PDF-Datei2 - Universitätsklinikum Düsseldorf

Zusammenhänge zwischen
Mundlippen und Stimmlippen
(„the vibrating siblings“)
Selbständiger Funktionsbereich
für Phoniatrie und Pädaudiologie
(Leiter: Univ.-Prof. Dr. med. W. Angerstein)
Universitätsklinikum der
Heinrich-Heine-Universität
Moorenstr. 5 / Geb. 13.77
40225 Düsseldorf
E-Mail: [email protected]
www.uniklinik-duesseldorf.de/unternehmen/kliniken/phoniatrie-und-paedaudiologie
Analogien zwischen
Mund- und Stimmlippen I
vergleichbare / ähnliche
-
anatomisch-morphologische Strukturen / Bauprinzipien
(schwingende muskuläre Unterlage und darauf schwingende Schleimhaut
/ mucosal wave → body-cover-Modell)
-
H.W. Henderson 1942: „Besides the voice itself, brass wind instruments
are the only ones which depend for their tone upon the vibration of part of
the human body.“
-
physikalische Strömungsverhältnisse / aerodynamische Prinzipien zur
Tonerzeugung (exspiratorische Luftbewegungen, Bernoulli-Sog)
Analogien zwischen
Mund- und Stimmlippen II
vergleichbare / ähnliche
-
bildgebende Untersuchungsmethoden zur
Funktionsdiagnostik der Schwingungen
(Stroboskopie, Kymographie, High-SpeedKinematographie)
-
Belastungen durch Überdruck und
Überbeanspruchung (Overuse)
-
Erkrankungen (laryngeale Dystonie =
Spasmodische Dysphonie = vokale Dystonie;
Ansatzdystonie = oro-fazio-mandibulolinguale Dystonie)
an beiden Enden
des Ansatzrohres/
Vokaltraktes
fokale Dystonie (z.B. der Mundlippen):
• Erkrankung der Bewegungssteuerung und
-koordination in einer bestimmten Körperregion
(z.B. im Mund- und Lippen-Bereich)
• Verlust der feinmotorischen Kontrolle
für komplexe Bewegungsabläufe (z.B. Mundund Lippen-Motorik beim Spielen von
Blasinstrumenten), die jahrelang geübt wurden
und ein Höchstmaß an zeitlicher sowie räumlicher
Präzision erfordern (Altenmüller u. Jabusch
2008)
Erstbeschreibungen der Ansatzdystonie
bei Blechbläsern
• Julius Flesch 1925: Trompetenspieler, bei dem es zu
„einer Krampfempfindung im Orbicularis oris kam.
Der Patient war dann unfähig einen Ton zu blasen.“
• Kurt Singer 1926: „Bei einem Trompeter glitt die
Unterlippe im Ansatzstück 'wie gelähmt' ab.
Töne bestimmter Höhen konnten nicht geblasen
werden, bei gesteigerter Anspannung der Lippenmuskeln lief Speichel aus dem Mund. Und dabei
bestand kein Schmerz, nur das Gefühl eines schweren
'Klumpens' im Mund.“
Ansatzdystonie, Waldhornist, 52 Jahre
• fokale Dystonie der Mundlippen
(Ansatzdystonie)
• vokale Dysphonie der Stimmlippen
(Spasmodische Dysphonie)
 Manifestation der gleichen Krankheit
an beiden Enden des Ansatzrohres /
Vokaltraktes!
 zwei Facetten ein und der gleichen
Erkrankung!
Quelle
Mundlippen
Mund-Enge
Oropharynx-Weite
versch.
Filter
Zungengrund-Enge
Hypopharynx-Weite
Quelle
Stimmlippen
Resonanzräume des Vokaltraktes / Ansatzrohres
(Quelle-Filter-Prinzip)
modifiziert nach: C. G. M. Fant: Acoustic Theory of Speech Production (1960)
antagonistische Funktionen
von Stimm- und Mundlippen
bei der Tonproduktion
 Beim Singen sind die Stimmlippen
geschlossen und die Mundlippen geöffnet.
Der Ton entsteht in der Glottis.
 Beim Blechblasen sind die Mundlippen
geschlossen und die Stimmlippen geöffnet.
Der Ton entsteht in der Mundöffnung.
Elektroglottographie (EGG)-Studien (Dejonckere et al. 1981, 1983)
legten bereits vor gut 30 Jahren die Vermutung nahe, dass die
Stimmlippen während des Blechblasens relativ eng (z.B. in
Paramedianposition) zusammenstehen, jedoch nicht aneinander
liegen. Die Glottis ist somit zwar deutlich enger als bei der
Ruheatmung, jedoch nicht geschlossen wie beim Beginn der
Phonation. Die gleichen EGG-Studien konnten tonlose,
periodische, unbewusste Oszillationen der Stimmlippen während
des Blechblasens zeigen.
Analogien zwischen
Mund- und Stimmlippen III
Sowohl die Mund- als auch die
Stimmlippen lassen sich
mit Fillern augmentieren
(„aufspritzen“ /„unterspritzen“).
funktionelle Untersuchung der
Mund- und Stimmlippen
mit Lupenendoskopen
• Stroboskopie
• Schwarz-Weiß-Streifen-Kymographie
(„High-Speed Line Scanning“)
methodische Anforderungen an das
Untersuchungssystem zur Videodokumentation
von Mundlippen-Schwingungen
während des Spielens auf Blechblasinstrumenten
1. Bewegungsunschärfen bzw. – artefakte vermeiden
=> feste / fixe Ankopplung des Blechblasinstrumentes an die
Lupenoptik mit Kamera
2. Musiker sollen möglichst „natürlich“ bzw. möglichst
physiologisch auf dem Blechblasinstrument spielen
=> kein gefenstertes Mundstück mit Luftverbrauch, kein
seitliches Ansetzen des Instrumentes am Mundstück
Untersuchungssituation
Methode A
Visualizer
(angebohrtes Mundstück,
Lippenring zum Buzzen)
Methode A
Methode B
0°-Optik mit Posaunenmundstück
Methode B
70°
M
e
t
h
o
d
e
C
Methode C
(Optik mit Führungsstab und mittels
Rändelmutter aufgeschraubtem Mundstück)
Öffnungs- und Schließungsverhalten
der schwingenden Mund- und
Stimmlippen sind analog hinsichtlich
Phaseneinteilung und Darstellung der
Schwingungszyklen.
Phasendarstellung zweier Lippenschwingungszyklen (360°) mittels neun einzelner
Frames (Abstand aufeinanderfolgender Einzelbilder jeweils 45°):
orange = Verschlußphase, gelb = Öffnungsphase, blau = Schließungsphase
(Öffnungs- und Schließungsphase zusammen ergeben die Offenphase).
Im Vergleich der beiden Bläser fällt die unterschiedliche Relation von Öffnungs- und
Schließungsphase auf, wobei die Öffnungsphase jeweils tendenziell kürzer ist als die
Schließungsphase.
Methode C
Crescendo –
Decrescendo,
Horn
Methode C
Tonleiter,
Trompete
Methode C
funktionelle
Schleimhautausziehungen
(„Nippel“) entstehen durch
den Bernoulli-Sog an
Stimmlippen und
Mundlippen
M
e
t
h
o
d
e
A
Einzeltöne, Posaune
funktionelle
Schleimhautausziehung
(Oberlippe median)
Methode B
Randkantenverschiebungen
(mucosal waves =
Schleimhautwellen)
Schleimhautschwingungen
der Oberlippe
Methode C
Methode C
Methode C
Methode C
Kymographie
(sämtliche Aufnahmen
mit Methode C)
Kymographie
der MundlippenSchwingungen:
Einschwing-, Vollschwing-,
Ausschwingphase
Tonleiter,
Horn
Arban – Übung,
Posaune
ausgeprägte Schwingungsasymmetrien der
Stimm
Diplophonie
lippen führen zu
Mund
„split tones“
Subcontra – Ges,
Tuba
(23 Hz, daher kaum noch hörbar;
etwa 1 Schwingung pro Bild)
Vuvuzela
(Stroboskopie,
Kymographie;
jeweils Methode C)
transnasale Endoskopie
von Hypopharynx
und Larynx
Trompeter 1
Trompeter 2
a) Tonleiter
b) Ton mit Stimmlippenund Taschenfalteneinsatz
Posaune
Tonfolgen und
kleine Melodien
funktionelle Erkrankungen
der beiden Tongeneratoren
bei beruflicher Überlastung („Overuse“)
 Mundlippen:
myofunktionelle Störungen, Ansatzdystonien
(Blechbläser)  Bk Nr. 2106 („Druckschädigung der
Nerven“); knapp 10% aller Blechbläser betroffen
(Dunkelziffer??)
 Stimmlippen:
hyperfunktionelle Dysphonie (Lehrer, Erzieher,
Sänger u.a. „Stimmprofis“)  keine Bk!! (auch nicht bei
„Sängerknötchen“); etwa 60% aller Erzieher und
50% aller Lehrer betroffen!! (Sänger??)
Ansatzdystonie der Bläser I
- J. Flesch 1925:
„Krampfempfindung im Orbicularis oris. Der Patient
war dann unfähig einen Ton zu blasen.“
- K. Singer 1926:
„Bei einem Trompeter glitt die Unterlippe im
Ansatzstück ‚wie gelähmt‘ ab. Töne bestimmter Höhen
konnten nicht geblasen werden, bei gesteigerter
Anspannung der Lippenmuskeln lief Speichel aus dem
Mund. Und dabei bestand kein Schmerz, nur das
Gefühl eines schweren ‚Klumpens‘ im Mund.“
Ansatzdystonie der Bläser II
- tätigkeitsspezifische fokale Dystonie
- Symptome: Verlust der feinmotorischen Kontrolle für
komplexe Bewegungsabläufe;
einhergehend mit unwillkürlichen Verkrampfungen, evtl. auch mit Tremor der
mimischen Muskulatur; keine Schmerzen;
Tongebung unrein/unzulänglich, Entweichen
von Luft seitlich des Mundstücks  Töne
können nicht gehalten werden, Kontrollverlust über den Ansatz
Ansatzdystonie der Bläser III
Ursachen/Risikofaktoren:
chronische Überlastung durch jahrelange stereotype
Wiederholungen komplexer Bewegungsabfolgen;
Durchblutungsstörungen und nervale
Mikrotraumen/Druckläsionen motorischer (N. facialis) und
sensibler (N. trigeminus) Nervenäste durch Mundstücke u./o.
Zahnstellungsanomalien bzw. Kieferfehlstellungen
(entscheidend: Ansatzdruck des Mundstücks!! 15-35 N = 1,5-3,5
kp / maximal 140 N = 14 kp!!); psychische Faktoren (z. B.
Neigung zu Perfektionismus bei exponierter Position der Bläser
im Orchester, Auftrittsängste/Lampenfieber)
Ansatzdystonie der Bläser IV
Diagnostik:
 klinisch! (Beobachtung während des Instrumentenspiels)
 videogestützte Schwingungsanalysen der Mundlippen
(Stroboskopie, Kymographie)
 EMG: anfangs erhöhte Leitgeschwindigkeit (>56 m/s)
bei Nervenreizung, später erniedrigte Leitgeschwindigkeit (< 40 m/s) bei Nervenschädigung
Ansatzdystonie der Bläser V
Rehabilitation u. Therapie:
 Mundstück mit größerer Auflagefläche
 Betreuung durch Instrumentalpädagogen
(Ansatzumstellung: druckschwacher Ansatz, Einüben neuer Bewegungsmuster mit „Retraining“-Verfahren)
 Spielpause: 2-4 Wochen AU!  Förderung der Regeneration
geschädigter Lippenstrukturen
 Logopädie (Mundmotorik-Übungen ohne/mit Instrument)
 ggf. zahnärztlich-prothetische Behandlung
 ggf. psychosomatisch-psychotherapeutische Mitbetreuung
 ggf. Trihexiphenidyl oral
 Injektion von Botulinumtoxin in die Mundlippen unwirksam,
außerdem schmerzhaft und blutig!!
Trihexiphenidyl
 Artane®, Parkopan®
 Muskarinrezeptor-Antagonist:
blockiert durch kompetitive Hemmung selektiv die
Acetylcholin-Wirkung an den M1-Muskarin-Rezeptoren
im Striatum
 Anticholinergikum, Antiparkinson-Mittel
 fokale Dystonien gehen einher mit
Funktionsstörungen der Basalganglien!
 Wegen Nebenwirkungen (z. B. Mundtrockenheit,
Gedächtnisstörungen, Müdigkeit, Depressionen) muss
die Therapie öfters vorzeitig beendet werden!
Bk Nr. 2106 („Druckschädigung der Nerven“) bei Blechbläsern
 Voraussetzungen für Anerkennung als Bk:
1.) „arbeitsbedingte…wiederholte mechanische und durch Druck schädigende
Einwirkung“
2.) „eindeutige Beziehung zwischen der Lokalisation des einwirkenden Druckes
und dem anatomisch zuzuordnenden klinisch-neurologischen Befund“
 „vermehrt betroffen…z. B. Berufsmusiker“
 „typischerweise…elektroneurographisch und elektromyographisch...herabgesetzte
Nervenleitgeschwindigkeit“
 „Druckneuropathien (N. facialis, N. trigeminus) werden auch als Ursache von
Blasansatzstörungen bei Blechblasinstrumentalisten betrachtet.“
 „Druckbelastungen“… „z. B. beim Gebrauch von Blasinstrumenten
(Ansatzstörung, fokale Dystonie)“
 „im Lippenbereich sehr umschriebene Bezirke betroffen“
Musikerdystonie
(z.B. Ansatzdystonie bzw. orofaziale Dystonie
bei Blechbläsern)
- kausaler Zusammenhang zwischen intensivem Musizieren
(= Risikofaktor!) und dystonen Symptomen
 berufsspezifische und berufsbedingte Erkrankung
- Fokale Dystonie bei professionellen Instrumentalmusikern
soll als neue Berufskrankheit anerkannt werden !
V. Rozanski et al.: Dt. Ärztebl. 112 (21.12.2015), 871 – 877
Satchmo-Syndrom

Ruptur des M. orbicularis oris bei Blechbläsern
(Louis „Satchmo“ Armstrong 1935)

Ursache: jahrelange Druckbelastung/Überbeanspruchung
(„Overuse“)

Symptome: plötzliche schmerzhafte Ermüdbarkeit der Lippen, Unfähigkeit
hohe Töne lange zu halten

Diagnose: sonographisch (B-mode): ödematöse Aufquellungen,
Kontinuitätsunterbrechungen (=Faserrisse), Narbenstränge

Therapie: mehrschichtige Muskelnaht mit Einzelknopfnähten; danach
vorsichtige stufenweise Wiedereingliederung, ggf. mit
instrumentalpädagogischer u./o. logopädischer Unterstützung
 DD zur Ansatzdystonie:
Ansatzdystonie schmerzfrei, schlechte Prognose
Satchmo-Syndrom: schmerzhaft, gute Prognose
zweischichtiger Aufbau des MOO (Lefarth et al. 2014)
Pars profunda:
 besteht aus Pars marginalis (Lippenrot) und Pars peripheralis (Lippenweiß)
 „Hockeyschläger“
 Sphinkter für Nahrungsaufnahme („catching food“)
 entwicklungsgeschichtlich ältere, lebensnotwendige Primärfunktion
Pars superficialis:
 einstrahlende mimische Gesichtsmuskeln
 Mimik, Ästhetik, lautsprachliche und bläserische Artikulation
 entwicklungsgeschichtlich jüngere, nicht mehr lebensnotwendige
Sekundärfunktion
Ansatzprobleme bei Bläsern
 myofunktionelle Störungen
 Ansatzdystonie / fokale Dystonie des bläserischen
Ansatzes
 morphologische Lippenläsionen
(Schleimhauterosionen, Satchmo-Syndrom)
Vielen Dank für Ihre
Aufmerksamkeit !