Rechtsethik

o.Univ.-Prof. Dr. Stephan Kirste
FB Sozial- und Wirtschaftswissenschaften
Rechtsethik
Eine Einführung
Vortrag in der Ringvorlesung
„Angewandte Ethik“ am 29.4.2015
Einführung in die Rechtsethik
Was ist Rechtsethik?
Fall 1:
K leidet an einer chronischen, progressiv verlaufenden
Schmerzkrankheit, die schließlich zum Tod führen wird.
Eine ihm angemessen erscheinende medizinische
Behandlung ist nicht möglich. Therapien mit Morphinen
führen zu Persönlichkeitsveränderungen, durch die K
fürchtet, irgendwann nicht mehr er selbst zu sein. Soll es
das Recht erlauben, daß der Arzt ihm in einem
fortgeschrittenen Stadium ein Mittel zur Verfügung stellt,
durch das S seinem Leben ein Ende setzen kann?
In Österreich ist diese Beihilfe zur Selbsttötung (assistierter Suizid) als
Mitwirkung am Selbstmord gem. § 78 StGB strafbar.
In04.05.2015
der Bundesrepublik ist dies nicht strafbar.
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Einführung in die Rechtsethik
Was ist Rechtsethik?
Fall 2:
Der liberale Regierung des Staates S möchte das
öffentliche Bildungswesen durch ein Bildungsreformgesetz
komplett privatisieren. Sie erhofft sich dadurch, daß der
Markt von Angebot und Nachfrage an Bildungseinrichtungen zu einer Pluralisierung von Bildungsangeboten führt und
so den Bildungsanforderungen differenzierter entsprochen
werden kann, daß also jeder diejenige Bildung erhalten
kann, die er haben möchte. Einige Eltern aus sozial
schwächeren Bevölkerungsschichten fürchten hierdurch
einen erheblichen Verlust von Bildungschancen für ihre
Kinder. Wäre ein entsprechendes „BildungsreformG“
ungerecht?
04.05.2015
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Einführung in die Rechtsethik
Was ist Rechtsethik?
Fall 3:
Jurastudent J hat das Kind reicher Nachbarn entführt und
hält es versteckt. Die Polizei kann J fassen. Der weigert
sich aber, das Versteck des Kindes preiszugeben. Um das
Leben des von Verdursten und Verhungern bedrohten
Kindes zu retten, droht der stellv. Polizeichef dem J erst
Schläge, dann Waterboarding, Elektroschocks und weitere
gewaltsame Behandlungen an. Durfte er dies?
Artikel 3: Europäische Menschenrechtskonvention:
Verbot der Folter
Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder
erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen
werden.
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Einführung in die Rechtsethik
Was ist Rechtsethik?
Rechtsethik ist derjenige Teil der Rechtsphilosophie, der
sich mit der inhaltlichen Richtigkeit des Rechts
beschäftigt.
Die anderen Bereiche sind:
• Theorie der Rechtswissenschaft – Wie erkennt das
juristische Denken?
• Rechtstheorie: Was ist Recht?
• Rechtethik: Welchen Beitrag leistet das Recht für die
Gerechtigkeit?
04.05.2015
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Einführung in die Rechtsethik
Philosophische Ansätze der
Rechtsethik
Normative Rechtsethik:
§ Wie soll Recht sein?
§ Was ist richtiges Recht?
§ Sie bedeutet: Moralisches Denken über Recht.
§ Ihre Antworten gewinnt sie aus dem rechtsbezogenen Teil
der Moral, also insbesondere dem Naturrecht.
04.05.2015
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Einführung in die Rechtsethik
Philosophische Ansätze der
Rechtsethik
Kritik der Rechtsethik:
§ Hans Kelsen: Werte sind Ausdruck rein subjektiver
Überzeugungen.
§ Systemtheorie Niklas Luhmanns: Moral hat nur eine
systemimmanente Bedeutung und kann nicht von außen zur
Kritik an das Rechtssystem herangetragen werden.
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Einführung in die Rechtsethik
Philosophische Ansätze der Rechtsethik
Deskriptive Rechtsethik:
§ Sie beschreibt den Gerechtigkeitsgehalt des positiven
Rechts.
§ Die Naturrechtslehre richtet den Blick auf die
Gerechtigkeit als moralische Norm, die Rechtsethik auf
die Gerechtigkeit als Rechtsnorm.
§ Nur so ist die Rechtsethik Reflexionsdisziplin des
positiven Rechts.
„Wie die theoretische Philosophie die Bedingungen der
Möglichkeit von Erfahrung zu untersuchen hat, so hat es
die praktische Philosophie mit den Bedingungen der
Möglichkeit von Rechtserfahrungen und der sozialen
Erfahrung zu tun“.
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Ernst
Cassirer
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1874-1945
Einführung in die Rechtsethik
Die ethische Funktion des positiven Rechts
Der Rechtsbegriff
§ Eine Norm ist Recht, wenn ihre Setzung und Durchsetzung
normativ geordnet ist.
• Normen sind Sollenssätze, die Verpflichtungen in Gestalt von Geboten,
Verboten und Erlaubnissen enthalten.
• Auch die Moral oder die Religion enthalten Normen.
• Von Rechtsnormen unterscheiden sich diese, daß ihre Begründung
und Anwendung durch Normen geordnet ist.
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Einführung in die Rechtsethik
Die ethische Funktion des positiven Rechts
Recht und Freiheit
§ Normen setzen Freiheit voraus und ermöglichen Freiheit.
§ Rechtsnormen sind aber auch Ausdruck von Freiheit.
§ Rechtsnormen realisieren damit durch ihre Entstehung und
ihren Regelungsinhalt den ethischen Wert der Freiheit.
§ Sie haben damit gegenüber anderen Normen einen
Legitimationsvorteil.
§ Davon geht die Rechtsethik aus und rekonstruiert den
Beitrag, den Recht zur Gerechtigkeit leistet.
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Einführung in die Rechtsethik
Formen der Gerechtigkeit
Gerechtigkeit kann in verschiedenen
Perspektiven betrachtet werden:
§ Poetische Gerechtigkeit („poetic justice“):
Martha Nussbaum
• Poetische Gerechtigkeit ist ein Mittel der
Literatur, bei dem tugend- oder lasterhaftes
Verhalten durch das Schicksal oder durch die
ironischen Folgen des eigenen Verhaltens
bestraft werden.
• Häufig führt die schuldhafte Handlung selbst zu
einer Strafe.
§ Theologische Gerechtigkeit
§ Alttestamentarisch: Auge um Auge, Zahn um
Zahn
§ Neutestamentarisch: Bergpredigt
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Einführung in die Rechtsethik
Rechtliche Gerechtigkeit
§ Hier geht es um rechtliche Gerechtigkeit, nicht etwa
moralische oder theologische Gerechtigkeit.
§ Der Begriff ist bis auf Kerngehalte sehr umstritten.
§ Daher Verlagerung von der Suche nach „materieller“
auf „prozedurale Gerechtigkeit“.
§ Aber: In modernen Verfassungsstaaten sind auch
gerechte Verfahren materialen Grenzen unterworfen.
§ Historisch gesehen wurde Gerechtigkeit mal mehr aus
der Freiheit, mal mehr aus der Gleichheit begründet.
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Einführung in die Rechtsethik
Theologische Gerechtigkeit
Art. 2 EUV
Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde,
Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der
Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten
angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft
gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz,
Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern
auszeichnet.
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Einführung Rechtsethik: Gerechtigkeit
Entwicklungslinien des Gerechtigkeitsgedankens
• Menschliche Gerechtigkeit
„der Mensch sei das Maß aller Dinge, der seienden,
daß sie sind, der nicht seienden, daß sie nicht sind“.
Protagoras in Platon, Theaetet 152 A f., S. 45.
§ Der Mensch und seine Bedürfnisse sind der
Gegenstand der Gerechtigkeit;
§ Menschliche Erkenntnisse sind zunächst
subjektiv; auch diejenigen der Gerechtigkeit.
§ Daher: Verfahrensgerechtigkeit.
§ Sokrates/Platon: Es kommt aber auf den
Menschen in seiner konkreten Stellung an.
§ Gerechtigkeit gehört zum Menschsein.
04.05.2015
Protagoras
490 v. Chr. – 411 v.
Chr.
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Einführung Rechtsethik: Gerechtigkeit
Entwicklungslinien des
Gerechtigkeitsgedankens
§ Rechtschaffenheit, Schädigungsverbot, Verteilungsgerechtigkeit:
„Juris praecepta sunt haec: Honeste vivere; alterum non
laedere; suum cuique tribuere“
„Die Prinzipien des Rechts sind folgende: ehrenhaft leben, den
anderen nicht verletzen, jedem das Seine gewähren.“
„Iustitia est constans et perpetua voluntas ius summ cuique
tribuens“,
„Gerechtigkeit ist der beständige und dauerhafte Wille, jedem
sein Recht zuzuerkennen“
Inst. 1, 1pr., u. Ulpian D 1, 1, 20 pr.
§ „ehrenhaft leben“ – Menschenwürde
§ „niemanden verletzen“ – Freiheit
§ „jedem das Seine“ – Gleichheit
§ Der dauerhafte Gerechtigkeitswille als Verfahrensprinzip
04.05.2015
Ulpian
170-228 n. Chr.
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Einführung Rechtsethik: Gerechtigkeit
Entwicklungslinien des Gerechtigkeitsgedankens
• Sophisten
„Doch die Natur selber offenbart ja, daß es gerecht ist, daß
der tüchtigere Mann mehr hat als der weniger tüchtige und
der stärkere mehr als der schwächere“
Kallikles
5. Jh. v. Chr.
“let the rich get richer because thanks to them the poor will
be less poor“
Artur da Costa e Silva, März 1967
• Gerechtigkeit ist das Recht des Stärkeren, seine
Stärken ungehindert auszuleben;
• Gerechtigkeit ist Freiheit.
04.05.2015
Artur da
Costa e Silva
1899-1969
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Einführung Rechtsethik: Gerechtigkeit
Entwicklungslinien des Gerechtigkeitsgedankens
§ Sophisten
„von Natur sind wir alle in allen Beziehungen gleich
geschaffen, Barbaren wie Hellenen. Das lässt eine
Betrachtung der allen Menschen von Natur (in gleicher
Weise?) notwendigen Dinge erkennen… Atmen wir doch
alle insgesamt durch Mund und Nase in die Luft aus und
essen wir doch alle mit Hilfe der Hände.“
Antiphon
5. Jh. v. Chr.
„Als Freie hat Gott alle entsandt, niemanden hat die Natur
als Sklaven geschaffen“
Alkidamas
gest. 379.
• Gerechtigkeit ist Gleichheit
• Grund: Alle Menschen haben die gleichen
Bedürfnisse und Grundfähigkeiten
04.05.2015
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Einführung Rechtsethik: Gerechtigkeit
Entwicklungslinien des Gerechtigkeitsgedankens
§ Der Inhalt der Gerechtigkeit
„1) Sei ein rechtlicher Mensch (honeste vive). Die rechtliche
Ehrbarkeit (honestas iuridica) bestehet darin: im Verhältnis
zu anderen seinen Wert als den eines Menschen zu
behaupten, welche Pflicht durch den Satz ausgedrückt wird:
‚mache dich anderen nicht zum bloßen Mittel, sondern sei
für sie zugleich Zweck‘.
2) ‚Tue niemanden Unrecht (neminem laede)‘.
3) ‚Tritt (wenn du das letztere nicht vermeiden kannst) in
eine Gesellschaft mit andern, in welcher jedem das Seine
erhalten werden kann (suum cuique tribue) … Tritt in einen
Zustand, worin jedermann das Seine gegen jeden anderen
gesichert sein kann‘ (lex iustitiae)“
04.05.2015
Immanuel
Kant
1724-1804
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Einführung Rechtsethik: Gerechtigkeit
Entwicklungslinien des Gerechtigkeitsgedankens
• Der Inhalt der Gerechtigkeit
• Neminem laede – Schade niemanden; die eigene
Freiheit findet ihre Grenze an den Rechten der
anderen;
• Suum quique tribue – teile jedem das Seine zu;
behandle Gleiches gleich und Ungleiches mit
Rücksicht auf die Unterschiede; rechtfertige also
Immanuel
Kant
Deine Gleich- und Ungleichbehandlung;
1724-1804
• Honeste vive; mache Dich nicht zum Mittel für
andere; behandle alle Menschen und auch Dich
selbst immer als Zweck in sich selbst, d.h. als
Subjekt; achte die Würde aller Menschen im
Gebrauch Deiner
gleichen Freiheit.
• Rechtliche
Gerechtigkeit
kann danach bestimmt werden
als: An der Würde des Menschen orientiertes Verhältnis
04.05.2015
zwischen rechtlicher Freiheit und rechtlicher Gleichheit.19
Einführung Rechtsethik: Gerechtigkeit
Entwicklungslinien des Gerechtigkeitsgedankens
• Der utilitaristische Gerechtigkeitsbegriff
„that action is best, which procures the greatest Happiness for the
greatest Numbers; and that, worst, which, in like manner, occasions
Misery.“
“Nature has placed man under the empire of pleasure and of pain…
we refer to them all our judgments, and all the determinations of our
life… His only object is to seek pleasure and to shun pain... The
principle of utility subjects every thing to these two motives… It
expresses the property or tendency of a thing to prevent some evil
or to procure some good. Evil is pain, or the cause of pain. Good is
pleasure, or the cause of pleasure. That which is conformable to the
utility, or the interest of an individual, is what tends to augment the
total sum of his happiness. That which is conformable to the utility, or
the interests of a community, is what tends to augment the total sum
of the happiness of the individuals that compose it”.
Bentham,
04.05.2015Theory of Legislation 1, 1840, S. 14 f.
Francis
Hutcheson
1694-1746
Jeremy
Bentham
20
1748-1832
Einführung Rechtsethik: Gerechtigkeit
Gegenwärtige Gerechtigkeitstheorien
• Der vermittelnde Gerechtigkeitsbegriff von John Rawls:
– Gerechtigkeitsgrundsätze
• Vorrang des ersten
• 2a und 2b müssen kumulativ vorliegen
„1. Jedermann soll ein gleiches Recht auf das das
umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten haben, das mit
dem gleichen System für alle anderen verträglich ist.
2. Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind so zu
gestalten, daß
(a) vernünftigerweise zu erwarten ist, daß sie zu
jedermanns Vorteil dienen, und
(b) sie mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die
jedem offen stehen“.
04.05.2015
John Rawls
1921-2002
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Einführung Rechtsethik: Gerechtigkeit
Gegenwärtige Gerechtigkeitstheorien
• Der vermittelnde Gerechtigkeitsbegriff von John
Rawls:
– „Maximin-Regel“: Optimal ist eine Maßnahme dann, wenn
sie auch den gesellschaftlich am schlechtesten Gestellten
noch zum Vorteil gereicht.
– Das bewirkt einen dem Utilitarismus fremden
Minderheitenschutz
– Verfahrensgerechtigkeit
• Reine prozedurale Gerechtigkeit: Das gerechte Ergebnis
ist nur aufgrund des Verfahrens hervorgebracht worden.
• Quasi-reine prozedurale Gerechtigkeit: Das Ergebnis ist
auch aufgrund der materialen Vorgaben für das
Verfahren erreicht worden.
• Vollkommen ist diese Verfahrensgerechtigkeit, wenn das
Ergebnis mit Sicherheit durch das Verfahren erreicht
wird: Teilung des Kuchens in zwei Teile.
04.05.2015
John Rawls
1921-2002
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Einführung in die Rechtsethik
Zu den Eingangsfällen
§ Fall 1: Strafbarkeit der Beihilfe zu Sterbehilfe
• Problem von Freiheit und Würde des Patienten
§ Fall 2: Das Bildungsreformgesetze
• Problem des Verhältnisses von Freiheit und Gleichheit
§ Fall 3: Folter
• Problem des Verhältnisses der staatlichen Schutzpflicht
zugunsten des Lebens und der Würde des Entführers.
04.05.2015
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