Fotos: istockphoto.com/Chris Schmidt, PeopleImages.com; fotolia.de/Jasmin Merdan ZUSAMMEN LEBEN. ZUSAMMEN HELFEN LEITARTIKEL Es geht nicht um die Flüchtlingspolitik. Es geht nicht um Obergrenzen. Es geht um die, die unsere Hilfe brauchen – ohne Wenn und Aber: Es geht um die Von Thomas Aistleitner 4 eflüchtete Kinder in der Schule – das ist nicht nur das Jahresthema des ÖJRK, es ist Dauerthema für Menschen in der Schule, rund um die Schule – und für viele andere, die glauben, sie könnten eine Meinung dazu haben. Diese Ausgabe von Jugendrotkreuz.at informiert Sie über den aktuellen Stand der Dinge, berichtet von der BMBF-Flüchtlingsbeauftragten Terezija Stoisits. Wir zeigen den Alltag in der Schule und die typischen Herausforderungen im Unterricht mit geflüchteten Kindern im Interview mit Sanja Biwald, Volksschullehrerin in Wien mit bosnischen Wurzeln. Sie bringt in ihrer Arbeit und als Person mehrere Besonderheiten für das Leben mit Flüchtlingen in Österreich zusammen. Österreich hat eine lange Geschichte in der Bewältigung von großen Zuwanderungswellen: • An Ungarn 1956/57 werden sich nicht mehr viele erinnern: 180.000 Menschen kamen nach Österreich, 18.000 blieben. • 1968 flüchteten 162.000 aus der damaligen Tschechoslowakei, 12.000 ließen sich in Österreich nieder. • 1991/92 flüchteten mehr als 100.000 Menschen vor G ! den Kriegen in Ex-Jugoslawien, rund 60.000 – hauptsächlich aus Bosnien – sind geblieben. Österreich hat also eine große Tradition im Umgang mit „Flüchtlingsströmen“. Alle wissen, dass diese Ströme in mehrere Richtungen gehen. Nach Österreich, weg von Österreich und auch wieder zurück in die Heimat. Da verwundert es doch sehr, wie skeptisch man in der öffentlichen Meinung den Flüchtlingen gegenübersteht. Während das Internet wie ein großes Gedächtnis alle Fakten bewahrt, werden unsere eigenen Erinnerungen immer lückenhafter. Natürlich sind die Flüchtlinge des Jahres 2015 ganz andere als früher. Sie kommen aus anderen Ländern, aus anderen Kulturen – viele haben nie in einem geordneten, demokratischen Staatswesen gelebt. Aber was ändert das? Ist ein Kind aus Afghanistan zu „anders“, um bei uns in die Schule zu gehen? Natürlich nicht. Kann sich irgendjemand wirklich vorstellen, mit praktisch nichts auf einer lebensgefährlichen Tour in ein anderes Land zu reisen, nur weil dort angeblich alles „besser“ sei? Würden Sie, liebe Leserin, geschätzJUGENDROTKREUZ.at/März 2016 ter Leser, das tun – und wenn ja, unter welchen Umständen? Der syrische Hintergrund Als Teil der Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung sind uns die Umstände bekannt. Wir kennen sie von den legendären Gefangenenbesuchen unserer Delegierten, die in jedem Land Zutritt erhalten, weil sie den Gefangenen zwar helfen, aber öffentlich darüber schweigen. Nur in Syrien nicht: Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) hat im Syrienkrieg seit 2011 keinen einzigen Gefangenen besucht. UN-Beobachter haben enthüllt, was in diesen Gefängnissen so geheim ist: Dort wird so willkürlich, so massenhaft exekutiert und gemordet, dass „Gefängnis“ ein beschönigender Begriff dafür wäre. Ja, aus diesem Syrien würde ich auch wegwollen – und Sie? Das Land der Taliban In Afghanistan, dem zweiten großen Ausgangspunkt der Fluchtbewegungen, ist es nicht besser. 1,2 Millionen Menschen sind im Land heimatlos geworden, sie sind „Binnenflüchtlinge“, weil sie sich keine Schlepper leisten können, nicht einmal dann, wenn sie alles verkaufen, was sie haben. Sie fliehen aus dem Land der Taliban, deren Aktivitäten gegen die Bevölkerung auf gleiche Ebene mit denen des Islamischen Staats (IS) zu stellen sind. folgen wir dem Grundsatz der Menschlichkeit, dem wir als Teil der Rotkreuz-Bewegung verpflichtet sind. • Die Willkommensaktion läuft weiter und unterstützt die Integration. Der oft verächtlich gemeinte Begriff „Willkommenskultur“ trifft es genau: Diese Kinder sind bei uns, in unserer Kultur willkommen – da kann es keinen ernsthaften Widerspruch geben. Das sagt auch der Rotkreuz-Grundsatz der Unparteilichkeit. Kinder haben ein Recht auf Bildung, und die nützt nicht nur ihnen, sondern auch ihren Familien und selbstverständlich auch der sie aufnehmenden Gesellschaft. Die Rechnung ist einfach: je mehr Bildung, desto weniger Sozialleistungen. • Kinder sollen in unserer Gesellschaft ankommen. Die Freiwillige Radfahrprüfung ist ein kleiner, aber wichtiger Schritt dazu. Ab heuer gibt es das Skriptum – mit Unterstützung durch das Landwirtschaftsministerium – auch auf Englisch, Arabisch und Farsi. • ÖJRK und ÖRK geben zwei Ausgaben des Kindermagazins „Trio“ heraus – gedacht zum Kennenlernen und für den Unterricht in vielsprachigen Klassen. Die Ausgaben bringen unter dem Titel „Hallo Österreich“ Texte auf Deutsch, Englisch, Arabisch und Dari. • Für das Zusammenleben in der Klasse verschicken wir Vordrucke für Poster mit Klassenregeln. Wenn eine Klasse neu entsteht oder neue Kinder aufnimmt, ist das ein guter Zeitpunkt, eine gemeinsame Basis in Form von Klassenregeln zu finden oder die bestehenden Regeln zu erneuern. Gerade für neue Kinder sind sie ein wichtiger Anhaltspunkt. „Hallo Österreich“ – was wir tun Wir haben zurzeit rund 10.000 Flüchtlingskinder an den Schulen, eine vergleichsweise geringe Anzahl, auch wenn der Anteil an manchen Schulen relativ hoch ist. Das Jugendrotkreuz möchte allen Lehrerinnen und Lehrern, die in ihrer Schule und ihrem Unterricht mit geflüchteten Kindern arbeiten, Hilfe anbieten. Damit JUGENDROTKREUZ.at/März 2016 Normalität, Unterricht, Deutsch lernen ... Schule in Österreich ist das Beste, was diesen Kindern in ihrer Lage passieren kann. Gut, dass wir alle daran arbeiten, diesen Kindern eine Chance zu geben – sie verdienen es genauso wie unsere. Das ist unsere Aufgabe als Jugendrotkreuz – uns geht es um die Kinder. o Ja, aus diesem Syrien würde ich auch wegwollen – und Sie? AUF DER FLUCHT 60.000.000 Menschen sind weltweit auf der Flucht. 2.000.000 Flüchtlinge halten sich in der Türkei auf. 1.000.000 Flüchtlinge sind 2015 in Europa angekommen. 3.700 sind 2015 im Mittelmeer ertrunken. 95.000 Asylanträge wurden 2015 in Österreich gestellt. 5
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