Predigt von Landesbischof Dr. Carsten Rentzing am 2. Advent 2015 in der St. Nicolaikirche Leipzig Les: Jak 5, 7 + 8 Liebe Gemeinde, es ist so eine Geschichte, die in die Familienchronik eingehen wird. Es war ein 5. Dezember. Der Tag begann früh. Viel war zu tun. Gottesdienst im Pflegeheim, Seelsorgegespräche, Predigtvorbereitung für den nächsten Sonntag. Schließlich durfte auch nicht vergessen werden, dass die Kinder morgen auf das Kommen des Nikolaus warteten. Als ich am Abend die Kinder ins Bett schaffen wollte, hatte sich auf mich bereits eine bleierne Müdigkeit gelegt. Die Kinder hingegen waren putzmunter. Die Aufregung hatte sie erfasst. Die Schuhe waren gereinigt und vor die Tür gestellt. Ich hatte alle Mühe, Ruhe und Ordnung einkehren zu lassen. Gefühlt dauerte es Stunden, bis die Kinder endlich schliefen. Schliefen sie alle? Nein! Die Jüngste versprach mir die Augen zu schließen, ich löschte das Licht und schloss die Tür. Fünf Minuten später hörte ich wie die Tür sich vorsichtig wieder öffnete. Meine Tochter lunzte nach den Schuhen. Als sie sah, dass diese immer noch leer waren, kam sie zu den Eltern und klagte ihr Leid. Der Vorgang wiederholte sich mehrfach. Die zunächst verständnisvolle Stimme des Vaters, der noch dazu kaum mehr die Augen offen halten konnte, wurde ernster: „Wenn du nicht endlich schläfst, kommt der Nikolaus überhaupt nicht in diesem Jahr.“ Das hatte gesessen. Fünf Minuten vergingen, zehn Minuten vergingen, fünfzehn Minuten vergingen. Keine Reaktion mehr aus dem Kinderzimmer. Nach zwanzig Minuten wagte ich einen Blick auf die Jüngste. Sie schien fest zu schlafen. Endlich! Schnell ging es daran die Schuhe mit den vorbereiteten Gaben zu füllen. Geschafft! Es war nach Mitternacht als ich völlig fertig mit meiner Frau ins Bett sank. Schnell holte mich ein tiefer Schlaf ein, der mich, anders als gewohnt, sicher bis in die späteren Morgenstunden hinein eingewoben hätte. Doch das Geräusch einer knarrenden Tür weckte mich. Tippelnde Kinderschritte näherten sich dem elterlichen Schlafzimmer. Ich blickte auf den Wecker, der 2 Uhr nachts anzeigte. Die Schlafzimmertür öffnete sich mit einem Ruck. Das Licht ging an. Mit verklärtem Gesichtsausdruck, hellwach, den gefüllten Schuh in der Hand stand dort meine Jüngste und schrie geradezu Mark und Bein erschütternd voller Freude in unsere Richtung: Er war da! Jetzt war es mit meiner Geduld am Ende. Ich sprang aus dem Bett, griff das Kind, nachdem ich ihm den Schuh entrissen hatte, und zerrte die irritierte Tochter zurück in ihr Zimmer. „Die Sachen gebe ich dem Nikolaus zurück“, hörte ich mich sagen. Licht aus, Tür zu und Schluss. Erst das Schluchzen aus dem Kinderzimmer und das Drängen meiner Frau brachten mich dazu, meiner Tochter die Hand zur Versöhnung zu reichen. Jetzt endlich kehrte Friede ein. Die ganze Familie schlief. Kurz, aber immerhin. Und der Nikolaustag wurde ein ganz Besonderer. Aber das ist schon wieder eine andere Geschichte… Keine Sorge: Meine Familie weiß davon, dass ich diese Geschichte hier erzähle. Und auch mir ist schon klar, dass man als Prediger nicht allzu oft die eigene Familie zitieren sollte. Dieses Erlebnis aber fällt mir immer wieder ein, wenn es in der Bibel 1 um das Thema Geduld geht. Abgesehen davon, dass es zum heutigen Nikolaustag passt. Geduld ist für uns Menschen eine schwierige Übung. Das gilt für Kinder, die voller Unruhe und Aufregung auf Nikolaus, auf Weihnachten oder auf den eigenen Geburtstag warten. Es gilt für Erwachsene, die unruhig und zornig werden, wenn nicht alles nach ihren Plänen verläuft. Geduld ist eigentlich eine Tugend. Und dennoch können wir es oft nicht erwarten. Weihnachtsmärkte öffnen bereits vor dem ersten Advent. Schwibbögen beginnen selbst im Erzgebirge manchmal schon vor dem Ewigkeitssonntag zu leuchten. Und Weihnachtslieder ertönen bereits jetzt überall. Wenn es nur das wäre, dann wäre die Ungeduld noch verhältnismäßig harmlos. Was aber, wenn Menschen ungeduldig auf die Besserung ihrer Lebensverhältnisse warten? Was aber, wenn nach einem Terroranschlag die Bevölkerung ungeduldig auf gnadenlose Gegenschläge hofft? Es lohnt sich wirklich das Thema Geduld vor dem Hintergrund des christlichen Glaubens näher zu betrachten. Geduld in diesem Sinne ist keine blinde Vertröstung, sondern Quelle des Friedens und der zuversichtlichen Erwartung der Gerechtigkeit. Der Jakobusbrief mahnt die Gläubigen zur Geduld. Er tut dies im deutlichen Bewusstsein, dass es vieles in dieser Welt und in diesem Leben gibt, was uns ungeduldig werden lässt. Und er benennt auch den Grund, weshalb wir nicht ins Leere hinein geduldig sein sollen oder müssen: Das Kommen des Herrn ist nahe. Geduld ist kein Selbstzweck. Geduld ist erforderlich und im besten Sinne nützlich, weil sie damit rechnet, dass es einen günstigen Augenblick gibt. Den Augenblick, den wir Menschen nicht in der Hand halten. Den Augenblick, der wahre Abhilfe schafft. Den Augenblick, den der Herr erwählt. Seit 850 Jahren wird an diesem Ort Gottesdienst gefeiert. 850 Jahre, in denen sich die Menschen, die sich hier sammelten, in solcher zuversichtlichen Geduld einübten. Und manch einer wird dies als beschwerliche Geduldsprobe erfahren haben. Es hat lange gedauert, bis aus Friedensgebeten eine friedliche Revolution im Lande erwuchs. Aber es war offenkundig nötig, den günstigen Zeitpunkt abzuwarten. Den Zeitpunkt, den der Herr schenkt. Menschengewählte Zeitpunkte für Revolutionen haben eigentlich immer im Blutvergießen geendet. Und zwar deshalb, weil solche menschengewählten Zeitpunkte von Ungeduld geprägt sind. Ungeduld aber ist eine Quelle des Unfriedens und des Zorns. Geduld heißt freilich nicht lethargisch und schicksalsergeben zu sein. Das wäre völlig missverstanden. Geduld heißt nur, das Letzte und Entscheidende nicht von sich selbst, sondern von Gott zu erwarten. Und so gehört die Geduld zu den Früchten des Geistes, wie es der Apostel Paulus einmal ausdrückt. Wir könnten auch sagen: Geduld setzt Glauben voraus. Den Glauben daran, dass Gott die Ungerechtigkeit und das Leid dieser Welt und unseres Lebens kennt und nicht achtlos daran vorübergeht. Den Glauben daran, dass der Herr im Regimente sitzt. Den Glauben daran, dass das Ausstehen seiner Hilfe niemals Zeichen seiner Ungnade sondern seiner Gnade ist. Gott kommt zur Hilfe. Und er kommt dann, wenn der richtige Zeitpunkt erreicht ist. Wenn die Zeit erfüllt ist, wie es heißt. Menschen sind immer wieder Zeugen dieses Geschehens geworden. Ein Beispiel, das unser ganzes Volk betrifft, habe ich benannt. 2 Für den Wartenden freilich bleiben immer Fragen. Wann endlich ist es soweit? Wie lange noch? Kann ich wirklich auf Abhilfe vertrauen? Die Adventszeit, in der wir uns befinden, soll hier helfen. Als Zeit des Wartens, der Einübung in Geduld und der freudigen Erwartung ist sie konzipiert. Und wir alle wissen, worin diese Zeit endet: Im Fest des kommenden Herrn. Jahr um Jahr üben wir uns damit in geduldiger Erwartung ein. Und wir sollten es tun mit Blick darauf, dass hier ein Wesenszug unsres Glaubens deutlich wird. Das Kommen des Herrn ist nahe. Wer darauf vertraut, der ist erfüllt von großem Frieden. Wer darauf vertraut, muss sich nicht mehr vom Geist der Rache und Gnadenlosigkeit und auch nicht vom Geist der Verzweiflung treiben lassen. Wer darauf vertraut, der wird geduldig und erbringt die Früchte des Heiligen Geistes. Und das wäre allerdings uns allen zu wünschen. Zum Segen für unser eigenes Leben und zum Segen für die ganze Welt. Amen. 3
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