Leseprobe - Amalthea

Eva Maria Klinger
Nie am Ziel
Helmuth Lohner
Eva Maria Klinger
Nie am Ziel
Helmuth Lohner
Die Biografie
Mit 82 Abbildungen
AMALTHEA
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www.amalthea.at
© 2015 by Amalthea Signum Verlag, Wien
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Elisabeth Pirker/OFFBEAT
Umschlagfotos: © Ullstein-Timpe/Ullstein Bild/picturedesk.com (vorne),
© Ali Schafler/First Look/picturedesk.com (hinten)
Lektorat: Martin Bruny
Herstellung und Satz: VerlagsService Dietmar Schmitz GmbH,
Heimstetten
Gesetzt aus der 11,5/15 pt Minion
Printed in the EU
ISBN 978-3-99050-022-4
e-ISBN 978-3-903083-09-7
Inhalt
Die wichtigsten Fragen beantwortet
man immer mit seinem ganzen Leben 7
Das Spiel beginnt ·
1933 bis 1965 22
Nie am Ziel ·
1965 bis 1980 56
Schubumkehr ·
1980 bis 1990 104
Heimkehr ·
1990 bis 1997 142
Die Mühen der Ebene ·
1997 bis 2006 159
Die große Freiheit ·
2006 bis 2015 191
Rollenverzeichnis 224
Bild- und Textnachweis 248
Quellen 249
Danksagung 250
Personenregister 251
Heimkehr ·
1990 bis 1997
Am 1. Januar 1988 hat Otto Schenk mit Robert Jungbluth als
­Co-Direktor das Theater in der Josefstadt übernommen, und
von da an laufen die geheimen Versöhnungsversuche, um
Lohner zumindest Stück für Stück heimzuholen. Jungbluth telefoniert mit Lohner in Zürich, trifft ihn, wenn er in Wien ist, trifft
ihn bei den Salzburger Festspielen, Schenk schmollt weiterhin
trotzig: »Wenn er bei mir an der Josefstadt spielt, dann soll’s gut
sein« – und erteilt Felix Mitterer den Stückauftrag, einen modernen Jedermann zu schreiben.
Erwin Steinhauer, der Mitterers Stück inszenieren soll, kapriziert sich darauf, dass der aktuelle Salzburger Jedermann, Helmuth Lohner, die Titelrolle auch in der Josefstadt spielen soll. Eine
Armada guter Zuredner wirkt auf die Starrköpfe ein. In der Zeit
der Trennung konnte man von beiden Seiten hören: »Nie wieder
will ich etwas mit ihm zu tun haben!«, aber nun kommt allmählich, neben sentimentaler Sehnsucht nach alter Verbundenheit,
Vernunft auf. Schenk braucht für »seine« Josefstadt den charismatischen Schauspieler, und Lohner wurde in den letzten Jahren mit
tollen Rollenangeboten nicht mehr überhäuft, wie er es in den 30
Jahren davor gewohnt war. Er ging wohl auch selektiver vor. Angesichts eines bisherigen Repertoires von mehr als 150 nicht gerade
unbedeutenden Rollen wäre begrenzte Spielfreude denkbar.
Am 10. Januar 1991 wird Felix Mitterers Ein Jedermann am
Theater in der Josefstadt uraufgeführt. Helmuth Lohner spielt
die Titelrolle. Zu Bernhard Schir, der Jedermanns Troubleshooter mit teuflischen Zügen spielt, hat er seine Rückkehr mit dem
142
Am 18. September 1990 gibt Lohner seine Wohnung in ZürichMeilen auf und nimmt eine kleinere Bleibe in der Kirchgasse im
Zentrum, wo auch Thomas Baal zeitweilig wohnen kann. Er hat
seit fast 30 Jahren sein Lebenszentrum in der Schweiz, ein
Schweizer Pass liegt vorbereitet bei der Behörde, aber er holt ihn
nie ab. Er spricht nicht nur Schwyzerdütsch, er beherrscht auch
die unterschiedlichen Nuancen von Basler und Zürcher Dialekt
so perfekt, dass Einheimische versichern, er sei der einzige
»Usländer«, der dazu in der Lage ist.
Lohner wird hauptsächlich in Wien sein, Ricarda hat eine
hübsche Wohnung in der Weihburggasse in der Inneren Stadt
gemietet. Mit Schenk versöhnt, soll er viel an der Josefstadt spielen und auch inszenieren, woran ihm liegt.
Kurz vor Weihnachten lade ich Robert Jungbluth und drei
Ehepaare zu mir nach Hause zum Abendessen ein: Ricarda
Reinisch und Helmuth Lohner, Christl und Heinz Zednik,
­
Camilla und Christoph Zielinski. Der Termin ist denkbar
ungünstig. Friedrich Dürrenmatt, Lohners Lebensfreund, ist
am Vormittag gestorben, und es liegt noch etwas anderes in der
143
Heimkehr · 1990 bis 1997
alten Schauspielersatz »Wenn sie dich brauchen, schneiden sie
dich vom Galgen« sarkastisch kommentiert. »Ich hatte Riesen­
respekt vor ihm, hatte mich sogar etwas gefürchtet, aber er war in
den Proben so geduldig, so diszipliniert und unterstützend für
mich jungen Schauspieler«, erzählt Bernhard Schir. Vor der Premiere knistert es im Zuschauerraum ob der ge­­spannt erwarteten
Heimkehr des verlorenen Sohnes nach fast 30-jähriger Abwesenheit an diesem Theater. Lohner steht mit Schir angespannt in der
seitlichen Gasse vor dem ersten Auftritt, drückt zitternd die
Hand des Jüngeren und flüstert nur: »Es wird schon.«
Es wurde – ein mittlerer Erfolg. Die großen interessanten
Rollen folgen erst.
Luft. Die Freundinnen Christl Zednik und Ricarda ziehen sich
mit einer Flasche Cognac in eine Ecke zurück, tuscheln und
lachen ausgelassen, Helmuth Lohner hält Monologe, über Maler
und Schriftsteller, die, wie Lohner auch, Schweiz zur Wahlheimat erkoren haben, über Canetti und James Joyce, dessen Aufenthalte in Zürich, dessen Grabstätte auf dem Friedhof Fluntern,
was manche Gäste nur mäßig interessiert. Camilla Zielinski bettet schläfrig ihr Haupt an die Schulter ihres Mannes, die beiden
Damen abseits sind nicht zur Rückkehr in die Runde zu bewegen, und bevor der Abend in bedrückter Stimmung versickert,
gehen alle nach Hause.
Am nächsten Tag erfahre ich, dass Ricarda Reinisch und
Christoph Zielinski, der bald sehr prominente Krebsspezialist,
seit einigen Monaten eine geheime Affäre haben. Niemals hätte
ich die Paare gemeinsam eingeladen, hätte mich vorher jemand
gewarnt, aber wer wagt eine Andeutung in einer so heiklen
­Situation? Wer wusste es überhaupt außer dem Liebespaar?
Ricarda war im Frühling wegen einer Augenentzündung ins
AKH gefahren und begegnete dort zufällig dem jungen Arzt. Der
Blitz schlägt ein. »Das Verblüffende ist, dass ich mir immer
gedacht habe, das kann mir nicht passieren, dass ich mich in einen
anderen verliebe, wenn ich mit einem Mann zusammenlebe, wo
alles in Ordnung ist«, sagt Ricarda Reinisch heute diplomatisch.
Als Helmuth Lohner von dem Betrug erfährt, macht er
Tabula rasa, strebt die Scheidung an. Enttäuscht, verletzt,
gekränkt, überlässt er Ricarda die gemeinsame Wohnung und
beschließt, nie wieder zu heiraten. Er versinkt in einem tiefen
schwarzen Loch, erliegt den immer latent drohenden Gefährdungen durch den Alkohol. Im Juni 1991 ist auch seine dritte Ehe
geschieden.
Christoph Zielinski löst ebenfalls seine Ehe, wird 1995 durch
Ricarda zum dritten Mal Vater. Der alten und neuen Familie
144
In diesem Scheidungs-Frühling besucht Elisabeth Gürtler eine
Vorstellung von Ein Jedermann im Theater in der Josefstadt und
findet den Hauptdarsteller, der einen smarten, »powervollen
Businessman spielt, sehr attraktiv«, wie sie sagt. Sie stammt aus
der Unternehmerfamilie Mauthner, ist Vizestaatsmeisterin im
Dressurreiten und leitet seit letztem Herbst das traditionsreiche
Hotel Sacher. Diese neue Aufgabe fiel ihr zu, weil ihr geschiedener Mann Peter Gürtler im November 1990 Selbstmord beging
und die beiden minderjährigen Kinder aus dieser Ehe das Hotel
Sacher und den Österreichischen Hof in Salzburg erbten.
Helmuth Lohner, in Österreich noch nicht wirklich angekommen, neben der Josefstadt auch am Hamburger Thalia
­Theater verpflichtet, hat daher keine Ahnung, wer bei einer
Heurigen-Einladung von Peter Landesmann plötzlich neben
ihm sitzt. Er versteht nicht, warum Elisabeth sagt, sie wohne im
Sommer in Salzburg »selbstverständlich bei uns« im 5-SterneHotel Österreichischer Hof, das auch zum Sacher-Familien­
besitz gehört. Sie versucht, den Kontakt zu halten, besucht eine
Jedermann-Probe und gibt ein VIP-Essen für 60 Leute, »ein
Pink-Dinner« für Künstler der Salzburger Festspiele. Der Ehrenplatz neben ihr ist für den Jedermann Helmuth Lohner reserviert. Der Ehrengast erscheint nicht.
In Salzburg gibt es während der Festspielzeit aber jeden Tag
ein Fest, so begegnet sie ihm zufällig im Point Hotel, wo er einer
anderen Einladung gefolgt ist. Die ausgestreckte Hand nimmt er
145
Heimkehr · 1990 bis 1997
Zielinski gelingt eine funktionierende Patchworkfamilie, solange
es erforderlich ist. Ricarda ist fleißige ORF-Redakteurin in der
Wissenschaftsabteilung, moderiert von 1994 bis 1998 die Zeit im
Bild und leitet heute das Magazin Bewusst gesund. Christoph
Zielinski ist Vorstand der Abteilung Innere Medizin und Onkologie im AKH.
nur zögernd an. Er will sich nie mehr binden, nie mehr. »Ich war
eigentlich gewöhnt, dass sich die Leute um mich bemühen. Er
hat sich am Anfang überhaupt nicht um mich bemüht. Das hat
mich sehr irritiert«, blickt Elisabeth Gürtler heute milde zurück.
Lohner-Kenner verwundert sein Verhalten gar nicht. Er war
so. Ein Womanizer ohne Jagdtrieb. »Ich bin nie einer Frau nachgerannt, ich hab mich immer erobern lassen«, wird er während
der Proben zu seiner letzten Rolle, Valmont in Quartett, zu
­Elisabeth Trissenaar sagen. Ob er es als Tugend oder Makel, als
Stärke oder Schwäche empfunden hat?
Mit Elisabeth Gürtler,
1992
Jedenfalls noch in diesem Sommer 1991 vermeinen Beobachter einen besonderen Glanz in den Augen der beiden zu entdecken, wenn man sie gemeinsam antrifft.
Weder im Österreichischen Hof noch im Hotel Sacher will
Lohner wohnen. So tauscht Elisabeth Gürtler das 5-Sterne146
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Heimkehr · 1990 bis 1997
Domizil gegen Lohners Wohnung in der Moosstraße, und in
Wien zieht er im nächsten Jahr in ihr Haus im 19. Bezirk.
»Ich wollte, dass er umsorgt und versorgt ist. Rauchen durfte
er nur im Garten oder in seinem Zimmer.« Sie ließ extra einen
Zubau für seine Bibliothek, seine Bilder und seine Sammlerstücke aus der ganzen Welt errichten. »Mein Haus war ja vollständig eingerichtet, und ich wollte, dass er von seinen persönlichen
Dingen umgeben ist und einen ruhigen Raum hat, wo er Rollen
lernen konnte und lesen. Meine Kinder waren ja noch im Haus.
Aber allein, dass hier der Alltag organisiert war, brachte Ordnung – ich hab ja gar nicht verstanden, wie man täglich essen
gehen konnte. Er hat eine Frau gebraucht, auf die er sich verlassen kann und die ihn sein Leben frei führen lässt. Das war für
mich selbstverständlich, denn ich arbeite jeden Tag zwölf Stunden. Ich habe nicht zu Hause auf ihn gewartet.«
Den enormen geschäftlichen Erfolg, den Fleiß und die Disziplin der großbürgerlichen Vollblut-Unternehmerin hat Helmuth
Lohner allmählich zu schätzen gelernt und sehr bewundert. Es
schwang auch grundsätzlicher Respekt vor Menschen mit, die es
mit persönlichem Einsatz zu etwas gebracht haben, zu Reichtum
gar. »Die eiserne Lady«, wie Profil einmal titelte, ist eine Perfektionistin mit Charme, eine Dame mit Grundsätzen.
»Sie war das Glück seines Lebens, seine gute Fee.« Diesen
Satz hört man von Renee und Otti Schenk, von all seinen Freunden und Wegbegleitern. Obwohl, je mehr er sein Leben mit dem
seiner Gefährtin akkordierte, verloren andere an Einfluss. Der
Otti, immer einen treffsicheren Mutterwitz auf den Lippen, stichelte, wenn Helmuth sich vor dem Abendessen rasch von den
Schenks verabschiedete: »Gehst scho wieder jet-setteln?«
Das waren jetzt andere Kreise als die der Theaterleute, jetzt
verkehrt er am zarten Arm von Elisabeth Gürtler mit Bankern,
Geschäftsleuten, Direktoren aller Genres, Politikern, wer eben
in Österreich zur konservativen High Society gehört. Das von
ihm früher gerne zum Besten gegebene Brecht-Zitat »Was ist ein
Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?« würde
provozieren, ein anderes Brecht-Zitat, »Nur wer im Wohlstand
lebt, lebt angenehm«, erregt, selbst mit ironischem Unterton
vorgebracht, keinen Anstoß. Er gibt es ungern zu, denn er will
nicht als Verräter an seinem linken, antiklerikalen Weltbild
­gelten, aber, so ist Elisabeth Gürtler überzeugt: »Er ist einfach
lieber mit mir zu meinen Einladungen mitgegangen. Meine
Freunde wurden seine Freunde. Und die Renee Schenk hat
sicher etwas an Einfluss verloren. Aber es blieb eine tiefe Freundschaft zwischen ihm und dem Otti, die schon so lange vor mir
bestanden hat, da habe ich mich nie eingemischt.«
Über unterschiedliche Dresscode-Auffassungen gibt es Diskussionen. »Er hat immer provokant gefragt: Muss ich heute
Abend eine Krawatte tragen? Er wusste genau, dass ich es wollte.
Aber später hab ich ihn gelassen. Und wenn ich ihm etwas zum
Anziehen gekauft habe, musste es von erstklassiger Qualität sein,
es sollte nur immer ein bissl schlampig, abgetragen ausschaun.«
Frau Diplomkaufmann Gürtler geht zwar täglich um 8.30 Uhr
in einem anderen, in allen Accessoires perfekt abgestimmten,
sehr eleganten Marken-Outfit außer Haus, aber sie ist eine tolerante Frau mit einem Blick für das Wesentliche. »Ich habe ihm
immer gesagt: Das Einzige, was mich wirklich dazu bringen
kann, dich zu verlassen, ist, wenn du weiter trinkst. Das halte ich
nicht aus. Ich habe mit meinem ersten Mann, der manischdepressiv war, so viel mitgemacht, dass ich mir geschworen habe,
ich will nie mehr leiden. Das war der einzige Druck, den ich
machen konnte.«
Diese Liebe wollte er nicht verlieren. Und so ist es ihm weitgehend geglückt, in den letzten 25 Jahren seines Lebens abstinent zu bleiben.
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Heimkehr · 1990 bis 1997
Mit Elisabeth Gürtler
Er besucht mit Elisabeth glamouröse Feste im In- und
­Ausland, unterhält, wenn Elisabeth selbst zum Fest lädt, die
Gäste mit selbst verfassten musikalischen Nestroy-Couplets.
Aus 30 zauberhaften Strophen zu ihrem 50. Geburtstag ein paar
­Zeilen: »Is schön wie die Sissi und klug wie die Sphynx, und
schafft die Matura ganz locker mit links« … »…voll Anmut und
Kraft wird’s Zweite der Dressurreiter-Staatsmeisterschaft. Heut
dressiert’s statt der Pferd manches Männer-Exemplar – ’s is alles
net wahr, ’s is alles net wahr« – »Er verschlingt Thomas Mann,
sie die Börsenrevue, seine Zeit is auf d’Nacht – ihre is in der
Früh …« Er begleitet sie auf ihren Geschäftsreisen und Einladungen nach London, New York, Paris, Zürich, Mailand, residiert nicht ungern in den Fünf-Sterne-Leading-Hotels, die dem
Niveau des Hotel Sacher entsprechen, auch wenn er auf seinen
Weltreisen weniger komfortable Quartiere bevorzugt.
149
Einmal holt sie ihn nach einer Tour ab. Am Fuße des Kili­
mandscharo. Sie unternehmen gemeinsam mit einem befreundeten Ehepaar eine Safari und genießen in paradiesischer Landschaft den Zauber einer luxuriösen Lodge mit eigenem Butler
und im Badewasser schwimmenden Rosenblättern.
Es sieht aus, als wähle er noch sorgfältiger jene Rollen aus, die
ihn interessieren, und welch Glücksfall: An der Josefstadt unter
der Direktion seines Freundes Otto Schenk werden ihm die
Wünsche auch erfüllt.
Auch für seine Sehnsucht, Regie zu führen, zeigt man
Verständnis. Zunächst noch mit Schenk-Einmischungen bei
­
Lumpazivagabundus – man erinnere sich an Lohners Blumentopf-Zeichnungen im Regiebuch –, aber mit Feydeaus turbulenter Farce Die Dame vom Maxim und Franz Werfels trauriger
­Emigrationskomödie Jacobowsky und der Oberst mit Otto
Schenk und Herbert Föttinger in den Titelrollen gelingen Lohner
tadellose Josefstadt-Inszenierungen.
Neben dem Schauspiel kann er sich auch im Musiktheater
bewähren, das zeitlebens sein Lieblings-Spielfeld ist. Nicht nur,
dass er so nebenbei den Haushofmeister in Richard Strauss’
­Ariadne auf Naxos an der Wiener Staatsoper gibt, bekommt er
ein tolles Angebot aus Zürich. Alexander Pereira, von 1991 bis
2012 erfolgreicher Direktor der Zürcher Oper, plant mit Nikolaus
Harnoncourt einen Ausflug ins leichtere Fach. Harnoncourt hatte
diesem Opernhaus gemeinsam mit Jean-Pierre Ponnelle von 1975
bis zum Tod des genialen Regisseurs 1988 die aufsehenerregendsten Operninterpretationen beschert, den lange nachwirkenden
Monteverdi- und danach einen die Rezeptionsgeschichte revolutionierenden Mozart-Zyklus. Harnoncourt, als Kind von der
Operettensucht seines Vaters angesteckt, steht der Sinn nach La
belle Hélène von Jacques Offenbach. Ein Regisseur wird gesucht.
150
Drei Jahre später setzt er seine Regiearbeiten an der Zürcher
Oper mit Franz Lehárs Die Lustige Witwe fort. Pereira: »Meine
Erwartungen waren hoch nach dem Erfolg von La belle Hélène.
Ich kam in die Hauptprobe der Lustigen Witwe – und es hat mich
fast der Schlag getroffen. Nichts hat funktioniert, kein Esprit,
kein Witz, nichts hat zusammengepasst, es war ein Desaster. Ich
sah einer Katastrophe entgegen und begann mich darauf einzu151
Heimkehr · 1990 bis 1997
»Wir haben überlegt, wer den Humor, das Slapstickartige,
den Witz dieser Operette inszenieren kann, und da fiel unsere
Wahl auf Helmuth Lohner«, erzählt Alexander Pereira. »Wir
kannten seine unübertroffenen Nestroy-Interpretationen, er
konnte mit großer Ernsthaftigkeit den Humor auf den Punkt
bringen. Und ich wusste, dass er fürs Musiktheater nicht nur ein
Faible hat, sondern auch über großes Wissen verfügt – und so
stand unserem Plan nichts mehr im Weg.«
Es war nicht schwer, Lohner trotz Terminschwierigkeiten zu
überreden, allzumal er mit Nikolaus Harnoncourt, den er als das
»musikalische Gewissen« schlechthin verehrt, arbeiten durfte.
Am 21. April 1994 hat er mit dem Hofreiter im Weiten Land an
der Josefstadt Premiere, bereits fünf Wochen später OffenbachPremiere in Zürich. Und irgendwann in den Jahren 1993/1994
dreht er zwischendurch auch eine 14-teilige Fernsehserie für
Pro7: Der Gletscherclan. Diese Terminkollision kann er nur
überstehen, indem er bestens vorbereitet in Zürich eintrifft. Man
hört ihn zu dieser Zeit auch ständig Melodien aus der Operette
summen, den französischen Couturier Jean-Charles Castelbajac,
der unter anderem Sarah Jessica Parker für die Fernsehserie Sex
and the City eingekleidet hat und damals eine Professur an der
Universität für angewandte Kunst in Wien hatte, kann er als
Kostümdesigner gewinnen, Vesselina Kasarova ist seine wunderbare Belle Hélène. Ein glamouröser Anfang war gemacht.
stellen. Und dann war in der Premiere plötzlich der ganze
Charme da, der »Schmäh« sprühte in den Buffo-Szenen und
Welser-Möst dirigierte leicht und spritzig.«
Die Ausstattung stammte von Rolf Langenfass, der zum allerengsten Freundeskreis des Ehepaares Schenk gehört, der später
unter Lohners Direktion Ausstattungschef an der Josefstadt
wird, viele Opern für Otto Schenk ausstattete und jeden Samstag, den er in Wien verbringt, Renee Schenk zum Flohmarkt
begleitet. Langenfass ermunterte seine Freunde, gemeinsam mit
Harald Serafin, der auf der Suche nach einem Regisseur für seine
Seefestspiele Mörbisch war, die Premiere zu besuchen.
»Nach dieser Lustigen Witwe wusste ich, Helmuth Lohner ist
mein Wunschregisseur. Er weiß nicht nur Bescheid über die
Operette, er hat auch eine Affinität zu dem Genre«, erzählt
Harald Serafin später und beauftragte ihn jeden zweiten Sommer mit insgesamt fünf Inszenierungen.
Wenn es auch keine Weltkarriere wie die seines Freundes
Otto Schenk wurde, bei Weitem nicht, so konnte Lohner doch
regelmäßig eine Oper oder eine Operette oder ein Musical
­ins­zenieren, was ihm größte Freude und Erfüllung bedeutete.
17 Regien sind es geworden. Sogar 2014, sterbenskrank, hat er
die Diagnose Speiseröhrenkrebs für sich geheim gehalten, um
Falstaff in Seoul inszenieren zu können. Opernvirus gegen
Krebs­
tumor. Wer im Angesicht einer lebensbedrohenden
Krankheit die Opernregie einer dringend angeordneten Operation vorzieht, muss vom Musiktheater besessen sein.
Der Erfolg von La Belle Hélène mag ihm den Abschied vom
Jedermann nach dem Sommer 1994 erleichtert haben. Peter Stein
ist seit drei Jahren Schauspieldirektor der Salzburger Festspiele,
reüssiert mit großartigen Inszenierungen von Shakespeares
Römischen Tragödien in der Felsenreitschule, und Gernot
152
In Wien hat Helmuth Lohner am Theater in der Josefstadt keinen Grund zur Klage. Er bekommt viele dankbare, interessante
Aufgaben. Er kann jetzt Rollen nachholen, die an ihm bisher
vorübergegangen sind. Den Heuchler Tartuffe von seinem
geliebten Molière. Regisseur Thomas Schulte-Michels steht mit
Sieghardt Rupp als Orgon, Susi Nicoletti als dessen Mutter
Madame Pernelle, Kitty Speiser als Haushälterin Dorine, André
Pohl als Sohn und des Regisseurs Frau Katharina Rupp als
Elmire ein fabelhaftes Ensemble zur Verfügung.
Lohner spielt den eitlen Dichter Trigorin in Tschechows Die
Möwe, der gewissenlos ein junges in ihn verliebtes Mädchen ins
Elend laufen lässt. Otto Schenk inszeniert mit Christine Ostermayer als selbstsüchtiger Diva Arkadina, die einst Lohners
Salome Pockerl im Salzburger Talisman war und die mit
­Gertraud Jesserer zur engsten Schenk-»Verwandtschaft« gehört,
was für ihn, wie er sagt, die allerhöchste Stufe von Freundschaft
bedeutet.
Genau 30 Jahre davor hat Helmuth Lohner in einem Fernsehfilm von Wolfgang Glück als Arkadinas unglücklicher Sohn
153
Heimkehr · 1990 bis 1997
­ riedel muss die Buhlschaft neu besetzen, da Sunnyi Melles ja
F
schwanger ist. Er entscheidet sich für Steins Lebensgefährtin
und spätere Ehefrau Maddalena Crippa. Die italienische Schauspielerin bleibt es auch bis zu Peter Steins Vertragsende 1997,
mit Ulrich Tukur als Nachfolger von Helmuth Lohner. Dieser
spielt noch eine letzte Rolle in Salzburg: 1996 und 1997 den
Alpen­könig in Raimunds Alpenkönig und Menschenfeind, den
Peter Stein selbst inszeniert. Während Otto Schenk als Rappelkopf eine akklamierte urkomische Charakterstudie eines grantigen Cholerikers liefert, sagt Lohner später über seine mit Ausnahme einer einzigen Szene undankbare Rolle: »Den Alpenkönig
hätte ich nicht mehr spielen sollen.«
155
Heimkehr · 1990 bis 1997
Konstantin gezeigt, wie Gefühle implodieren. Ich scheitere
immer wieder in dem Bemühen, seine vielfältigen Ausdrucksmittel zwischen höchster Sparsamkeit und wildester Exaltiertheit, seine innere Energie in stillsten Momenten und in stürmischer Raserei, seine sprachliche Differenziertheit, seine mal
verhaltene, mal akrobatische Biegsamkeit des Körpers zu
beschreiben. Man musste ihn erleben und man sollte sich dieses
Erlebnis in vielen Filmen und Fernsehaufzeichnungen wieder
und wieder vor Augen führen.
Zum dritten Mal spielt er den Hofreiter im Weiten Land, den
Egomanen mit charmanten Umgangsformen, der die Frauen
und die Freunde ohne Skrupel fallen lässt, so wie er sie ohne
Skrupel benützt hat. Die Qualität, solch vielschichtige Charaktere differenziert und nuancenreich zu entfalten, den Klang und
das Ambiente dieser bestimmten Wiener Gesellschaftsschicht
ohne jegliche Fin-de-Siècle-Verschnörkelung zu treffen, ist mit
Lohner begraben und wird von den Regisseuren auch nicht
mehr angestrebt. Die Hofreiters sollen – Duell hin oder her – in
größerer Nähe zum Heute leben.
Es gilt auch noch Hofmannsthals Unbestechlichen von der
»To-do-Liste« abzuhaken. 1974 hatte Schenk diesen verschmitztherrschsüchtigen Diener gespielt. »Das war eine Freude für
mich, dass ich ihm den Theodor vermachen konnte. Ich hab ihn
sehr gern gespielt an der Josefstadt, und ich glaube, mit Erfolg,
aber das kann man selber ja nicht sagen. Und dazwischen hab
ich das Stück auch inszeniert, in Berlin mit dem Schmidinger.
Das war schön, dass ich ihm aus der Erfahrung der eigenen Wirkungen eine Stütze sein konnte. Leider hatten wir ein sehr schiaches Bühnenbild, es ist auch ein schwieriges Bühnenbild«, und
sich schuldig fühlend fügt Schenk kokett an: »Vielleicht hab ich
zu viel Einfluss genommen.«
Bild- und Textnachweis
Bildnachweis
Deutsches Theatermuseum München, © Oda Sternberg (6), Porträtstudio
Erich Natter (11 links), Theatermuseum Düsseldorf/Lore Bermbach
(11 rechts, 73), Thomas Finkenstaedt (14, 15), Archiv »BÜHNE« (19 oben),
IMAGNO/Österreichisches Theatermuseum (19 unten, 163), Archiv Thea­
ter in der Josefstadt (25, 29, 32), Archiv Theater in der Josefstadt/Ernst
Hausknost (30 links), Pressefoto Bruno Völkel (30/31), Pressebilddienst
Doliwa (31 rechts), Heinz Köster (34, 50, 53 oben links, 53 unten), IMAGNO/
Interfoto (35, 41, 42), Deutsches Theatermuseum München, Archiv Rudolf
Betz (39), IMAGNO/Ullstein (44, 108, 199, 218), IMAGNO/Archiv Hajek
(45), Rosemarie Clausen (47, 58, 70), Deutsches Theatermuseum München,
Archiv Hildegard Steinmetz (53 oben rechts), Chris Nowotny/brain script
GmbH (60), René Haury (63), Lore Bermbach (64), Burgtheater Archiv/
Elisabeth Hausmann (66, 96, 110), Archiv der Salzburger Festspiele/Foto
Anny Madner (81), Karl Schöndorfer (86), Michael Horowitz (89, 91 unten),
Archiv der Salzburger Festspiele/Foto Winfried Rabanus (91 oben links),
Archiv der Salzburger Festspiele/Foto Oskar Anrather (91 oben rechts),
Leonard Zubler (94), Wiener Festwochen (104), Archiv der Salzburger
Festspiele/Foto Harry Weber (113, 119, 120, 127), Foto Harri Irmler (116),
Privatarchiv Elisabeth Gürtler/Foto: Eva Maria Klinger (125), Winfried
Rabanus (132), Foto Weber (134 links), Gernot Friedel (134 rechts),
Vera von Glasner (139), Privatarchiv Elisabeth Gürtler (146, 149, 215),
Archiv Theater in der Josefstadt/Harry Weber (154), Archiv Theater in
der Josefstadt/Weber/Münster (156), Archiv Theater in der Josefstadt/
Moritz Schell (157, 170, 175, 186), Martin Vukovits (160), Archiv Theater
in der Josefstadt/Margit Münster (162, 167, 179, 188), Archiv Theater in
der Josefstadt/Sepp Gallauer (183, 190), Seefestspiele Mörbisch/Christian
Teske (194), Archiv Theater in der Josefstadt/Erich Reismann (205),
Archiv Theater in der Josefstadt/Monika Rittershaus (213), Präsidium der
Salzburger Festspiele (223)
Textnachweis
Originalzitate Karin Baal: Karin Baal, Ungezähmt. Mein Leben. 2012.
© Südwest Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House
GmbH.
248
Wir danken allen Buch- und Zeitungsverlagen für die Abdruckerlaubnis
der im Buch verwendeten Passagen. Der Verlag hat alle Rechte abgeklärt.
Konnten in einzelnen Fällen die Rechteinhaber der reproduzierten
Bilder und Texte nicht ausfindig gemacht werden, bitten wir, dem Verlag
bestehende Ansprüche zu melden.
Für die großartige Unterstützung danken wir Wolfgang Huber-Lang,
Yvonne Ogris, Manuela Seiler, Bernhard Struckmeyer, Bettina Trauner
und den Mitarbeitern der involvierten Theater- und Opernhäuser sowie
folgender Institutionen: Archiv der Salzburger Festspiele, Archiv des
Theaters in der Josefstadt, Bühne-Archiv, CineGraph – Hamburgisches
Centrum für Filmforschung e. V., Deutsches Theatermuseum München,
Filmarchiv Austria, IMAGNO Brandstätter Images, NZZ Redaktionsarchiv,
Österreichisches Theatermuseum, Rollettmuseum Stadtarchiv Baden,
Stadtarchiv Zürich, Theatersammlung Bern, Theatermuseum Düsseldorf.
Quellen
Karin Baal, Ungezähmt, Mein Leben, 2012
Boleslaw Barlog, Theater lebenslänglich, 1981
Friedrich Luft, Berliner Theater 1945–1961, 1961
Wolfgang Petzet, Theater, Die Münchner Kammerspiele 1911-72
Curt Riess, Das Schauspielhaus Zürich, Sein oder Nichtsein eines
ungewöhnlichen Theaters, 1988
Oscar Fritz Schuh, So war es, war es so? Notizen und Erinnerungen eines
Theatermannes, 1980
249
Quellen
Originalzitate Curt Riess: Curt Riess, Das Schauspielhaus Zürich. Sein oder
Nichtsein eines ungewöhnlichen Theaters. © 1988 by LangenMüller in
der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München.
Originalzitate Manfred Wekwerth: Manfred Wekwerth, Erinnern ist
Leben. 2000. © Faber & Faber.
Originalzitate Oscar Fritz Schuh: Oscar Fritz Schuh, So war es, war es so?
Notizen und Erinnerungen eines Theatermannes. Ullstein, 1980.
Alice Schwarzer, Romy Schneider, Mythos und Leben, 1998
Friedrich Torberg, Das fünfte Rad am Thespis-Karren, Band 1 und 2,
1966–1967
Hans Weigel, Tausend und eine Premiere, 1961
Manfred Wekwerth, Erinnern ist Leben, Eine dramatische Autobiographie,
2000
Danksagung
Thomas Baal, Anna Badora & Thomas Finkenstaedt, Gaby Barth, Günther
Beelitz, Frauke Benrath, Michael Dangl, Gerti Drassl, Herbert Föttinger,
­Gernot Friedel, Elmar Goerden, Alexander Götz, Elisabeth Gürtler, Michael
Heltau, Miguel Herz-Kestranek, Hans Hollmann, Christiane Hörbiger,
­
Andrea Jonasson, Berta Kammer, Maria Köstlinger, Therese Lohner, Heinz
Marecek, Eleonore Märkle, Sunnyi Melles, Hans Neuenfels und Elisabeth
Trissenaar, Alexander Pereira, André Pohl, Helga Rabl-Stadler, Ricarda
Reinisch, Michael Rüggeberg, Otto Schenk, Harald Serafin, Toni Slama,
Erwin Steinhauer, Alexander Waechter, Alexandra Winkler, Brigitte Wolf,
Elfie Wollenberger, Christl und Heinz ­Zednik
250