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ZUSAMMEN LEBEN. ZUSAMMEN HELFEN LEITARTIKEL
Es geht nicht um die Flüchtlingspolitik. Es geht nicht um Obergrenzen.
Es geht um die, die unsere Hilfe brauchen – ohne Wenn und Aber:
Es geht
um die
Von
Thomas Aistleitner
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eflüchtete Kinder in der Schule – das ist nicht nur
das Jahresthema des ÖJRK, es ist Dauerthema für
Menschen in der Schule, rund um die Schule – und für
viele andere, die glauben, sie könnten eine Meinung
dazu haben.
Diese Ausgabe von Jugendrotkreuz.at informiert Sie
über den aktuellen Stand der Dinge, berichtet von der
BMBF-Flüchtlingsbeauftragten Terezija Stoisits.
Wir zeigen den Alltag in der Schule und die typischen Herausforderungen im Unterricht mit geflüchteten Kindern im Interview mit Sanja Biwald, Volksschullehrerin in Wien mit bosnischen Wurzeln. Sie bringt in
ihrer Arbeit und als Person mehrere Besonderheiten
für das Leben mit Flüchtlingen in Österreich zusammen. Österreich hat eine lange Geschichte in der Bewältigung von großen Zuwanderungswellen:
• An Ungarn 1956/57 werden sich nicht mehr viele erinnern: 180.000 Menschen kamen nach Österreich,
18.000 blieben.
• 1968 flüchteten 162.000 aus der damaligen Tschechoslowakei, 12.000 ließen sich in Österreich nieder.
• 1991/92 flüchteten mehr als 100.000 Menschen vor
G
!
den Kriegen in Ex-Jugoslawien, rund 60.000 – hauptsächlich aus Bosnien – sind geblieben.
Österreich hat also eine große Tradition im Umgang
mit „Flüchtlingsströmen“. Alle wissen, dass diese
Ströme in mehrere Richtungen gehen. Nach Österreich,
weg von Österreich und auch wieder zurück in die Heimat.
Da verwundert es doch sehr, wie skeptisch man in der
öffentlichen Meinung den Flüchtlingen gegenübersteht. Während das Internet wie ein großes Gedächtnis alle Fakten bewahrt, werden unsere eigenen Erinnerungen immer lückenhafter.
Natürlich sind die Flüchtlinge des Jahres 2015 ganz
andere als früher. Sie kommen aus anderen Ländern,
aus anderen Kulturen – viele haben nie in einem geordneten, demokratischen Staatswesen gelebt. Aber was
ändert das? Ist ein Kind aus Afghanistan zu „anders“,
um bei uns in die Schule zu gehen? Natürlich nicht.
Kann sich irgendjemand wirklich vorstellen, mit
praktisch nichts auf einer lebensgefährlichen Tour in
ein anderes Land zu reisen, nur weil dort angeblich alles „besser“ sei? Würden Sie, liebe Leserin, geschätzJUGENDROTKREUZ.at/März 2016
ter Leser, das tun – und wenn ja, unter welchen
Umständen?
Der syrische Hintergrund
Als Teil der Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung sind
uns die Umstände bekannt. Wir kennen sie von den legendären Gefangenenbesuchen unserer Delegierten,
die in jedem Land Zutritt erhalten, weil sie den Gefangenen zwar helfen, aber öffentlich darüber schweigen.
Nur in Syrien nicht: Das Internationale Komitee vom
Roten Kreuz (IKRK) hat im Syrienkrieg seit 2011 keinen
einzigen Gefangenen besucht. UN-Beobachter haben
enthüllt, was in diesen Gefängnissen so geheim ist:
Dort wird so willkürlich, so massenhaft exekutiert und
gemordet, dass „Gefängnis“ ein beschönigender Begriff dafür wäre. Ja, aus diesem Syrien würde ich auch
wegwollen – und Sie?
Das Land der Taliban
In Afghanistan, dem zweiten großen Ausgangspunkt
der Fluchtbewegungen, ist es nicht besser. 1,2 Millionen Menschen sind im Land heimatlos geworden, sie
sind „Binnenflüchtlinge“, weil sie sich keine Schlepper
leisten können, nicht einmal dann, wenn sie alles verkaufen, was sie haben. Sie fliehen aus dem Land der
Taliban, deren Aktivitäten gegen die Bevölkerung auf
gleiche Ebene mit denen des Islamischen Staats (IS)
zu stellen sind.
folgen wir dem Grundsatz der Menschlichkeit, dem wir
als Teil der Rotkreuz-Bewegung verpflichtet sind.
• Die Willkommensaktion läuft weiter und unterstützt
die Integration. Der oft verächtlich gemeinte Begriff
„Willkommenskultur“ trifft es genau: Diese Kinder
sind bei uns, in unserer Kultur willkommen – da kann
es keinen ernsthaften Widerspruch geben. Das sagt
auch der Rotkreuz-Grundsatz der Unparteilichkeit.
Kinder haben ein Recht auf Bildung, und die nützt
nicht nur ihnen, sondern auch ihren Familien und
selbstverständlich auch der sie aufnehmenden Gesellschaft. Die Rechnung ist einfach: je mehr Bildung,
desto weniger Sozialleistungen.
• Kinder sollen in unserer Gesellschaft ankommen. Die
Freiwillige Radfahrprüfung ist ein kleiner, aber wichtiger Schritt dazu. Ab heuer gibt es das Skriptum – mit
Unterstützung durch das Landwirtschaftsministerium
– auch auf Englisch, Arabisch und Farsi.
• ÖJRK und ÖRK geben zwei Ausgaben des Kindermagazins „Trio“ heraus – gedacht zum Kennenlernen
und für den Unterricht in vielsprachigen Klassen. Die
Ausgaben bringen unter dem Titel „Hallo Österreich“
Texte auf Deutsch, Englisch, Arabisch und Dari.
• Für das Zusammenleben in der Klasse verschicken wir
Vordrucke für Poster mit Klassenregeln. Wenn eine
Klasse neu entsteht oder neue Kinder aufnimmt, ist
das ein guter Zeitpunkt, eine gemeinsame Basis in
Form von Klassenregeln zu finden oder die bestehenden Regeln zu erneuern. Gerade für neue Kinder sind
sie ein wichtiger Anhaltspunkt.
„Hallo Österreich“ – was wir tun
Wir haben zurzeit rund 10.000 Flüchtlingskinder an den
Schulen, eine vergleichsweise geringe Anzahl, auch
wenn der Anteil an manchen Schulen relativ hoch ist.
Das Jugendrotkreuz möchte allen Lehrerinnen und
Lehrern, die in ihrer Schule und ihrem Unterricht mit
geflüchteten Kindern arbeiten, Hilfe anbieten. Damit
JUGENDROTKREUZ.at/März 2016
Normalität, Unterricht, Deutsch lernen ...
Schule in Österreich ist das Beste, was diesen Kindern
in ihrer Lage passieren kann. Gut, dass wir alle daran
arbeiten, diesen Kindern eine Chance zu geben – sie
verdienen es genauso wie unsere. Das ist unsere Aufgabe als Jugendrotkreuz – uns geht es um die Kinder.
o
Ja, aus diesem
Syrien würde ich
auch wegwollen –
und Sie?
AUF DER FLUCHT
60.000.000 Menschen sind
weltweit auf der Flucht.
2.000.000 Flüchtlinge
halten sich in der Türkei auf.
1.000.000 Flüchtlinge sind
2015 in Europa angekommen.
3.700 sind 2015 im Mittelmeer ertrunken.
95.000 Asylanträge wurden
2015 in Österreich gestellt.
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