Harvard Business Manager – Der Selbstmord

Diskussion über eine bessere WorkLife-Balance sicher gewesen.
Es macht durchaus Sinn, sich nach
Gabriels Tod das betriebliche Umfeld
anzuschauen. Und hier ist zu sehen:
Seine Tat hat Auswirkungen, sie hat
Nachdenklichkeit und Betroffenheit
ausgelöst und eine generelle Diskussion über die zunehmende Arbeitsbelastung in Gang gebracht.
In einer solchen Situation muss sich
jeder – insbesondere die Geschäftsleitung – die Frage stellen, wie konkret
eine offene Unternehmens- und Führungskultur aussieht, die es allen ermöglicht, ihre Leistungen zu erbringen.
Gibt es eine Kultur der Achtsamkeit?
Wie wird mit wachsenden Anforderungen umgegangen? Gibt es Hilfsangebote für Mitarbeiter? Wird es gefördert
und ist es erwünscht, dass sich die
Mitarbeiter füreinander verantwortlich
fühlen? So wie Nolte es tut.
Was sollte sie noch unternehmen?
Sie sollte ihren Vorgesetzten Jens Bondai deutlich auf seine unsensible Reaktion ansprechen. Sie sollte den Suizid
von Gabriel zu einem Thema in der
Geschäftsleitung machen. Doch Betroffenheit allein nutzt nichts, wenn sie
nicht kanalisiert wird. Frau Nolte kann
den traurigen Anlass nutzen, eine Diskussion darüber zu entfachen, was das
Unternehmen tun kann, um derartige
Vorfälle künftig so gut es geht zu vermeiden. Und zwar sehr weit im Vorfeld
solcher ultimativen Handlungen.
Gabriels Selbstmord kann dann einen Sinn gehabt haben, wenn er dazu
führt, dass ComSpar sich damit beschäftigt, eine Unternehmenskultur
und -Ethik zu schaffen, in der eine
positive Führungskultur gelebt wird.
Die sich durch Achtung, Respekt und
Wertschätzung auszeichnet.
FOTO: PR
D
er Suizid ist eine sonderbare
Handlung. Einerseits ist er eine
Freiheitstat. Der Mensch ist das
einzige Lebewesen, das bewusst und
frei den eigenen Tod herbeizuführen
vermag. Andererseits ist ein Suizid immer eine Verzweiflungstat.
In jedem Fall ist der Freitod an sich
eine eigenverantwortliche Entscheidung des Betroffenen, der keinen Sinn
mehr im Leben sieht. Es gibt allerdings
keinen monokausalen Zusammenhang
zwischen dem Entschluss zu einem
Selbstmord und den äußeren Faktoren
der Arbeitswelt – sei es nun Arbeitsüberlastung, Leistungsdruck, Unzufriedenheit mit der Arbeitssituation, Probleme mit dem Vorgesetzten. Immer
spielen auch persönliche und psychische Probleme eine Rolle: etwa mangelnde Selbstliebe, Schwierigkeiten in
der Familie oder schlicht Einsamkeit.
Trotzdem ist es wichtig, sich auch im
betrieblichen Umfeld die Frage zu stellen: Hätten wir uns anders verhalten
können? Es geht dabei nicht um Schuldfragen, es geht um verantwortliches
Handeln.
Knut Gabriel hätte dringend Unterstützung gebraucht. Und Ilona Nolte
und auch den Kolleginnen und Kollegen ist das nicht entgangen. Aber niemand hat ihn angesprochen. Im Nachhinein ist auch leicht zu sehen, dass
Gabriels Bitte um ein Gespräch ein versteckter Hilferuf war. Sein Verhalten
deutet darauf hin, dass er möglicherweise einen Burn-out hatte, vielleicht
auch schon an einer Depression litt.
Doch die genaue Diagnose ist nicht
so wichtig für das betriebliche Umfeld.
Es reicht meist die normale Lebenserfahrung, um Veränderungen in der
Persönlichkeit und im Arbeitsverhalten wahrnehmen zu können. Dabei
geht es nicht nur um Leistungsabfall.
Auch ein Zuviel an Engagement sollte
für Führungskräfte ein Anlass sein,
besonders aufmerksam zu sein und auf
den Mitarbeiter einzuwirken. Selbstverständlich weiß niemand, ob ein
frühzeitiges Gespräch den Suizid verhindert hätte. Aber sinnvoll wäre eine
WERNER FÜRSTENBERG
ist Gründer und Geschäftsführer des Fürstenberg Instituts
in Hamburg. Es bietet externe
Mitarbeiterberatung (EAP)
in Krisenfällen an – auch für
Führungskräfte.
„DIE LEITUNG
MUSS SICH DIE
FRAGE STELLEN,
WIE EINE
OFFENE UNTERNEHMENS- UND
FÜHRUNGSKULTUR
AUSSCHAUT.“
NACHDRUCK
Nummer 201110090, siehe Seite 108
oder www.harvardbusinessmanager.de
© 2011 Harvard Business Manager
OKTOBER 2011 HARVARD BUSINESS MANAGER
97
Nachdruck aus dem Oktober-Heft 2011
DER SELBSTMORD
Von Christina Kestel
90
HARVARD BUSINESS MANAGER OKTOBER 2011
FALLSTUDIE
DER SELBSTMORD
Ilona Nolte, Leiterin einer Filiale der Berliner ComSpar Bank, erlebt den Härtetest
für ihre Karriere: Einer ihrer Mitarbeiter nimmt sich das Leben.
Die Geschäftsführung sieht die Ursache im Privatleben. Doch die Kollegen machen
den Druck im Büro dafür verantwortlich.
VON CHRISTINA KESTEL
ILLUSTRATION: MAREN AMINI FÜR HARVARD BUSINESS MANAGER
S
chwungvoll trat Ilona Nolte
aus der Drehtür heraus in
die lichte Empfangshalle der
ComSpar Bank. Ihr Blick fiel
auf die große Uhr über dem
Empfangstresen – die Zeiger standen
auf Viertel nach acht. Der Empfangschef hatte eine Nachricht für sie:
„Guten Morgen, Frau Nolte, Herr
Trummer hat sich für zehn Uhr angekündigt!“ „Alles klar, vielen Dank“,
rief Nolte und ging in Richtung Fahrstuhl.
Die Filialleiterin der ComSpar-Niederlassung in Berlin-Steglitz war für
einen Montagmorgen spät dran. Und
das ausgerechnet heute, wo ein wichtiges Gespräch mit ihrer Belegschaft
anstand und sie sich noch ein paar
Argumente dafür zurechtlegen wollte.
Aber ihre Kinder hatten ein pünktliches Erscheinen bei der Arbeit durch
ihre Streitigkeiten zu verhindern gewusst.
Ein morgendlicher Stau und zu viele
unerledigte E-Mails, die via Blackberry
eintrudelten, trugen ihren Teil zu der
Verspätung bei.
Hätte sie zu diesem Zeitpunkt gewusst, was der Tag noch an unangenehmen Entwicklungen für sie parat hielt,
hätte sie über diese Kleinigkeiten vermutlich geschmunzelt. Sie atmete tief
durch, als sich die Fahrstuhltür hinter
ihr schloss. Ein paar Sekunden Ruhe.
„Was Kai Trummer wohl besprechen
will?“, fragte sie sich. Normalerweise
bemühte sich der Personalchef der
ComSpar nicht extra von der Zentrale
am Potsdamer Platz in die Steglitzer
Filiale.
Nolte verließ den Aufzug in der
obersten Etage und steuerte ihr Büro
an. Worum auch immer es ging, sie
konnte definitiv keine neuen Probleme
gebrauchen. Die 37-Jährige hatte genügend auf der Agenda. Ein Blick in
ihren Terminkalender ließ sie erneut
aufseufzen. Da war zum einen ein
wichtiger Jour fixe zur Softwareumstellung für die gesamte Abteilung, die
sich seit Wochen hinzog. Und dann die
Konferenz um 13 Uhr, bei der sie den
Kollegen die neuen, härteren Zielvorgaben aus der Zentrale verkünden
musste.
Eine Aufgabe, die Nolte Bauchschmerzen bereitete. Trotz diverser
Führungstrainings fühlte sie sich immer noch unwohl, wenn sie schlechte
Nachrichten zu überbringen hatte.
Schließlich war sie noch nicht lange im
oberen Management tätig. Angefangen
hatte sie bei ComSpar als Beraterin für
Privatkunden. Erst zwei Jahre zuvor
war sie Leiterin der Filiale im Steglitzer
Einkaufscenter mit 21 Mitarbeitern
geworden. Nur kurz hatte sie für ihre
beiden Kinder Elternzeit genommen,
zu wichtig war ihr die Bestätigung
im Berufsleben. Ihr Job hatte Nolte
immer Spaß gemacht, doch in den
zurückliegenden Monaten hatten sich
die Rahmenbedingungen deutlich verschärft.
Wie alle in der Branche hatte ComSpar unter den Auswirkungen der
Finanzkrise zu leiden. Die Bank war
OKTOBER 2011 HARVARD BUSINESS MANAGER
91
MEINUNGEN PERSONAL
hauptsächlich in Berlin vertreten, sie
verfügte über rund 110 Filialen und
30 Privatkundencenter mit insgesamt
3700 Mitarbeitern. Einige Filialen und
Center ergänzten im umliegenden
Brandenburg das Angebot. Nach den
Umstrukturierungen im Zuge der
Finanzkrise wurde bei den Personalausgaben kräftig gespart, rund 300 Mitarbeiter mussten gehen oder wurden
vorzeitig in den Ruhestand versetzt.
mer weiter, „und die Polizei geht von
bewusster Tötungsabsicht aus. Man hat
bei ihm zu Hause einen Abschiedsbrief
gefunden.“ „Selbstmord!“, rief Nolte,
„das kann doch gar nicht sein!“ Sie war
aufgesprungen und sah Trummer mit
versteinertem Gesicht an. „Leider
doch“, sagte Trummer. „Wie wollen Sie
es der Belegschaft mitteilen?“
Noltes Gedanken schwirrten wild in
ihrem Kopf herum, als Trummer wie-
„ICH MUSS GEHEN“, SAGTE NOLTE. SIE HATTE
DAS GEFÜHL, IN EINEN STRUDEL VON
PROBLEMEN HINEINGEZOGEN ZU WERDEN.
Nolte musste drei Mitarbeitern kündigen. Zu allem Überfluss hatte ihr Stellvertreter die Bank vor ein paar Monaten
verlassen. Die Neubesetzung dieser
Stelle war vorgesehen, aber noch nicht
erfolgt.
EINE SCHWERE AUFGABE
Trummer klopfte an Noltes offene
Bürotür. Sie stand gedankenverloren
am Fenster und sah hinaus. Auf der
Schlossstraße in Steglitz herrschte an
diesem sonnigen Vormittag im April
reges Treiben.
„Hallo, Frau Nolte. Da bin ich“, sagte
der Personalchef und schloss die Tür
hinter sich. Ohne Umschweife kam er
zum Thema: „Frau Nolte, es ist etwas
Schreckliches passiert. Die Polizei rief
heute Morgen an und teilte mir mit,
dass Herr Gabriel am Wochenende
tödlich verunglückt ist.“
Nolte musste sich setzen. Knut Gabriel war einer ihrer Berater gewesen.
Mitte 40, pflichtbewusst, fleißig und
einer ihrer besten Verkäufer. „Das ist ja
grauenvoll“, murmelte sie und blickte
zu Boden. „Er ist am Samstag mit seinem Wagen auf der Landstraße gegen
einen Baum geprallt“, erzählte Trum92
HARVARD BUSINESS MANAGER OKTOBER 2011
der gegangen war. Gabriel tot, Selbstmord! Wie verzweifelt muss jemand
sein, der diesen Schritt tut? Sie erinnerte sich an sein Anliegen am Donnerstag zuvor. Er war plötzlich in ihrem
Büro aufgetaucht und hatte sie gebeten,
mit ihm zu Mittag zu essen. Gabriel
hatte nervös gewirkt und von einem
Fehler gesprochen. Doch sie hatte ihn
wegen einer Besprechung mit der IT
auf diese Woche vertröstet. Normalerweise hatte sie immer ein offenes Ohr
für ihre Mitarbeiter, aber in letzter Zeit
hatte sie zu viele Termine. Was genau
hatte er nur auf dem Herzen gehabt?
Und wie schwerwiegend konnte das
gewesen sein, dass er diesen Schritt gemacht hatte? Sie hätte nachfragen sollen. Ein weiterer Gedanke tauchte auf,
der ihr wenig gefiel: Ihr bester Berater
war abgetreten – ausgerechnet jetzt in
dieser schwierigen Situation. „Schäm
dich, so was zu denken!“, schalt sie sich
selbst. Was war nur mit ihr los?
Nolte brauchte dringend frische Luft
und lief die Treppen hinunter zum
Hintereingang. Sie stieß die Tür zur
ruhigen und schattigen Seitenstraße
auf und atmete tief ein. Doch sogleich
musste sie husten. Zigarettenrauch
stieg ihr in die Lunge. Nolte blickte
nach rechts und entdeckte Simone
Langfeld, eine langjährige Kollegin.
„Na, welche Laus ist dir denn über die
Leber gelaufen?“, fragte Langfeld neugierig, als sie Noltes irritiertes und ernstes Gesicht erblickte. Nolte zögerte
kurz. Durfte sie ihr von dem Unglück
erzählen, bevor es die anderen Kollegen wussten? Doch dann brach es aus
ihr heraus.
„Unfassbar!“, kommentierte Langfeld die kurze Schilderung ihrer Chefin. „Warum macht einer so etwas?“
Noltes Frage war eher rhetorisch gemeint, doch ihre Kollegin hatte eine
unerwartete Antwort darauf: „Na bestimmt war ihm der Druck bei der
Arbeit zu groß geworden.“ Sicher, der
Vertriebsdruck war in den vergangenen
Jahren deutlich gestiegen. Jeder Mitarbeiter war angewiesen, den Kunden
so viele Produkte wie möglich zu verkaufen. Nolte war bekannt, dass Gabriel darunter gelitten hatte; sie hatten
das bereits in Gesprächen erörtert und
ein paar Lösungswege aufgezeigt. Aber
war das ein Grund, sich das Leben zu
nehmen?
„Na ja“, Langfeld druckste ein wenig,
„du wirst doch sicher bemerkt haben,
dass sich das Klima bei uns drastisch
verschlechtert hat. Viele von uns arbeiten für zwei, da greift Unzufriedenheit
um sich. Und seit der Finanzkrise beäugen die Kunden ihre Berater immer
misstrauischer, weswegen wir auch
weniger Produkte verkaufen.“
Dieser Sachverhalt war Nolte nicht
neu. Aber dass alle Frust schoben, wusste sie nicht. Hatte sie sich zu wenig um
die Belange ihrer Mitarbeiter gekümmert? Hatte sie ihre Fürsorgepflichten
verletzt? Warum war ihr das nicht aufgefallen? „Ich muss gehen“, sagte Nolte
und brach das Gespräch abrupt ab. Sie
hatte das Gefühl, in einen Strudel von
Problemen hineingezogen zu werden.
GESCHOCKTE KOLLEGEN
Mit gemischten Gefühlen betrat Nolte
gegen 13 Uhr den Konferenzraum, in
dem sich ihre Belegschaft versammeln
Tischplatte nach. Ein Mitarbeiter
wischte sich die Tränen aus dem Augenwinkel, eine Kollegin schnäuzte in
ihr Taschentuch.
Ilona Nolte fühlte sich unwohl. Was
sollte sie sagen, wie sollte sie ihre
Mitarbeiter trösten? Auf eine solche
Situation war sie überhaupt nicht vorbereitet. Es fühlte sich an wie ein Schlag
ins Gesicht – und danach war alles
taub. Nolte räusperte sich. Selbst in
ihren eigenen Ohren klang es hölzern,
als sie sich sagen hörte, dass sie sprachlos sei und nach Gründen für Gabriels
Tat suche. Am liebsten hätte sie sich
wieder in ihrem Büro verkrochen.
Doch ihr Pflichtgefühl überwog. Nur
sehr mühsam entwickelte sich eine
Diskussion.
Boettger fasste sich ein Herz: „Wir
sind sicher ähnlich sprachlos wie Sie,
Frau Nolte. Aber nachvollziehbar finden wir seine Handlung sehr wohl.
ILLUSTRATION: MAREN AMINI FÜR HARVARD BUSINESS MANAGER
sollte. Alle Kollegen saßen bereits dort
und steckten tuschelnd die Köpfe zusammen, als sie durch die Tür trat.
„Hallo zusammen“, begrüßte Nolte
ihre Mitarbeiter betont freundlich. Sie
erntete erschrockene und ernste Gesichter. Wussten Sie etwa schon von
Gabriels Unfall? „Eigentlich hatte ich
Sie alle aus einem anderen Grund hergebeten, aber mein Anliegen wird von
einem tragischen Unglück überschattet“, sagte sie.
„Wir wissen es schon“, unterbrach
sie einer aus der Runde. „Gabriels
Schwester hat heute Morgen auf seiner
Rufnummer angerufen“, erklärte Marc
Boettger, einer der Berater. „Wir sind
untröstlich“, fasste seine Kollegin
Silvia Meindel aus dem Service die
Stimmung zusammen.
Alle schwiegen. Einige blickten auf
den Konferenztisch, zogen mit den
Fingerspitzen die Holzmaserung der
Knut hat sich wohl nicht anders zu
helfen gewusst.“
Nolte runzelte die Stirn. „Er hat sich
richtig reingehängt in seine Arbeit. War
morgens als Erster da, ging abends als
Letzter. Nur um die Zahlen zu schaffen.
Er hatte nur noch seine Abschlüsse im
Kopf. Seine Ehe ist deswegen in die
Brüche gegangen, und dann ist er selbst
daran zerbrochen“, erläuterte Marc
Boettger mit fester Stimme. Er zögerte
kurz, bevor er weitersprach. „So weit
hätte es nie kommen dürfen. Ein früheres Eingreifen wäre sinnvoll gewesen.
Uns allen geht es nicht sehr viel anders,
es wäre wünschenswert, dass wir mit
Ihnen generell über unsere aktuelle
Arbeitssituation reden könnten“, fügte
er hinzu.
Ilona Nolte wusste, dass Gabriel
frisch geschieden und im Internet auf
Partnersuche gewesen war, aber das
war eigentlich auch schon alles. Zu
wenig für jemanden, der wie sie ein
Eigengewächs der ComSpar war und
lange Zeit in der gleichen Filiale gearbeitet hatte. Immer pünktlich, immer
korrekt, zuverlässig, eben der Typ
Leistungsträger, den sich eine Chefin
wünscht. Ihr fiel der Fehler ein, den
Gabriel in seinem letzten Gespräch mit
ihr erwähnt hatte. Was zum Teufel
steckte dahinter? Was hatte es damit
auf sich?
„Wir sollten Kerzen aufstellen und
vielleicht eine kleine Trauerfeier organisieren“, meinte Silvia Meindel. „Aber
nur im kleinen Kreis, nur unsere Filiale“, fügte sie hinzu.
„Ja, natürlich“, sagte Nolte. „Wer
möchte das organisieren?“, fragte sie in
die Runde. Ihre Frage blieb unbeantwortet, denn die Tür zum Konferenzraum ging auf und ihre Assistentin kam
herein und legte ihrer Chefin einen Zettel auf den Tisch. Darauf stand: „Herr
Bondai ist am Telefon. Er möchte dich
unverzüglich sprechen.“ Jens Bondai
war der Geschäftsleiter aus der Zentrale am Potsdamer Platz. Dies duldete
keinen Aufschub, das wusste Nolte intuitiv, entschuldigte sich bei ihren Mitarbeitern und lief eilig in ihr Büro.
OKTOBER 2011 HARVARD BUSINESS MANAGER
93
MEINUNGEN PERSONAL
KEINE HILFE VOM CHEF
Jens Bondais Stimme klang ernst, als sie
den Hörer abnahm. „Frau Nolte, ich
habe eben gehört, dass sich einer ihrer
Berater das Leben genommen hat. Das
ist ein tragischer Vorfall, den wir so
noch nicht hatten. Wie hat sich das
zugetragen?“ Er war freundlich bemüht, Anteilnahme zu zeigen, aber es
klang in Noltes Ohren trotzdem wie
eine Anklage.
„Ja, wir sind alle sehr geschockt“,
antwortete sie. „Noch können wir uns
nicht erklären, warum er das getan hat.
Ich hole derzeit über seine Kollegen
Informationen ein.“ Ihre Augen füllten
sich mit Tränen. Nein, nicht gerade
jetzt, wo sie stark sein und ihrem Chef
signalisieren wollte, dass sie alles im
Griff hatte. Sie legte eine Hand auf den
Telefonhörer und schluckte schwer.
„Vermutlich liegen die Gründe im
Privatleben. Das ist doch oft so“, meinte Bondai, „wie ich hörte, hatte er persönliche Probleme; geschieden, keine
Neue gefunden, frustriert, vielleicht
schon dem Alkohol verfallen. Man
kennt das ja – immer wieder dieselbe
Geschichte.“
Nolte schämte sich für das, was ihr
Chef da sagte. Wie konnte er so unsensibel sein? Nicht auszudenken, wenn er
erfuhr, was ihr Team über die Gründe
für Gabriels Selbstmord dachte.
„Na ja“, fuhr Bondai fort, „jetzt wird
noch ein bisschen getrauert, und in
zwei, drei Wochen ist die Geschichte
schon wieder vergessen. Wann soll ich
zur Trauerfeier kommen?“, fragte er.
„Das weiß ich noch nicht“, log sie.
Wie sollte sie ihrem Team erklären,
dass der allseits unbeliebte Chef zur
Feier kommen wollte?
„Halten Sie mich auf dem Laufenden.
Hatten Sie übrigens schon Gelegenheit,
Ihre Mitarbeiter über die neuen Vorgaben zu informieren?“, fragte Bondai.
„Nein, dazu bin ich noch nicht gekommen.“ „Denken Sie daran: Was
auch immer passiert ist, das duldet keinen Aufschub.“
Bondai legte auf. Nolte lehnte sich in
ihren Schreibtischstuhl zurück. War
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HARVARD BUSINESS MANAGER OKTOBER 2011
das hier ein Albtraum oder erlebte sie
das alles wirklich?
Als Ilona Nolte gegen Abend ihr Büro
verließ, fühlte sie sich noch immer
schlecht. Stechende Schmerzen oberhalb der Schläfe hatten sie den ganzen
Nachmittag über begleitet, auch Tabletten hatten nicht dagegen geholfen.
Der Schock über den Verlust von Knut
Gabriel und die Wut auf ihren gefühlskalten Chef wogen schwer genug. Aber
auch ihr Versäumnis in der vergangenen Woche, Gabriels Bitte um ein Gespräch nicht nachgekommen zu sein,
belastete sie. Sie hätte ihm zuhören sollen, gerade weil er ein dringendes Problem auf dem Herzen zu haben schien.
Vielleicht hätte er sich dann nicht
umgebracht. Nolte war sich sicher: Sie
hatte ihre Fürsorgepflicht verletzt.
Sie dachte an den Fehler, der er kurz
angesprochen hatte. Was hatte er damit
gemeint? Ihr war nichts aufgefallen. Sie
beschloss, am nächsten Morgen das
Controlling zu bitten, sich die Abschlüsse von Gabriel anzuschauen.
Auf ihrem Weg nach draußen machte
sie noch einen kurzen Umweg durch
die Kundenhalle im Erdgeschoss. Alle
waren bereits gegangen, der große,
helle Raum strahlte eine unheimliche
Ruhe aus. Auf Gabriels Schreibtisch
standen ein paar Teelichter, eine Blume
und ein Bild von ihm, versehen mit
einem Trauerflor. Die Kollegen hatten
einen Ort des Gedenkens geschaffen.
Nolte schluckte schwer, Angst stieg in
ihr hoch. Ihre Kollegen würden Trauerhilfe brauchen, sie hatte am Nachmittag einen Psychologen angeheuert,
der bereits am folgenden Tag kommen
sollte. Doch wie lange würde es dauern,
bis sie alle wieder zurück ins normale
Geschäft finden würden? Wie sollte sie
ihr überlastetes Team von der Notwendigkeit verschärfter Ziele überzeugen, ohne seine Unterstützung zu
verlieren? Und wie sollte sie dem Geschäftsführer begegnen, der sich selbst
zur privaten Trauerfeier eingeladen
hatte? Sie würde in den kommenden
Tagen viele schwierige Entscheidungen
treffen müssen.
WAS RATEN EXPERTEN?
Wie soll sich Ilona Nolte verhalten?
Drei Fachleute beurteilen den Fall.
WAS RATEN SIE?
Auf www.harvardbusinessmanager.de/
Fallstudie können Sie Ihren eigenen
Kommentar abgeben. Oder Sie treten
unserer Xing-Gruppe bei: www.xing.com/
net/harvardbusinessmanager
Harvard-Fallstudien greifen typische
Probleme des Manageralltags auf und bieten
konkrete Lösungsvorschläge von Experten.
Diesen Fall entwickelte
CHRISTINA KESTEL, Redakteurin des
Harvard Business Managers.
Situationen auf, die sie eher zusätzlich
belasten werden. Wir wissen aus der
Forschung, dass neben guten persönlichen Ressourcen die soziale Unterstützung der wichtigste Faktor zur Bewältigung schwerer Belastung ist.
Mein Rat: Zuerst einmal müssen
diese Sachverhalte mit Nolte ausführlich besprochen werden: Sie muss
wissen, dass sie gesund ist und über
gute Ressourcen verfügt und dass ihr
Erleben und Verhalten völlig angemessen sind. Sie muss auch wissen, dass
jetzt eine Situation eingetreten ist, die
jede andere gesunde Person auch
überfordern würde. Und dass es völlig
normal ist, wenn es einige Tage dauert,
bis alle wieder ins normale Geschäft
zurückfinden.
Es sollte ihr aber auch klargemacht
werden, dass die Forderung ihres
Chefs, das Team gerade jetzt von der
Notwendigkeit verschärfter Ziele zu
überzeugen, nicht hilfreich ist und von
mangelhafter Führungsqualität zeugt.
Er ist ein typischer Vertreter jener Manager, die abhängige Mitarbeiter ständig überfordern.
Vielleicht würde Ilona Nolte das
folgende Bild helfen: „Stellen Sie sich
einmal vor, Ihre Mitarbeiter sind alle
Weltmeister im Hochsprung, Sie werden aber von Ihrem Chef aufgefordert,
die Latte immer etwas höher zu legen,
ohne dass Ihre Mitarbeiter dies so richtig merken oder beeinflussen könnten.
Und Sie sollen ihnen immer sagen: ,Das
schafft Ihr schon! Das habt Ihr doch
immer geschafft! Nehmt einfach mehr
Anlauf!‘ Sie sollen als Trainerin alle
weiter antreiben, bis zur psychischen
und körperlichen Erschöpfung. Merken Sie denn nicht, dass Ihr Chef das
auch mit Ihnen macht?“
Dem Geschäftsführer sollte sie klarmachen, dass es keine gute Idee ist, unter diesen Bedingungen zu der privaten
Trauerfeier erscheinen. Das ist ein sehr
schwieriger Konflikt. Ich würde ihr raten, sich nach beruflichen Alternativen
umzusehen. Bei ihren Begabungen und
Ressourcen dürfte das vielleicht nicht
ganz so schwierig sein.
FOTO: PR
D
ie Bewältigung von Belastungen
ist für jeden Menschen eine
existenzielle Aufgabe. Ob und
wie ein Individuum in der Lage ist, mit
Belastung umzugehen, ist abhängig
von seiner seelischen und körperlichen
Verletzlichkeit (Vulnerabilität) und seiner Widerstandsfähigkeit angesichts
seiner eigenen Ressourcen (Resilienz).
Um einen Menschen in psychischer
Not beraten zu können, muss man sich
zunächst über dessen Bewältigungsmöglichkeiten und seine psychischen
und psychosozialen Ressourcen klar
werden.
Im Fall von Ilona Nolte ist zuerst einmal festzustellen, dass diese 37-jährige
Mutter zweier Kinder mit einer gleichzeitig bemerkenswerten beruflichen
Karriere offensichtlich über viele Ressourcen und über gute Bewältigungsstrategien verfügt. Nichts spricht für
eine psychische Störung oder mangelnde Belastbarkeit. Im Gegenteil,
Nolte erscheint psychisch gesund,
stabil, belastbar mit einem aktiven und
lösungsorientierten Bewältigungsstil.
Trotz der doch erheblichen psychosozialen Belastung durch den Suizid
des engen Mitarbeiters reagiert sie angemessen. Das zeigen ihre Empfindungen: Die ihr bewusste Ambivalenz zwischen Schuldimpuls („Hätte ich nachfragen sollen, um das zu verhindern?“)
und gleichzeitig aufkeimender Verärgerung („Ausgerechnet jetzt, in dieser
schwierigen Situation, tritt mein bester
Berater ab“) ist völlig normal.
Worin liegt nun eine Gefahr? Der
plötzliche und unerwartete Verlust
eines nahestehenden Menschen stellt
grundsätzlich immer ein Risiko für die
Entwicklung einer sogenannten Anpassungsstörung oder sogar einer posttraumatischen Belastungsstörung dar.
Eigentlich besteht bei Ilona Nolte hier
keine Gefahr, wenn da nicht Jens
Bondai wäre – ihr als gefühlskalt bezeichneter Chef. Warum? Er verweigert Nolte soziale Unterstützung, die
sie zur Bewältigung dieser doch erheblichen Belastung braucht. Im Gegenteil, er drängt ihr Handlungen und
WOLFGANG SENF
ist Professor an der Universität
Duisburg-Essen und leitet das
LVR-Klinikum für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in Essen. Er ist spezialisiert
auf Traumafolgestörungen.
„ILONA NOLTE IST
BELASTBAR,
FÜR SIE BESTEHT
EIGENTLICH KEINE
GEFAHR, WENN
DA NICHT IHR CHEF
JENS BONDAI
WÄRE.“
OKTOBER 2011 HARVARD BUSINESS MANAGER
95
MEINUNGEN PERSONAL
FOTO: PR
I
GERHARD NAGEL
ist Managementcoach und
Change-Berater. Der Autor
diverser Fachbücher, darunter
„Chefs am Limit“, ist Geschäftsführer des Beratungsunternehmens Nagel.Maier.Partner.
„ILONA NOLTES
VERHALTEN
ZEIGT, DASS IHR
WICHTIGE
EIGENSCHAFTEN
EINER GUTEN
FÜHRUNGSKRAFT
FEHLEN.“
96
HARVARD BUSINESS MANAGER OKTOBER 2011
lona Nolte ist das typische Beispiel
für eine völlig überforderte, nur
noch reagierende Führungskraft.
Auch ohne den Selbstmord eines ihrer
Berater agiert die Dame schon an der
Grenze ihrer Möglichkeiten. Den eigenen Mitarbeitern neue Zielvorgaben
der Unternehmenszentrale zu vermitteln ist in einem Konzern Routine und
darf eine Führungskraft nicht mental
belasten.
Natürlich ist es für eine mittlere
Führungskraft in ihrer Sandwich-Position immer schwierig, den Mitarbeitern
Ziele zu kommunizieren, zu denen
man selbst nicht oder nur teilweise stehen kann. Dieses Dauerdilemma lässt
sich nur lösen, wenn Nolte sich ihre
eigene Haltung und Position ganz klarmacht. Sie muss sich die Frage stellen:
Wie stark stehe ich selbst zu den Zielen
der Zentrale? Kann und will ich sie mit
aller Kraft verfolgen, oder halte ich sie
für falsch? Wenn Letzteres zutrifft,
muss die Führungskraft das Standing
und die Zivilcourage haben, „oben“ mit
klaren Argumenten für ihre abweichende Meinung zu kämpfen.
Aber Ilona Nolte hat ja durch den
Selbstmord ihres Mitarbeiters plötzlich
ganz neue, viel tiefgreifendere Probleme bekommen. Natürlich kann sich
eine Führungskraft auf einen solchen
emotionalen Ernstfall kaum vorbereiten. Der Selbstmord eines Mitarbeiters
ist ein singuläres Ereignis, auf das man
nur spontan und intuitiv reagieren
kann. Und hier zeigt sich eben, wer das
Zeug zu einer wirklichen Führungskraft hat, wem die richtige Balance
zwischen dem Zeigen von Gefühlen
und dem Wahren der Effizienz gelingt.
Doch Nolte zeigt durch ihr Verhalten
leider, dass ihr wichtige Eigenschaften
einer guten Führungskraft fehlen. Sie
lässt sich vom Gang der Dinge überrollen, macht Anfängerfehler und gerät
in die Defensive – weil sie mit ihren
eigenen Gefühlen und Zweifeln nicht
schnell genug klarkommt und weil ihr
offensichtlich der Führungsinstinkt für
das richtige Handeln in der richtigen
Sekunde fehlt:
Erstens: Das spontane Gespräch mit
der Kollegin beim Rauchen vor der offiziellen Information war falsch.
Zweitens: Eine Teamdiskussion über
einen Zusammenhang zwischen dem
Arbeitsdruck und dem Selbstmord des
Kollegen zuzulassen war töricht und
brandgefährlich.
Drittens: Die höchst sensible Teamsitzung wegen eines Anrufs ihres Chefs
zu verlassen war falsch und äußerst
unklug.
Wie will Ilona Nolte die sowieso
schon fatal laufende Teamdiskussion
wieder einfangen, wenn sie mitten in
der Veranstaltung einfach davonläuft?
Dass die Mitarbeiter selbst spontane
Trauerrituale abhalten, zeigt nur
nochmals, wie sehr die Führungskraft
jede Gestaltungsfähigkeit in der Situation verloren hat.
Nolte wird sich fragen lassen müssen, was sie im Vergleich zu ihren Mitarbeitern als Chefin auszeichnet. Die
große Chance, in einer nicht planbaren
ernsten Situation Führung und Stärke
zu zeigen, hat sie jedenfalls gründlich
vertan. Diesen schlechten Eindruck in
den nächsten Wochen wieder vergessen zu machen wird nicht einfach
sein, aber durch eine ehrliche, selbstkritische Aufarbeitung mit dem Team
bekommt sie vielleicht eine zweite
Chance. Eine dritte wird es für sie
sicher nicht geben.
Diskussion über eine bessere WorkLife-Balance sicher gewesen.
Es macht durchaus Sinn, sich nach
Gabriels Tod das betriebliche Umfeld
anzuschauen. Und hier ist zu sehen:
Seine Tat hat Auswirkungen, sie hat
Nachdenklichkeit und Betroffenheit
ausgelöst und eine generelle Diskussion über die zunehmende Arbeitsbelastung in Gang gebracht.
In einer solchen Situation muss sich
jeder – insbesondere die Geschäftsleitung – die Frage stellen, wie konkret
eine offene Unternehmens- und Führungskultur aussieht, die es allen ermöglicht, ihre Leistungen zu erbringen.
Gibt es eine Kultur der Achtsamkeit?
Wie wird mit wachsenden Anforderungen umgegangen? Gibt es Hilfsangebote für Mitarbeiter? Wird es gefördert
und ist es erwünscht, dass sich die
Mitarbeiter füreinander verantwortlich
fühlen? So wie Nolte es tut.
Was sollte sie noch unternehmen?
Sie sollte ihren Vorgesetzten Jens Bondai deutlich auf seine unsensible Reaktion ansprechen. Sie sollte den Suizid
von Gabriel zu einem Thema in der
Geschäftsleitung machen. Doch Betroffenheit allein nutzt nichts, wenn sie
nicht kanalisiert wird. Frau Nolte kann
den traurigen Anlass nutzen, eine Diskussion darüber zu entfachen, was das
Unternehmen tun kann, um derartige
Vorfälle künftig so gut es geht zu vermeiden. Und zwar sehr weit im Vorfeld
solcher ultimativen Handlungen.
Gabriels Selbstmord kann dann einen Sinn gehabt haben, wenn er dazu
führt, dass ComSpar sich damit beschäftigt, eine Unternehmenskultur
und -Ethik zu schaffen, in der eine
positive Führungskultur gelebt wird.
Die sich durch Achtung, Respekt und
Wertschätzung auszeichnet.
FOTO: PR
D
er Suizid ist eine sonderbare
Handlung. Einerseits ist er eine
Freiheitstat. Der Mensch ist das
einzige Lebewesen, das bewusst und
frei den eigenen Tod herbeizuführen
vermag. Andererseits ist ein Suizid immer eine Verzweiflungstat.
In jedem Fall ist der Freitod an sich
eine eigenverantwortliche Entscheidung des Betroffenen, der keinen Sinn
mehr im Leben sieht. Es gibt allerdings
keinen monokausalen Zusammenhang
zwischen dem Entschluss zu einem
Selbstmord und den äußeren Faktoren
der Arbeitswelt – sei es nun Arbeitsüberlastung, Leistungsdruck, Unzufriedenheit mit der Arbeitssituation, Probleme mit dem Vorgesetzten. Immer
spielen auch persönliche und psychische Probleme eine Rolle: etwa mangelnde Selbstliebe, Schwierigkeiten in
der Familie oder schlicht Einsamkeit.
Trotzdem ist es wichtig, sich auch im
betrieblichen Umfeld die Frage zu stellen: Hätten wir uns anders verhalten
können? Es geht dabei nicht um Schuldfragen, es geht um verantwortliches
Handeln.
Knut Gabriel hätte dringend Unterstützung gebraucht. Und Ilona Nolte
und auch den Kolleginnen und Kollegen ist das nicht entgangen. Aber niemand hat ihn angesprochen. Im Nachhinein ist auch leicht zu sehen, dass
Gabriels Bitte um ein Gespräch ein versteckter Hilferuf war. Sein Verhalten
deutet darauf hin, dass er möglicherweise einen Burn-out hatte, vielleicht
auch schon an einer Depression litt.
Doch die genaue Diagnose ist nicht
so wichtig für das betriebliche Umfeld.
Es reicht meist die normale Lebenserfahrung, um Veränderungen in der
Persönlichkeit und im Arbeitsverhalten wahrnehmen zu können. Dabei
geht es nicht nur um Leistungsabfall.
Auch ein Zuviel an Engagement sollte
für Führungskräfte ein Anlass sein,
besonders aufmerksam zu sein und auf
den Mitarbeiter einzuwirken. Selbstverständlich weiß niemand, ob ein
frühzeitiges Gespräch den Suizid verhindert hätte. Aber sinnvoll wäre eine
WERNER FÜRSTENBERG
ist Gründer und Geschäftsführer des Fürstenberg Instituts
in Hamburg. Es bietet externe
Mitarbeiterberatung (EAP)
in Krisenfällen an – auch für
Führungskräfte.
„DIE LEITUNG
MUSS SICH DIE
FRAGE STELLEN,
WIE EINE
OFFENE UNTERNEHMENS- UND
FÜHRUNGSKULTUR
AUSSCHAUT.“
NACHDRUCK
Nummer 201110090, siehe Seite 108
oder www.harvardbusinessmanager.de
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OKTOBER 2011 HARVARD BUSINESS MANAGER
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