Erinnerungen von Kardinal König an Kindheit und Jugendzeit Wenn der Kardinal von seiner armen, aber trotzdem frohen Kindheit sprach, vergaß er nie zu betonen: Die Lebenskraft, die er sich bis in ein unglaublich hohes Alter hinein erhalten konnte, holte er sich nicht zuletzt aus der Verbundenheit mit der Heimat, die er nie vergessen hat. 1995, anlässlich seines erwähnten neunzigsten Geburtstages erinnerte er sich in einer Predigt während eines Gottesdienstes in der alten Andreaskirche, zwischen Kirchberg und Rabenstein gelegen, an seine Wurzeln: "...Es ist lange her, daß meine Mutter mich an ihrer Hand hier, der Pielach entlang, in den Kindergarten von Kirchberg geführt hat, mich am ersten Schultag persönlich in die Obhut der Lehrerin gab. Damals öffnete sich für mich eine neue Welt. Und so ging ich, zunächst wieder an der Hand meiner Mutter, am Sonntag in die Kirche. Und hier, in der Pfarrkirche von Kirchberg, mit ihrem mächtigen Turm, tat sich langsam wieder eine andere Welt auf. Meine erste Religionslehrerin war meine Mutter; sie erklärte mir, was ich zunächst noch nicht ganz verstand; daß wir alle unterwegs sind zum Vater im Himmel. Und wenn dann später in der Adventszeit geheimnisvolle Erwartungen mich umgaben, eingewurzelt im Brauchtum und im Glauben der Heimat; wenn dann am Heiligen Abend mich später die Eltern mitnahmen die Christmette, dann staunte ich über die vielen Lichtlein, die vor Mitternacht aus den Bergen ringsum nach unten strebten, um zur Kirche zu kommen. Damals begann ich zu ahnen, daß mein Elternhaus und meine Heimat eingebettet ist in eine größere Welt, mit neuen Perspektiven und Möglichkeiten, die ich nur erahnen, aber nicht verstehen konnte…“ Und wenn auch im Verlauf seines langen Lebens seine Heimat die ganze Welt wurde, hat er seine wirkliche "Heimat" nie verleugnet oder gar vergessen. In zahlreichen Aufsätzen und Ansprachen hat er immer wieder das Pielachtal erwähnt, wo seine Wurzeln waren und die Heimat und die Menschen dort auch immer besucht. Die Erfahrung einer vergleichsweise armen, aber – heute würden wir sagen – intakten Familie in einer überschaubaren Dorf- und Talgemeinschaft schenket ihm Lebenskraft für volle 98 Jahre. Als ältester Sohn auf einem Bauerhof wurde er früh angeleitet, seinen Möglichkeiten entsprechend, mitzuhelfen. So waren seine frühen Kindheitserinnerungen verbunden mit Wiesen, Blumen und Wald, mit Hasen und Rehen. Der Großvater väterlicherseits war damals so etwas wie ein Tierarzt und sein großer Medikamentenschrank erweckte die Neugier des Buben. Ein bleibender Eindruck für den Buben muß offenbar auch der Tod des Großvaters und die anschließende Aufbahrung in demselben Zimmer, wo alle Kinder der Familie, auch er selbst, geboren wurden, gewesen sein. In diesem feierlichen Zimmer wurde geboren und gestorben, so war das damals auf dem Land. Leben und Tod, Tod und Leben lagen nahe beisammen, das wurde ihm schon damals umrisshaft bewusst. Oft erzählte er: „Zu den Erinnerungen meiner frühen Kindheit gehört es, am Bett meines sterbenden Großvaters gestanden oder gekniet zu haben, um mit dem Kranken im Gebet, so weit als möglich, das letzte Stück Weg in menschlicher Geborgenheit und Fürsorge zu gehen. Der Großvater lag, von Blumen umgeben, auf seinem Bett und alles war so still und ruhig um ihn. Die Mutter erklärte uns kleinen Geschwistern, daß der liebe Gott ihn heim geholt habe. Das war alles für uns etwas ganz Natürliches.“ Und später ergänzte er: „Mit Kinderaugen konnte ich erkennen, wie 1 dieses Leben am Ende in Ruhe und Frieden zum Schöpfer heimkehrte. Ich ahnte damals bereits, daß die letzte Wegstrecke des Menschen eine besondere Bedeutung hat.“ Sein unermüdlicher Einsatz für ein menschenwürdiges Sterben bis knapp vor seinen eigenen Heimgang stammt wohl auch aus dieser Kindheitserfahrung. Zu den Erinnerungen seiner Kindheit gehörte auch jene an seine erste Zigarre, die er in der zweiten, dritten Klasse geraucht hatte. Er erstand im Kaufhaus Stolz in Kirchberg eine Zigarre und Zündhölzer, erzählte dem neugierigen Verkäufer, wozu er das denn brauche, irgendeinen Schmäh und zündete erwartungsvoll auf einem schneebedeckten Seitenweg die Zigarre an. Später erinnert er sich: „Plötzlich bekam ich besondere Gefühle im Kopf und um die mittlere Körpergegend. Da bekam ich es mit der Angst zu tun, warf Zündhölzer und Zigarre rechts und links in den Schnee und lief nach Hause. Weiter kann ich mich nicht erinnern, aber dieses Erlebnis scheint bewirkt zu haben, daß ich bis auf kleine Ausnahmen entschiedener Nichtraucher geblieben bin.“ Und schmunzelnd – gleichsam als praktische Nutzanwendung – fügte er hinzu: „Verbieten nutzt gar nichts, wenn ich einen Sohn gehabt hätte, dann hätte ich zu ihm gesagt: Komm, du willst rauchen, da hast du eine Zigarre, probiers doch einmal…“ Die Schule besuchte er wegen der räumlichen Nähe in Kirchberg. Sein ehemaliger Schulweg heißt heute „Franz König-Weg“. In der Kirchberger Pfarrkirche empfing er am 11. April 1915 das Sakrament der hl. Kommunion. Das Interesse für alles, was vor ihm lag, hat ihn von klein auf begleitet. Nach seiner Jugend befragt, erzählte der Kardinal gerne immer wieder von der unerklärlichen Neugier des kleinen Buben, warum es Menschen gibt, die etwas anderes glauben, als die Mutter ihm beigebracht hatte und warum es Menschen gibt, die eine andere Sprache sprechen. Auf die Frage, wo ihm denn im Pielachtal Menschen mit einer anderen Religion, einer anderen Sprache begegnet seien, musste er später selber nachdenken und wusste keine rechte Antwort. Es war einfach in ihm drinnen. Er erzählte dann wohl auch von Konservendosen mit fremder Aufschrift und irgendwelchen Papieren, die sich im Verlauf des ersten Weltkrieges hierher verirrt hatten. Und nicht nur seinem Lehrer Hahn wird wohl unvergessen geblieben sein die Antwort des Volksschülers in Kirchberg an der Pielach - der Kardinal hat es oft selber schmunzelnd erzählt - auf die Frage nach seinem Lieblingsgegenstand im Rahmen eines Schulaufsatzes: „Mich interessieren alle Gegenstände sehr, weil ich sehr viel wissen möchte.“ Franz durfte seinen Aufsatz der ganzen Klasse vorlesen. „Später habe ich darüber nachgedacht, warum er das gemacht hat“ erinnert sich der Kardinal dann und „mir ist klar geworden, daß einem Kind die Bedeutung einer eigenen Aussage durch andere erst bewusst gemacht werden kann. Dieser Lehrer Hahn hat das getan. Als ich später schon Bischofkoadiutor gewesen bin, bin ich zu ihm gefahren und habe mich bei ihm dafür bedankt.“ Dieser Lehrer ebnete dem Buben, dessen Zeugnisse immer „lauter Einser“ aufwiesen, dann auch den Weg nach Melk ins Stiftsgymnasium. Und sein Wissensdurst sollte ihn dann aus der Enge der niederösterreichischen Heimat über Melk bis nach Rom führen. Die Ablösung von der Heimat ging nicht ohne Wehmut vor sich. Der sensible junge Bursch hatte Flügelhorn blasen gelernt und brachte es so weit, daß er einfache Volkslieder spielen konnte. Eine wehmütige Erinnerung aus später Zeit läßt uns einen Blick tun in seine Seele, damals, als die Ablösung von der Heimat begonnen 2 hatte: „An einem Herbstabend – ich war mit meinem Musikinstrument einen kleinen Abhang hinaufgewandert und betrachtete das vor meinen Augen in das Silberlicht des Mondes gebettete Pielachtal – setzte ich mich irgendwo nieder und spielte einige meiner Heimatlieder, die sich in meiner Erinnerung später immer wieder mit dem herbstlichen Mondlicht, mit dem ruhigen Tal der Pielach und den heimatlichen Berghöhen verbanden. Dies alles erzeugte in mit oft ein wenig Heimweh und ein Verlangen, mit dieser Heimat ganz besonders verbunden bleiben zu können. Am Fuße des Abhanges stand mein Elternhaus, in dunklen Umrissen für mich sichtbar. Ich ließ in Gedanken nochmals die Jahre vorüberziehen, die ich in diesem Haus verbracht hatte, dann aber zog ich in die Fremde und verlor dadurch den engen Kontakt mit dieser alten Geburts- und Heimatstätte. Der Drang in die Fremde, andere Menschen und Länder kennen zu lernen, war in mir immer stärker geworden.“ Erstveröffentlicht in: Franz Kardinal König, Woher komme ich? Wohin gehe ich? Anregungen für ein angstfreies Leben / weitergegeben von Annemarie Fenzl und Wolfgang Moser. – Wien : Styria, 2009. Neuauflage in der Reihe topos taschenbücher: Franz König, Woher komme ich? Wohin gehe ich? Anregungen für einen Weg der Hoffnung. Kevelaer : Verl.-Gemeinschaft Topos Plus, 2014. 3
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