Das bisherige Geschäftsmodell ist überholt

Wirtschaftswachstum:
Das bisherige Geschäftsmodell ist überholt - Zeit für
ein neues
Düsseldorf, 8. Januar 2016
Professor Bert Rürup
Am Donnerstag präsentiert der neue Präsident des Statistischen Bundesamts, Dieter Sarreither, die – vorläufige –
wirtschaftliche Bilanz des vergangenen Jahres. Mit rund 1,7 Prozent könnte das Wirtschaftswachstum das stärkste seit
2011 gewesen sein. Zudem dürfte der Staat einen Überschuss in der Größenordnung von 0,75 Prozent in Relation zum
Bruttoinlandsprodukts (BIP) erwirtschaftet haben. Dies bedeutet, der Fiskus hätte rein rechnerisch auf den
Solidaritätszuschlag und die Erbschaftsteuer verzichten können, ohne dass die „schwarze Null“ in Gefahr geraten wäre.
Und wie wir bereits wissen, waren im vergangenen Jahr die Beschäftigung so hoch und die Arbeitslosigkeit so gering,
wie seit der Deutschen Einheit nicht mehr. Aus gesamtwirtschaftlicher Perspektive kann man sich also – scheinbar –
ganz entspannt zurücklehnen.
Doch der erste Eindruck trügt. Denn das tradierte deutsche Geschäftsmodell gerät zusehends in Wanken. Der
Wachstumsbeitrag des Außenhandels dürfte 2015 sehr bescheiden gewesen sein – für viele, die sich lange Zeit gerne
mit dem Ruf als „Exportweltmeister“ oder zumindest des „Vizeweltmeisters“ schmückten, fast schon eine Schmach.
Wichtigster Wachstumstreiber im vergangenen Jahr wird der private Konsum gewesen sein. Dieser Trend wird sich im
laufenden Jahr verstärken, der Außenhandel dürfte sogar zur Wachstumsbremse werden. All jene, die Exporte und
Investitionen als gutes, den privaten- und staatlichen Konsum hingegen als schlechtes Wachstum ansehen, müssten ins
Grübeln kommen.
Richtig ist zwar, dass bei uns in der Vergangenheit wirtschaftliche Aufschwünge stets vom Export ausgingen. Deshalb
wird hier zu Lande von vielen ein exportgetriebenes Wirtschaftswachstum als „wertiger“ angesehen als eine vom
Konsum getriebene Zunahme des BIP. Ökonomisch gesehen gibt es aber kein gutes oder schlechtes Wachstum. Die
USA setzen eben traditionell auf den privaten Konsum als Wachstumsmotor, andere Länder wie Australien oder
Brasilien auf die Ausfuhr von Rohstoffen und Deutschland oder Japan auf den Export hochwertiger Industrieprodukte –
ohne die einen, könnte es die anderen nicht geben.
Tatsächlich ist das, was man gemeinhin als deutsches Geschäftsmodell bezeichnet, kein von Wissenschaftlern oder
Politikern ersonnenes Konzept. Weder vor dem Ersten Weltkrieg, noch nach dem Zweiten Weltkrieg, noch nach der
Wiedervereinigung 1990 – zu keinem Zeitpunkt hat irgendjemand an irgendeinem Reißbrett unsere derzeitige
exportorientierte Produktionsstruktur entworfen. Der im internationale Vergleich sehr hohe Industrieanteil an der
Wirtschaftsleistung und eine damit nahezu zwingend verbundene Exportorientierung haben sich in den vergangenen
fast 150 Jahren urwüchsig entwickelt. Sie sind Folge komparativer Kostenvorteile der deutschen Volkswirtschaft in
einer immer arbeitsteiliger werdenden Weltwirtschaft.
Maß für den Offenheitsgrad einer Volkswirtschaft ist das Verhältnis der Summe aus Ex- und Importen zum BIP. Dieses
Maß gibt an, wie stark eine Volkswirtschaft in den internationalen Güteraustausch eingebunden und damit in die
internationale Arbeitsteilung integriert ist. Vor dem Ersten Weltkrieg war eine deutlich kleinere Anzahl von Ländern als
heute am grenzüberschreitenden Güteraustausch beteiligt. Dennoch lag der Offenheitsgrad der deutschen
Volkswirtschaft schon damals bei über 40 Prozent und damit auf dem Niveau der frühen 1990er Jahre. In den folgenden
25 Jahren hat sich dieser Offenheitsgrad mehr als verdoppelt. Mit einem Offenheitsgrad von etwa 90 Prozent liegt
Deutschland im Vergleich der zehn größten Volkswirtschaften einsam an der Spitze. Dies hat sehr viel zu tun mit der
Eingliederung des einstigen Ostblocks und der bevölkerungsreichen Länder wie China, Indien, Brasilien oder
Indonesien in den internationalen Güteraustausch.
Ein hoher und steigender Offenheitsgrad wirkt in den Branchen, die international handelbare Produkte erzeugen, wie
eine Produktivitätspeitsche. Denn die Unternehmen werden zu permanenten Produkt- und Prozessinnovationen
gezwungen. Zum einen, um auf ausländischen Märkten erfolgreich zu sein und zum anderen, um gegen eine
Substitution der heimischen Produktion durch Importgüter gefeit zu sein. Davon betroffen ist vor allem die Industrie.
Und dies hat den deutschen industriellen Sektor zu dem gemacht, was er heute ist: Mit den großen Chemie- und
Automobilfirmen und seinem starken und höchst innovativen industriellen Mittelstand und dessen etwa 1.500 Hidden
Champions ist dieser Sektor neben der Industrie der Schweiz der wohl leistungsfähigste industrielle Bereich weltweit.
Daher überrascht es nicht, dass die deutsche Volkswirtschaft im Vergleich zu den anderen großen entwickelten
Industriestaaten in der Summe der wohl größte Gewinner der weltwirtschaftlichen Entwicklung der 1990er Jahre sowie
der ersten Dekade dieses Jahrhunderts gewesen sein dürfte.
Das kräftige Wachstum der Weltwirtschaft und eine zuvor nicht gekannte doppelt so starke Zunahme des Welthandels
waren zwar nicht hinreichende, wohl aber notwendige Bedingungen dafür, dass kein anderes entwickeltes Industrieland
in der vergangenen Dekade eine ähnlich gute ökonomische Bilanz wie Deutschland vorweisen konnte. Ohne diesen
weltwirtschaftlichen Rückenwind hätten sich weder die Agenda 2010, die sozialpartnerschaftlich ausgehandelte
Lohnmoderation oder die Flexibilisierung der Tarifverträge so positiv entfalten können, wie sie es taten.
Strukturreformen können selten einen Aufschwung auslösen, wohl aber immer eine wirtschaftliche Erholung
dynamischer und wachstumsintensiver machen.
Doch die Welt hat sich verändert. Seit der globalen Rezession im Winter 2008/2009 hat die Globalisierung und die
Industrialisierung wichtiger Kunden deutscher Investitionsgüter – zumindest – eine Pause eingelegt haben. Das globale
Wirtschaftswachstum hat sich deutlich verlangsamt und das Wachstum des Welthandels ist spürbar abgeflacht. Heute
steigt der internationale Güteraustausch nicht mehr fast doppelt so stark wie das wenig dynamische globale Wachstum,
sondern entwickelt sich annähernd proportional. Zudem ist die ökonomische Performance der Schwellenländer, auf die
derzeit fast 40 Prozent der Weltproduktion entfallen, ausgesprochen schwach. Noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg
erholte sich die Welt langsamer von einer Rezession – da ist die allseits beklagte schwache Investitionstätigkeit unserer
globalisierten Volkswirtschaft eigentlich kein Wunder.
Angesichts der schwachen weltwirtschaftlichen Dynamik und der nur trägen Erholung der Eurozone kann Deutschland
somit vom Außenhandel – zumindest in der näheren Zukunft – keinen Schub erwarten. Auch die Tatsache, dass seit
Kurzem die USA der wichtigste Handelspartner Deutschlands geworden sind, ändert daran wenig. Die
Zukunftsaussichten der größten Ökonomie der Welt sind nicht so rosig, wie es die jüngste Zinswende nahelegen könnte.
Denn trotz der Bemühungen um eine Reindustrialisierung schrumpft die US-Industrie. Zudem befindet sich die USWirtschaft in der letzten Phase eines konjunkturellen Aufschwungs, und die ist meist durch stagnierende Investitionen
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gekennzeichnet. Hinzu kommt, dass der niedrige Ölpreis das globale Wachstum weit weniger als in der Vergangenheit
die Weltwirtschaft stimuliert. Denn den steigenden Konsumausgaben in den ölimportierenden Ländern steht heute –
anders als früher – eine teils markante Kontraktionspolitik in den ölexportierenden Ländern entgegen.
Ob und wann die derzeitige Globalisierungspause endet und somit auch der deutsche Exportmotor wieder anspringt, ist
ungewiss. Allerdings besteht die berechtigte Hoffnung auf eine von der Binnenwirtschaft getriebene Expansion. Auch
in der Dekade nach der Wiedervereinigung kamen vom Außenbeitrag dämpfende Effekte, und es waren vornehmlich
die Konsumausgaben, die dennoch ein Wachstum von um die zwei Prozent generierten.
Es ist zwar richtig, dass die sicher nicht „von hinten gedachte“ Entscheidung der Bundeskanzlerin, unbegrenzt
Flüchtlinge aus den arabischen und nordafrikanischen Krisenregionen aufzunehmen, eine extreme Herausforderung für
unsere Gesellschaft darstellt. Ungeachtet dessen darf man aber nicht übersehen, dass die von der Migrationswelle
ausgelösten zusätzlichen Staatsausgaben kurzfristig die Wirtschaftsleistung wie ein keynesianisches
Konjunkturprogramm stimulieren – in diesem Jahr um bis zu 0,5 Prozentpunkte.
Wichtiger aber ist, dass wenn die Integration vieler arbeitsfähiger Migranten in den Arbeitsmarkt halbwegs gelingt, die
in der Alterung und im Rückgang der deutschen Wohnbevölkerung angelegten Wachstumsbremsen deutlich gelockert
werden. Eine Zunahme und Verjüngung der Bevölkerung sind nun einmal gerade für entwickelte Länder potenzielle
Wachstumstreiber.
Diese Zuwanderung ist nämlich gar nicht so grundverschieden im Vergleich zu einer schnell steigenden Geburtenrate.
Denn auch steigende Geburtenzahlen sind zunächst mit beachtlichen zusätzlichen gesellschaftlichen Kosten verbunden,
bevor sie volkswirtschaftliche Erträge abwerfen können. Allerdings würde wohl niemand auf die Idee kommen, die mit
einem sprunghaften Anstieg der Geburtenrate verbundenen Kosten berechnen zu wollen und darin ein Wohlstandsrisiko
zu sehen. Die meisten Ökonomen würden diese beachtlichen volkswirtschaftlichen Kosten, die viele Jahre anfallen
würden, als lohnende Investition in die Zukunft unseres Landes betrachten.
Und so trifft die Migrationswelle Deutschland zu dem denkbar besten Zeitpunkt: Die Staatskassen sind voll, die
exportorientierte Industrie schwächelt, während vor allem die binnenwirtschaftlichen Dienstleister händeringend
Personal suchen, auch solches, ohne Abitur oder Gesellenbrief.
Ja, wir können das schaffen und dabei sogar wirtschaftlich erfolgreicher werden.
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