entgegnete ich mit betonter Lässigkeit und machte Anstalten, zu gehen, so als habe ich und meine
Hochschule es nicht nötig, darüber noch weitere Worte zu verlieren.
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„Na ja, wer sich damit zufrieden geben will“ stichelte sie mir hinterher.
„Hör mal zu, du hast doch gar keine Ahnung, womit ich mich da zufrieden gebe, das sind doch
alles bloß Vorurteile“, fuhr ich sie an.
„Na, dann erzähl mir doch mal was von euch!“ sagte sie spöttisch und siegessicher.
Jetzt hatte ich sie genau da, wo ich sie haben wollte.
„Also an unserer Hochschule stimmt das Niveau. Das, was man im Unterricht erlebt, kann man
getrost als Maßstab für die wissenschaftliche Abschlußarbeit nehmen. Es gibt da keine tückische
Diskrepanz. - Und die Lehrenden haben ein reflektiertes Verständnis davon, welches Wissen man
sich anlesen und welches man nur im Unterricht bekommen kann. Deshalb bekommen die
Studenten nicht das Gefühl, daß es sich bei Seminarsitzungen bloß um die weitaus weniger
effektive Methode handelt, sich Bücherwissen anzueignen.“
„Das ist doch alles selbstverständlich, was du da sagst“, unterbrach sie mich, „Wenn du nichts
Besseres zu erzählen hast, dann laß es lieber.“
„Warte nur“, dachte ich im Stillen, „ich krieg dich schon“ und fuhr fort, ohne auf ihren
Kommentar einzugehen:
„Bei uns reicht es nicht, nur zu vermeiden, was die Professoren blöd finden. Keine Arbeit
bekommt ein gutes Prädikat, wenn sie frei von Defiziten ist aber keinerlei Potentiale aufweist. Ja,
unsere Lehrenden brennen darauf, mit den Potentialen der Studenten zu arbeiten, statt, wie früher,
ständig zu unterstellen, die Studenten seien theoriefeindlich, lese- und denkfaul und würden
modische Allgemeinplätze
reflexionsunwillig
für
wahr
halten,
weil
sie
so
schöne
Gewißheitserlebnisse erzeugen.“
„Naja“ unterbrach sie mich wieder, „klingt ja nicht schlecht, aber auch das sind heute ja wohl
eher Selbstverständlichkeiten. Das sagt noch nichts darüber aus, wie fit die Leute bei euch
werden. Bei uns gibt es da die „Neue Lehre“, sie ermöglicht ein denkbar hohes Niveau für den
Großteil der Studenten, nicht nur für die Engagiertesten und Begabtesten. Und die „Neue Lehre“
könnt ihr noch gar nicht haben, die wird nämlich grade erst bei uns entwickelt! Bei uns wird nicht
mehr versucht, im Schnellverfahren die wichtigsten Pointen der maßgeblichen Schulen zu
vermitteln, wobei nur Halbwissen und Mißverständnis entsteht. - Mach´ doch mal den Test, und
frage bei euch in fortgeschrittenen Semestern, was z.B. „projektive Identifizierung“ bedeutet. Ich
wette, du wirst die abenteuerlichsten und blödsinnigsten Antworten erhalten. Und die Wenigen,
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die den theoretischen Hintergrund kennen, kriegen ihn nur mit Mühe und Not zusammen, so daß
nur etwas ziemlich Triviales davon übrigbleibt, und das auch noch ziemlich gestammelt. - Bei
uns hat man verstanden, daß das Unsinnigste das „Irgendwie-Verstehen“ ist, und daß es sich nicht
lohnt, bei der Verständnisentwicklung Zeit zu sparen.“
„Was ist denn daran neu“, provozierte ich sie, „bei uns hat man schon lange erkannt, daß die
Unmotiviertheit der Studenten zu theoretischem Arbeiten völlig „gesund“ ist: nämlich ein
Indikator für schlechte Vermittlung, für das Unvermögen der Lehrenden, die Studenten zu
inspirieren. Wenn man Theorien und Begriffe verständlich macht aus ihrem Ursprung, aus dem
Erfahrungshintergrund ihrer Urheber und den Fragen, die sich ihnen gestellt haben, dann können
die Studenten die Theorien nicht nur leichter verstehen, sondern auch viel reflektierter, und
darüberhinaus bekommen sie viel mehr Interesse an der Theorie, weil sie selbst nacherleben
können, vor welchen Problemen die großen Theoretiker standen und wie sie sie zu lösen versucht
haben. - Aber wir haben noch andere didaktische Künste kultiviert.“
„So, welche denn?“ fragte sie spitz.
„Statt öde und entnervend auf irgendwelchen theoretischen Begrifflichkeiten herumzukauen, die
dann doch vage oder trivial bleiben weil die Lehrer es nicht vermögen, sie mit der Praxis in
Verbindung zu bringen, gibt es bei uns eine Kultur theoriebezogener Übungen, damit die
Studenten die Theorien bei der Arbeit erleben können, in Anwendungszusammenhängen. Dem
Ersinnen solcher Übungsmöglichkeiten oder der Darstellung der Theorien durch reflektierten
Bezug zur eigenen Praxis: dem gilt das ganze Engagement unserer Lehrenden.“
„So“ prustete sie und stemmte die Arme gegen die Hüften, „und das hältst du also nicht für alte
Hüte, wie? Aber unsere „Neue Lehre“ geht ja noch viel weiter, wenn du mich hättest ausreden
lassen, dann hätte ich das im Zusammenhang darstellen können.“
„Bitte!“
„Bei uns wird ein ganz neues Verständnis vom akademischen Schreiben erarbeitet. Wir haben
ein reflektiertes Verständnis davon, was es heißt: zur Sache zu schreiben im Unterschied zu: zu
Texten über die Sache zu schreiben. Unsere Texte werden nicht mehr aus Literaturparaphrasen
zusammengestoppelt. Bei uns gibt es das nicht mehr, daß die akademische Schreibweise sich
unter der Hand so transformiert, wie sinnvolle Ordnungs- und Hygieneregeln, wenn sie bei
Mustersöhnchen zu selbstgerechten Ritualen werden, mit denen sie sich kraft des Symbolgehalts
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abschirmen gegen „unordentliche“ und „unsaubere“ Lebenswelten. - Jeder hat Angst, es könne
etwas von seiner Naivität, von seinem Unverständnis oder gar von seiner Einfallslosigkeit
durchscheinen, deshalb traut sich kaum noch jemand, selber etwas zur Sache zu schreiben.
Stattdessen wird wiedergekäut, was schon tausendmal wiedergekäut wurde. - Sehr sinnvoll und
kreativ! - Ich fühle mich hier immer an ein Bonmot B.Brechts erinnert, paß mal auf, ich lese es
Dir vor:
„Der Paß ist der edelste Teil von einem Menschen. Er kommt auch nicht auf so einfache Weise
zustand wie ein Mensch. Ein Mensch kann überall zustandkommen, auf die leichtsinnigste Art
und ohne gescheiten Grund, aber ein Paß niemals. Dafür wird er auch anerkannt, wenn er gut
ist, während ein Mensch noch so gut sein kann und doch nicht anerkannt wird.“
Man setze einfach „Gedanke“ anstelle von „Mensch“, und „Literaturnachweis“ anstelle von
„Paß“ und man sieht, wie im schlechten Akademismus der „context of justifikation“ sich selbst
das Wasser abgräbt durch seine Berührungsängste mit dem „context of discovery“.“
„Glaubst Du wirklich, das hätte man nur bei euch begriffen? Bei uns muß niemand mehr
fürchten, sich Ärger und Schimpf einzuhandeln, wenn er versucht, selbständig einen Gedanken
zu entwickeln. Auch wenn das mal verunglückt wird es doch ungleich mehr geschätzt als diese
scholastische Kompiliererei. Bei uns gibt es keine mehr oder weniger subtile Pädagogik des
Austreibens mehr mit Kommentaren wie: „alles bloß dahergequatscht“, sondern die Professoren
kennen ihre eigenen Unterstellungsneigungen und verwechseln die Bemühungen Ihrer Studenten
um Selbständigkeit nicht mit selbstherrlichem Entwicklungsunwillen. Das kommt daher, weil es
bei uns keine Dozenten gibt, deren Lehrtätigkeit nicht eine Zeit lang supervidiert wurde.“
„Weißt du was?“, sagte sie und wurde immer röter vor Wut, weil ihr nichts mehr einfiel, „ich
glaube dir kein Wort, kein einziges Wort! Und jetzt geh bitte, ich will mich sonnen!“ - Auf der kleinen Insel sahen wir uns unvermeidlicherweise noch einige Male, aber sie
behelligte mich nicht mehr.
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