Interview im Bund mit Detlef Briesen

«Beim Essen darf man nicht zu stark
moralisieren»
Der Historiker Detlef Briesen über die Ursprünge des Schlankheitsideals und das Rauchverbot in der
NS-Zeit.
Bernhard Ott 12.03.2016
Stichworte
Samstagsinterview
Detlef Briesen
Der 58-jährige Historiker Detlef Briesen ist
Privatdozent für Zeitgeschichte an der
Universität in Giessen (D). Seine
Forschungsschwerpunkte liegen in den
Bereichen Konsum und Urbanistik
(Stadtforschung). So hat er unter anderem
Werke über die Geschichte des Warenhauses,
über Jugendkulturen und Drogenpolitik sowie
über Raumplanung in Deutschland nach 1945
geschrieben.
«Ich esse keinen Hund und trinke kein Blut. Aber ansonsten habe ich keine Bedenken», sagt Detlef
Briesen. Bild: Valérie Chételat
Herr Briesen, was haben Sie heute gefrühstückt?
Im Hotel gab es ein Frühstücksbuffet mit einem guten Schweizer Käse.
Der Käse war vollfett?
Ja, es war ein Appenzeller.
Vollfetter Käse ist ja nicht gerade gesund.
Ich bin oft in Südostasien und bin es von daher gewohnt, auch Ungewohntes zu
essen. Ich esse keinen Hund und trinke kein Blut. Aber ansonsten habe ich keine
Bedenken.
Der Ernährung und Gesundheit seit dem 18.
Jahrhundert hat er sich im Buch «Das gesunde
Leben» gewidmet. Dazu hielt er diese Woche
auch ein Referat im Rahmen einer
Vorlesungsreihe zum Thema Ernährung des
Collegium Generale der Universität Bern.
(www.collegiumgenerale.unibe.ch). (bob)
Artikel zum Thema
Meine Affäre mit dem Tofu
Mit Milchprodukten haben Sie keine Mühe?
Ich habe eine leichte Unverträglichkeit bei Milch. Aber sobald sie bakteriell verändert
wurde wie beim Käse oder beim Joghurt, habe ich keine Probleme.
Beim Appenzeller haben Sie also tüchtig zugelangt?
Nein. Aber ich esse immer mal wieder etwas Vollfettkäse. Die Idee der Mischkost
taucht in allen guten Ernährungsphilosophien auf. Wer von allem ein wenig isst und
sich nicht nur von Fleisch oder von Müsli ernährt, ist auf dem guten Weg.
Der DerBund.ch/Newsnet-Gastrokritiker hat
den vegetarischen Klassiker bisher
vernachlässigt. In drei Rendezvous sucht er
die Liebe zum «Bohnenquark». Mehr...
Sie persönlich sind auf diesem Weg?
Ich denke schon. Es hängt natürlich auch von der Lebensweise ab, das heisst vom
persönlichen Kalorienverbrauch. Mein Grossvater war Grubenarbeiter und benötigte
entsprechend mehr Kalorien als ich.
Hitler, high
Heute gibt es ja eine Art Boom der Unverträglichkeiten. So viele ZöliakieKranke gibt es gar nicht, wie es Gluten-Unverträglichkeiten gibt.
Ich bin kein Mediziner und kein Ernährungswissenschafter. Aber
Unverträglichkeiten sind oft eine Folge bestimmter Ernährungsweisen in der
Kindheit. Viele Allergien sind auf hohe Hygiene-Anforderungen in der Kindheit
zurückzuführen. Ostdeutsche zum Beispiel leiden viel weniger an Allergien als
Westdeutsche, obwohl die Umweltbelastungen in der DDR erheblich höher waren.
Von Daniel Böniger. 11.03.2016
Buchautor Norman Ohler versucht, den
Wahn des NS-Regimes mit dessen
Drogenexzessen zu erklären. Das überzeugt
teilweise. Mehr...
Von Linus Schöpfer 17.09.2015
Stadt Bern soll vegane Menüs
anbieten
Das vegetarische und vegane
Ernährungsangebot in städtischen
Institutionen soll ausgebaut werden. Im
Unterschied zu Basel versucht es der Verein
Sentience Politics in Bern aber nicht mit
einer Volksinitiative. Mehr...
«Übertriebene Hygiene ist der
falsche Weg. »
Detlef Briesen
Wie ist das erklärbar?
Die in Westdeutschland aufgewachsene Generation der heute 40- bis 50-Jährigen
war in ihrer Kindheit einem extremen Niveau an Hygiene ausgesetzt. Sie sind
weniger in der Lage, mit grösseren oder kleineren Umweltbelastungen umzugehen,
und bekommen öfters Allergien.
Allergien sind zum Teil also eine Frage der Erziehung?
Genau. Natürlich ist es wichtig, bei Kindern auch auf Hygiene zu achten. Aber
übertriebene Hygiene ist der falsche Weg. In einem keimfrei geputzten Haus kann
sich ein normales Immunsystem nicht entwickeln.
Sie haben die Mischkost gelobt. Ist das der Schlüssel zu einem gesunden
Leben, und warum gelingt es vielen Menschen nicht, gesund zu leben?
Im Vergleich mit unseren Vorfahren müssen wir dauernd verzichten. In der
Überflussgesellschaft sind wir einem unglaublichen Angebot an Lebensmitteln
ausgesetzt, die so billig sind wie noch nie. Die Verführungen sind so vielfältig, dass
viele kaum in der Lage sind zu widerstehen. Im 18. Jahrhundert konnte sich nicht
jeder jeden Tag eine angemessene Ernährung leisten. Man verzichtete, weil das
Budget zu klein war. Heute verzichtet man, um bestimmte gesundheitliche Ziele zu
erreichen. Zudem ist die Ernährung in Europa für den hohen Kalorienbedarf unserer
Vorfahren konzipiert.
Die Industrie hat sich da aber angepasst mit all den Light- und
Viertelfett-Produkten.
«Light» ist keine Lösung. Diese Produkte enthalten viele versteckte Kalorien, weil sie
kein Sättigungsgefühl verleihen. Man ist fortlaufend hungrig und konsumiert
dadurch mehr.
«Die Werbung ist Teil des Bösen,
aber nicht das einzige Böse.»
Detlef Briesen
Ist die Werbung schuld, dass wir ungesund essen?
Die Werbung ist Teil des Bösen, aber nicht das einzige Böse. Wenn in der Werbung
eine Tiefkühlpizza in den Ofen geschoben wird, geschieht eine Signalschaltung im
Gehirn und Sie bekommen Hunger, auch wenn es spätabends ist.
Heute treten viele Diät-Köche wie Heiler auf. Sie propagieren vegane
Ernährung oder das Gegenteil. Warum ist der Boden für
Gesundheitsapostel derart fruchtbar?
Wir können es uns heute leisten, in unsere Ernährung zu investieren. Essen wird
zum Ausdruck von Individualität und Persönlichkeit und zu einer Frage des
Lebensstils. Aufgrund eines bestimmten Lebensstils wählen wir bestimmte
Ernährungskonzepte aus. Diese werden oft nur in bestimmten Situationen und nicht
andauernd zur Schau gestellt. Jeder geht mal zu McDonald’s oder in eine
Frittenbude. Davon kann man dann bei anderer Gelegenheit ganz verschämt
erzählen.
Aber für den Veganismus gibt es doch auch ganz vernünftige Gründe. Ist
das noch ein Trend, oder wäre der Veganismus eigentlich die gesunde
Lebensweise für alle?
Die vegetarische Tradition in Europa war nie so bedeutsam wie im buddhistischen
oder hinduistischen Raum. Die als ideal geltende Ernährung in Europa enthielt seit
den Griechen und Römern immer grosse Fleisch-Anteile. Heute kann man sagen,
dass die ovo-lakto-vegetarische Ernährung dem Körper all das gibt, was er braucht.
Bei der veganen Ernährung ist das viel umstrittener. Aber gesundheitliche Gründe
Von Bernhard Ott 03.07.2014
sind für den Entscheid zu einer vegetarischen Ernährung oft nicht ausschlaggebend.
Sondern?
Hinter den vegetarischen Konzepten der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
steckten ursprünglich ethisch-philosophische Gründe. Die Lebensreform-Bewegung
dieser Zeit war eine Antwort auf die Industrialisierung der Ernährung im 19.
Jahrhundert. Es gab die ersten Lebensmittelskandale, weil Gifte in Konserven waren
oder verdorbene Mehle angeboten wurden.
«Jeder Mensch darf sich so
unglücklich machen, wie er will.
»
Detlef Briesen
In der Bevölkerung stossen didaktische Massnahmen im Bereich
Ernährung oft auf Trotz. So stiess die Einführung eines «Vegi-Tags» in
deutschen Kantinen ebenso auf Protest wie der Hinweis der WHO auf die
krebsfördernde Wirkung von Wurstwaren. Sie finden solche Reaktionen
natürlich. Warum?
Beim Essen darf man nicht zu stark moralisieren. Wenn man nicht nachweisen kann,
dass eine Verhaltensweise extrem schädlich ist wie das Rauchen zum Beispiel, sollte
man sich zurückhalten. Jeder Mensch darf sich so unglücklich machen, wie er will.
Deshalb ist zwar der Besitz, aber nicht der Konsum von Drogen in Deutschland
strafbar. Es ist erlaubt, sich zu vergiften. Daran sollte man festhalten, weil die
Erkenntnisse über Lebensmittel und Drogen sich rasch verändern.
Prävention bringt also nichts?
Doch. Man kann gewisse Verhaltensweisen fördern, zum Beispiel durch Einführung
eines Vegi-Tags, der ja nur ein Angebot war, eine gute Idee.
Wie sehen Sie das beim Alkohol?
Alkohol ist Teil unserer Kultur. Es ist nach wie vor nicht klar, welche Mengen für die
Gesundheit schädlich sind. Für einige Ärzte sind schon drei Glas Bier pro Woche
Ausdruck von Alkoholismus, andere halten eine Flasche Wein pro Abend für zwei
Personen für o.k., was ich persönlich aber bezweifeln würde. Ein wichtigeres Ziel als
Enthaltsamkeit wäre ein sehr mässiger, verantwortungsvoller Umgang mit Alkohol.
Beim Rauchen ist das anders. Da geht der Trend ganz klar Richtung Prohibition.
Gemäss Ihren Forschungen ist das Raucherverbot eine «Erfindung» des
Nationalsozialismus.
In Teilen der nationalsozialistischen Partei gab es Exponenten, die das Rauchen oder
den Alkohol verbieten wollten.
Aber es gab doch ein Rauchverbot in öffentlichen Gebäuden und
Restaurants?
Aber es gibt kaum Forschungen darüber, wie gut das eingehalten wurde. Viele
Massnahmen des NS-Regimes bewegten sich auf dem Niveau von Propaganda.
Aber das Verbot zeigt doch den Geist, gesundes Leben vom Staat zu
verordnen. Es wurde ja auch der Konsum von Vollkornbrot gefördert.
Das Vollkornbrot ist ein gutes Beispiel dafür, dass die Propaganda mitunter auch
gewirkt hat. In anderen Bereichen jedoch herrschte ab 1942 das Chaos. Gegen Ende
des Krieges gab es gigantische Orgien, vor allem in Gebieten, die von russischer
Besetzung bedroht waren.
«Hitler hat sich weitgehend von
Süssspeisen und Kuchen
ernährt.»
Detlef Briesen
Hitler selber hat das spartanische Leben mit seinem Vegetarismus
vorgelebt. Allerdings war er zuletzt auch stark drogenabhängig.
Doping mit Amphetaminen und Pervitin war auch unter Soldaten an der Ostfront
verbreitet. Hitler selber war ein sogenannter Pudding-Vegetarier. Er hat sich
weitgehend von Süssspeisen und Kuchen ernährt. Er war weit von den Rezepten der
zeitgenössischen Lebensreform entfernt, die rohe Produkte und Körner empfahl.
Hitler konnte Rohkost gar nicht essen, weil er schlechte Zähne hatte und grosse
Angst, zum Zahnarzt zu gehen.
Kann die NS-Zeit als Beispiel für die Pervertierung staatlich verordneter
Gesundheitsprävention betrachtet werden?
Die Zeit für das Regime war viel zu kurz. Ab 1941/1942 wurden Massnahmen der
Gesundheitsprävention kriegsbedingt wieder zurückgestellt. Wer Massenernährung
verändern will, braucht viel mehr Zeit. Die Wirkung einzelner Massnahmen waren
kontraproduktiv, wie das Beispiel des Rauchens zeigt. Viele Menschen fingen erst im
Zweiten Weltkrieg an zu rauchen. Zudem wurden Dinge wie das Rauchverbot in
Deutschland nach dem Krieg unter Hinweis auf die NS-Zeit abgelehnt. Rauchen
wurde als Verkörperung der Freiheit dargestellt.
Wie muss man sich das denn vorstellen?
Die Zigarettenindustrie zum Beispiel hat in den 1980er-Jahren in einer Kampagne
mit der Ghettoisierung der Juden in der NS-Zeit «gespielt». Sie haben auf Plakaten
in verschiedenen Städten «Raucher-Ghettos» eingezeichnet, in denen noch geraucht
werden durfte.
Aber «Ghetto» ist doch ein äusserst negativ konnotierter Begriff?
Die Botschaft der Kampagne war: So wie das NS-System Menschen mit unliebsamen
Verhaltensweisen diskriminiert hat, werden heute die Raucher diskriminiert. Die
Kampagne wurde ganz schnell wieder eingestellt.
War die von Ihnen beschriebene Fresssucht nach dem Krieg auch eine
Reaktion auf die staatlich verordneten Gesundheitsideale?
Das war eher eine Reaktion auf den Mangel, der von 1914 bis 1948 geherrscht hatte.
Da gab es nur Mitte der 20er- und Mitte der 30er-Jahre ein gewisses
Wohlstandsniveau. Die Wende vom Mangel zum Überfluss nach der
Währungsreform 1948 löste einen grossen Überkonsum aus, auch beim Rauchen und
Trinken.
Mit der Überflussgesellschaft kam das Schlankheitsideal. Sie führen es
auf das Aufkommen des Ehepaars als soziales Leitbild in den 20er- und
50er-Jahren zurück. Wie meinen Sie das?
Verheiratete Männer und Frauen haben bis in die 20er-Jahre ein weitgehend
getrenntes Leben geführt. Danach mussten die Geschlechter füreinander attraktiver
werden, weil sie gemeinsam in der Öffentlichkeit auftraten.
Bis dahin war Üppigkeit attraktiv.
In Mangelgesellschaften wird Fülligkeit mit Reichtum und Schlankheit mit Armut
konnotiert. Das gilt nicht mehr, wenn die Wirtschaft in der Lage ist, die gesamte
Bevölkerung zu ernähren. Das war in den USA Mitte der 20er-Jahre der Fall.
Die Kehrseite des Schlankheitswahns ist die Fettleibigkeit. Von 1988 bis
2001 ist der Anteil Fettleibiger in den USA von 33 auf 65 Prozent
gestiegen. Warum?
Die Essgewohnheiten haben sich verändert, und die Schlankheitsideale konnten sich
nicht in allen Bevölkerungsschichten durchsetzen. Fettleibigkeit ist in den USA vor
allem bei Einwanderern aus Südamerika und Afroamerikanern verbreitet. In
Deutschland oder der Schweiz ist sie in sozial benachteiligten Schichten eher
verbreitet.
In den USA gibt es eine starke staatliche Gesundheitsprävention, in
Deutschland kaum. Beide Ansätze sind erfolglos. Was ist denn zu tun?
In Sachen Gesundheit weiss man leider nur, was schädlich ist. Wie man gesund wird,
kann man nicht aus Verhaltensweisen herleiten. Ich werde krank, wenn ich viel
Fettes esse und viel Alkohol trinke. Aber wenn ich das nicht tue, werde ich nicht 100
Jahre alt. Mässigung beim Essen führt allenfalls dazu, dass man gesünder alt wird.
Trotzdem sollte man Mässigung propagieren, gerade bei Kindern und Jugendlichen.
(Der Bund)
(Erstellt: 12.03.2016, 09:01 Uhr)