der sturm - Staatstheater Darmstadt

de r
sturm
William Shakespeare
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Premiere am 17. September 2015, 19.30 Uhr
Staatstheater Darmstadt, Kleines Haus
Like as the waves make towards the pebbled shore,
So do our minutes hasten to their end;
Each changing place with that which goes before,
In sequent toil all forwards do contend.
Nativity, once in the main of light,
Crawls to maturity, wherewith being crown’d,
Crooked eclipses ’gainst his glory fight,
And Time that gave doth now his gift confound.
Time doth transfix the flourish set on youth
And delves the parallels in beauty’s brow,
Feeds on the rarities of nature’s truth,
And nothing stands but for his scythe to mow:
And yet to times in hope my verse shall stand,
Praising thy worth, despite his cruel hand.
William Shakespeare
Sonett LX
Der Sturm
William Shakespeare
übersetzt von Frank Günther
Prospero | Antonio | Stephano Bernd Grawert
Ariel Catherine Stoyan
Miranda | Sebastian | Trinculo Christoph Bornmüller
Caliban | Ferdinand | Gonzalo Stefan Schuster
Alonso Jens Dohle
Adrian Falk Effenberger
Live-Musik | Musikalische Leitung Jens Dohle | Falk Effenberger
Regie Christian Weise
Bühne | Kostüm Jana Findeklee | Joki Tewes
Dramaturgie Maria Viktoria Linke
Regieassistenz Kristin Wehrkamp zu Höne | Arne Bloch
Bühnen- und Kostümassistenz Anja Vogel
Kostümassistenz Nadine Smolka
Dramaturgieassistenz Franziska Eisele
Inspizienz Karin Sauer
Soufflage Rafael Buchta
Bühnenmeister Sven Scheffler
Ton Sebastian Franke | Sven Altwein | Wendelin Hejny
Licht Benedikt Vogt
Maske Martina Prothmann | Jennifer Stang
Requisite Bianca Bonn
Regiehospitanz Sarah Kotlarski
Aufführungsrechte Hartmann & Stauffacher
Aufführungsdauer ca. 2 Stunden und 30 Minuten
(inkl. einer Pause von 20 Min.)
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Catherine Stoyan
Handlung
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Zum Auftakt ein Sturm, gierig und geheimnisvoll, entfacht vom Bühnenmagier Prospero. Zwölf Jahre sind vergangen, seit es ihn, den Ex-Herzog
von Mailand, samt seiner Tochter Miranda auf dieses einsame Eiland
verschlug. Sein machthungriger Bruder Antonio hatte seine Weltabgewandtheit ausgenutzt und ihn entthront, Neapels Krone im Verbund.
In einem klapprigen Kahn ließ er Vater und Tochter aussetzen auf hoher
See. Nur dank Fortuna und der Hilfe des edelmütigen Neapolitaners
Gonzalo erreichten sie heil den Strand. Die tiefe Demütigung aber blieb.
All das erfahren wir aus der Erzählung Prosperos, der die Insel, den
Schauplatz des Geschehens, seiner Herrschaft und Erziehung unterworfen
hat. Sie soll ihm nun als Bühne dienen für sein Rache-Schauspiel.
Kraft seiner Magie hat er sich die Inselbewohner untertan gemacht. Allen
voran übt der Luftgeist Ariel treuen Dienst, seit Prospero ihn durch
seinen Zauber aus einem Baumspalt befreite. Auch Caliban, der missgestaltete Sohn der Hexe Sycorax, die bis zu ihrem Tod die Insel beherrschte,
muss schuften als sein Knecht.
Prospero ist besessen von der Idee der Vergeltung, wieder und wieder
spielt er sie mit seinen Gehilfen durch. Und nun, da „des Schicksals Güte“
ihm die Feinde ans Ufer seines Exils gesandt hat, kann die Inszenierung
beginnen: Antonio, der verhasste Bruder, Alonso, König von Neapel,
sein Bruder Sebastian, Prinz Ferdinand und Gefolge erleiden Schiffbruch
in Prosperos Sturm. In seinem Auftrag werden sie von Ariel an Land
gezogen, zerstreut und in die Irre geführt. Es beginnt ein Verwirrspiel um
Rache und Vergebung. Die Geschichte kreist immer wieder um dasselbe,
die Spieler wechseln die Rollen, die Figuren verschwimmen.
Zunächst inszeniert Prospero geschickt eine Begegnung des allein
umherwandernden Königssohns mit Miranda. Es ist Liebe auf den
ersten Blick. Doch bevor das junge Paar sein Glück ausleben kann, wird
Ferdinand auf die Probe gestellt.
Indessen lässt Ariel die Puppen bis zum Wahnsinn tanzen. König Alonso
beklagt schmerzlich den Verlust seines Sohnes, während die Edelmänner
Gonzalo und Adrian sich gegenseitig im Schwafeln überbieten und
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Königsbruder Sebastian und Antonio hämisch Witze reißen. Erschöpft
schlafen alle bis auf die beiden ein, und der intrigante Antonio versucht
Sebastian zum Königsmord zu überreden. Sie zücken die Schwerter –
doch Ariel vereitelt ihren Plan.
Die Saufkumpanen und Spaßmacher Trinculo und Stephano wurden
ebenfalls auf die Insel gespült. Dort treffen sie auf Caliban, der sie,
betrunken von ihren „himmlischen Getränken“, für Götter hält. Weinselig
träumt er von Rebellion und stiftet Stephano zum Mord an Prospero an.
Derweil treibt der Magier sein Spiel mit den beiden Liebenden Miranda
und Ferdinand, die sich ein unschuldiges Eheversprechen geben, und
der vielgestaltige Ariel zermürbt weiter Prosperos Feinde um Alonso und
Antonio. In Gestalt einer Harpyie hält der Luftgeist Bußgericht und offenbart
den Grund ihrer Not: ihre Schuld an Prospero.
Nachdem Ferdinand Prosperos Probe erfolgreich bestanden hat, wird
Verlobung gefeiert. Ariel souffliert den Inselgeistern, und so beginnt
mit buntem Theaterzauber ein wundersames Spiel im Spiel – bis Prospero
die Vorstellung jäh unterbricht. Fast hätte er das Mordkomplott seines
Knechtes Caliban vergessen. Doch auch hier hat Ariel wieder ganze Arbeit
geleistet: Nachdem Prosperos dienstbarer Geist die Verschwörer Stephano,
Trinculo und Caliban durch Sümpfe und Jauche gehetzt hat, verhindert er
ihren Anschlag und straft sie grausam.
Die Vorführung neigt sich dem Ende zu, nun ist die Zeit der Rache
gekommen. Doch am Punkt seines größten Triumphs tritt das erwartete
Gefühl der Befriedigung für Prospero nicht ein. Soll er als Mensch nicht
menschlich fühlen? Erschöpft und von der Rachelust verlassen muss er
das Thema aufgeben, das die letzten zwölf Jahre seines Lebens bestimmt
hat. Er schwört er den magischen Kräften ab und vergibt seinen Feinden.
Mit dem Ausblick auf die glückliche Heimkehr aller Beteiligten endet das
von Prospero als Akteur, Regisseur und Zuschauer beherrschte Spiel.
Maria V. Linke
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Die Welt, das Theater
Christoph Bornmüller
Der wahre Sturm ist drohend und roh, lyrisch und grotesk, er ist – wie
allen großen Werke Shakespeares – eine leidenschaftliche Auseinandersetzung mit der wirklichen Welt. Man muss im Sturm das Drama des
Renaissance-Menschen und der letzten Humanistengeneration erblicken.
Nur in diesem, ausschließlich in diesem Sinn kann man im Sturm die
philosophische Selbstbiographie Shakespeares und die Summe seines
Theaters finden. Der Sturm wird dann zum Drama der verlorenen Illusionen,
der bitteren Weisheit und der zerbrechlichen, wenn auch beharrlichen
Hoffnung. Im Sturm erwachen dann die großen Themen der Renaissance:
das Thema der philosophischen Utopie, der Grenzen der menschlichen
Erkenntnis, der Einheit von Mensch und Natur, der Beherrschung der
Natur, der Bedrohung der moralischen Ordnung. Wir werden im Sturm
die Shakespearsche Gegenwart wiederfinden können: die Zeit der großen
Seereisen, der Neuentdeckung von Kontinenten und geheimnisvollen
Inseln, der Träume von einem Menschen, der sich Vögeln gleich in die
Lüfte erheben könnte, und von Maschinen, die die Eroberung der stärksten
Festungen möglich machten. Jene Epoche, die den Umbruch in der
Astronomie, der Metallschmelzung und der Anatomie mit sich brachte,
jene Epoche der Gemeinschaft von Gelehrten, Philosophen und Künstlern;
der Wissenschaft, die zum ersten Mal universell geworden war, der
Philosophie, die die Relativität aller menschlichen Urteile aufgedeckt hatte;
jene Epoche der wunderbarsten Baudenkmäler und der astrologischen
Horoskope, die der Papst und mit ihm alle Fürsten sich stellen ließen; die
Epoche der Religionskriege und der Scheiterhaufen, der Inquisition
und des bisher unbekannten Prunkes der Zivilisation, sowie der Seuchen,
die ganze Städte vernichteten; die herrliche, grausame und dramatische
Welt, die plötzlich die ganze Macht des Menschen offenbarte und seine
ganze Armseligkeit. Das elisabethanischen Theater war diese Welt. Über
Shakespeares Bühne im Globe war ein riesiger Baldachin gespannt, mit
den goldenen Zeichen des Tierkreises besät, der den Himmel symbolisierte.
Das war noch wie im Mittelalter ein theatrum mundi. Aber es war das
theatrum mundi nach dem Erdrutsch. […]
jan kott
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Der Sturm hat zwei Schlüsse: den stillen Abend auf der Insel, wo Prospero
seinen Feinden verzeiht und wo die ganze Geschichte zu ihrem Ausgangspunkt zurückkehrt – und den schmerzlichen Monolog Prosperos, der an
die Zuschauer gerichtet ist, den Monolog, der außerhalb der Zeit liegt.
Der Sturm hat auch zwei Prologe. Den ersten, dramatischen, der auf dem
Schiff stattfindet, das von den Blitzen entzündet und vom Sturmwind gegen
die Felsen geworfen wird. Der zweite Prolog ist die Erzählung Prosperos über
den Verlust des Herzogtums und über die einsame Insel; er enthält die
Vorgeschichte der Helden des Dramas. […]
Prosperos Erzählung ist die Geschichte von Machtkampf, Gewalttätigkeit und Staatsstreich. Aber sie ist nicht nur die Geschichte des Herzogtums Mailand. Dasselbe Thema wird sich in den Geschichten Ariels und
Kalibans wiederholen. […] Shakespeares Dramen sind nicht nach dem
Gesetz der Einheit der Handlung gebaut, sondern nach dem Prinzip der
Analogie, der doppelten, dreifachen und vierfachen Fabel, die dasselbe
Grundthema wiederholt, sie sind ein System von konkaven und konvexen
Spiegeln, die ein und dieselbe Situation spiegeln, vergrößern und parodieren.
Dasselbe Thema wiederholt sich in Dur und Moll in allen Registern der
Shakespearschen Musik, es klingt abwechselnd lyrisch und grotesk, pathetisch und ironisch. Dieselbe Situation, die von Königen gespielt wird,
wird auf der Shakespeare-Bühne von Liebenden wiederholt und von Narren
persifliert. Aber wer weiß, vielleicht persiflieren die Könige die Narren?
Könige, Liebende und Narren sind nur Schauspieler. Die Rollen werden
verteilt, und die Situationen werden aufgezwungen. Schlimm, wenn die
Schauspieler nicht in ihre Rolle passen und sie nicht zu spielen vermögen.
Denn sie spielen auf einer Bühne, die das Bild der wirklichen Welt ist,
auf der sich niemand seine Rolle selbst aussucht noch für eine Situation
etwas kann. Die Situationen in Shakespeares Theater sind immer wirklich.
Selbst dann, wenn sie von Geistern und Ungeheuern gespielt werden. […]
Die Insel ist die Welt, die Welt das Theater, auf dem alle Schauspieler sind.
Prospero hat nur eine Vorstellung inszeniert. Sie ist kurz und zerbrechlich
wie das Leben.
Falk Effenberger,
Christian Klischat
Jens Dohle,
undCatherine
Götz van Stoyan
Ooyen
Zorn und Zeit
Der Zornige, der sich vorläufig zurückhält, ist der Erste, der weiß, was es
bedeutet, etwas vorzuhaben. Er ist zugleich der Erste, der nicht nur in
Geschichten lebt, sondern auch Geschichte macht – sofern das Machen hier
soviel heißt wie: der Vergangenheit die Motive entnehmen, um für Kommendes zu sorgen. In dieser Hinsicht gibt es nichts, was sich mit der Rache
vergleichen ließe. Der aktivierte Thymos entdeckt durch sein Verlangen
nach Genugtuung die Welt als Spielraum für Entwürfe nach vorn – Entwürfe,
die aus dem Gewesenen Schwung holen für den späteren Schlag. […]
Man darf das Racheverlangen getrost unter die unerfreulichsten Regungen
des Menschen zählen. Daß es zu den Ursachen der größten Übel gehört,
lehrt die Geschichte, sofern sie als „Lehrmeisterin des Lebens“ nicht
ausgedient hat. Unter dem Namen ira wird die Regung zu den Todsünden
gerechnet. Sollte dennoch Vorteilhaftes über sie hervorgebracht werden,
wäre es die Feststellung, wonach mit ihr die Möglichkeit der Unterbeschäftigung aus dem Leben des Rächers verschwindet. Wer einen festen
Rachevorsatz in sich trägt, ist vor Sinnproblemen bis auf weiteres sicher.
Ein langer Wille schließt Langeweile aus. Die tiefe Einfachheit der Rache
befriedigt das allzu menschliche Bedürfnis nach starker Motivierung. Ein
Motiv, ein Agent, eine notwendige Tat: Das ergibt das Formular zum vollkommenen Projekt. Dem Rächer bleibt die „Not der Notlosigkeit“ erspart,
von der Heidegger behauptet hatte, sie sei das Signum der vom Sinn
für Not-Wendigkeit im Stich gelassenen Existenz. Tatsächlich kann man
nicht behaupten, der Rächer lebe wie ein Blatt im Wind. Der Zufall hat
keine Macht mehr über ihn. So erlangt die rächerische Existenz in nachmetaphysischer Zeit eine restmetaphyische Bedeutung: Dank der Rache
verwirklicht sich die „Utopie des motivierten Lebens“ in einem Milieu,
in dem immer mehr Menschen vom Gefühl des Leergelassenseins erfasst
werden. Niemand hat das klarer zum Ausdruck gebracht als der Genosse
Stalin, als er gegenüber den Genossen Kamenew und Dschersinski die
Bemerkung fallen ließ: „Das Opfer wählen, den zu führenden Schlag
sorgfältig vorbereiten, den Rachedurst unerbittlich stillen und sich dann
schlafen legen … Es gibt nichts Süßeres auf der Welt.“
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Die Unwiderruflichkeit des Getanen und
die Macht zu verzeihen
Das Hilfsmittel gegen Unwiderruflichkeit – dagegen, daß man Getanes
nicht rückgängig machen kann, obwohl man nicht wußte, und nicht wissen
konnte, was man tat – liegt in der menschlichen Fähigkeit zu verzeihen.
Könnten wir einander nicht vergeben, d.h. uns gegenseitig von den Folgen
unserer Taten wieder entbinden, so beschränkte sich unsere Fähigkeit zu
handeln gewissermaßen auf eine einzige Tat, deren Folgen uns bis an
unser Lebensende im wahrsten Sinne des Wortes verfolgen würden, im
Guten wie im Bösen; gerade im Handeln wären wir das Opfer unserer
selbst. […]
Verfehlungen sind alltägliche Vorkommnisse, die sich aus der Natur
des Handelns selbst ergeben, das ständig neue Bezüge in ein schon
bestehendes Bezugsgewebe schlägt; sie bedürfen der Verzeihung, des Vergebens und Vergessenes, denn das menschliche Leben könnte gar nicht
weitergehen, wenn Menschen sich nicht ständig gegenseitig von den Folgen
dessen befreien würden, was sie getan haben, ohne zu wissen, was sie tun.
Nur durch dieses dauernde gegenseitige Sich-Entlasten und Entbinden
können Menschen, die mit der Mitgift der Freiheit auf die Welt kommen,
auch in der Welt frei bleiben, und nur in dem Maße, in dem sie gewillt
sind, ihren Sinn zu ändern und neu anzufangen, werden sie instand gesetzt,
ein so ungeheures und ungeheuer gefährliches Vermögen wie das der
Freiheit und des Beginnens einigermaßen zu handhaben.
Was die Verfehlungen und somit das vergangene Gehandelte betrifft,
so ist der natürliche Gegensatz der Verzeihung die Rache, welche an die
ursprüngliche, verfehlende Handlung gebunden bleibt, um im Verlauf des
eigenen reagierenden Tuns die Kettenreaktion ausdrücklich virulent zu
machen und in eine Zukunft zu treiben, in der alle Beteiligten, gleichsam
an die Kette einer einzigen Tat gelegt, nur noch reagieren, aber nicht
mehr agieren können. […] Weil das Verzeihen ein Handeln eigener und
eigenständiger Art ist, das zwar von einem Vergangenen provoziert, aber
von ihm nicht bedingt ist, kann es von den Folgen dieser Vergangenheit
sowohl denjenigen befreien, der verzeiht, wie den, dem verziehen wird.
H a n n ah A r e n d t
P e t e r Sl o t e r d i j k
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„Die Insel ist voll Klang …“
Pollex parvus
(Bass-Kalimba)
Serra cantus
(Daxophon,
entwickelt von
Hans Reichel)
Lavabrum simplex
(Badewanne)
Hora larvarum
(Waterphone,
Erfinder
Richard Waters)
Organum ligneus
(Holz-Orgel)
Nervus longus
(Long String Instrument,
entwickelt von
Ellen Fullman)
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Calamus fulguralis
(Federblitz)
Die musikalische Idee für den Sturm war sofort geboren: Ein ganz besonderes, eigens für die Produktion entwickeltes und gebautes Instrumentarium sollte einen spezifischen und vielstimmigen Raum kreieren, so die
Klangpoeten Jens Dohle und Falk Effenberger. Ein Berliner Schrebergarten
diente ihnen als Forschungslabor für den perfekten Inselsound. Sie tüftelten, erfanden, konstruierten und ließen sich von anderen Klangbesessenen
zum Nachbau inspirieren. Gemeinsam mit den Werkstätten des Staatstheaters entstanden so die Instrumente der Insel.
Zeichnungen: Anja Vogel
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Neue Wissenschaft, alte Magie
Von Prosperos vielbeschäftigten Helfern in Der Sturm über den sommernächtlichen Klamauk, den Titanias Elfengefolge veranstaltet, bis zu den
dunklen Geistern, die Lady Macbeth herbeiruft, auf dass sie aus ihr eine
Mörderin machen – Shakespeares Stücke sind voller überweltlicher
Erscheinungen, gewöhnlich unsichtbar, aber auch dann häufig wesentliche
Träger der Handlung. […]
Einer der zur Shakespearezeit berühmteste Meister der Schwarzen
Kunst war Dr. John Dee. John Dee war vor allem bekannt durch das, was
er seine „Schau-Steine“ nannte, spiegelnde Objekte, in denen er, Gebete
und Optik verbindend, Engel beschwören und mit ihnen reden konnte. […]
John Dee war auch gefeierter Mathematiker, Experte vor allem für Euklid,
den antiken Begründer der Geometrie; in den 1580er Jahren wurde er an
die Universitäten Paris und Oxford gerufen, um dort mathematische Vorlesungen zu halten. Dennoch war sein Verhalten häufig das eines „Zauberers“,
und dieses Wort lässt uns sofort an Trug denken; in den Ohren der Elisabethaner jedoch klang dieses Wort eher neutral und meinte jemanden,
der sich die Macht zuschrieb, Geister zu beschwören. Uns moderne Köpfe
verwirrt diese Mischung von Wissenschaft und Magie, in Shakespeares
Tagen allerdings herrschte eine natürliche Affinität zwischen diesen beiden
Welten. Professorin Lisa Jardine erklärt dieses Verhältnis:
Stefan Schuster, Bernd Grawert
„Das Wort, das sie dafür hatten, war magus – das war einer,
der beides zugleich war, Magier und Wissenschaftler, und
zwischen beiden Bereichen gab es tatsächlich keine Grenze.
Ein Magus konnte durch Mittel, die unergründlich blieben,
Macht ausüben über die natürliche Welt. Insofern war Dr. Dee
in einem ganz realen Sinn Magus; vermutlich sogar Englands
einziger Renaissance-Magus. Hochgebildet, beherrschte er
Mathematik, Astronomie, Sprachen – die klassischen Sprachen –
und er verband seine Bildung und intellektuelle Schulung
mit einer enormen Fähigkeit und auch dem Willen, zu lenken
und zu kontrollieren: Er wollte Macht.“ 1
N e il Mac G r e g o r
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In der gebildeten Elite genoss John Dee das gleiche Ansehen wie ein
berühmter Wissenschaftler heute, dessen Werk wir bewundern, aber nur
andeutungsweise begreifen können. Wenn Physiker und Astronomen
heute von Paralleluniversen und negativer Materie sprechen, verfügen nur
wenige von uns über das nötige Wissen, um beurteilen zu können, ob
solche Vermutungen begründet sind oder nicht. Aber wir akzeptieren, dass
diese Wissenschaft den Anspruch erhebt, unsere Welt zu erklären –
nicht anders als Shakespeares Zeitgenossen Dees Erklärungen zum Wesen
der Sterne und Geister akzeptiert haben, auch wenn einige glaubten, sie
grenzten bedenklich nahe an Hexerei. Sie fürchteten, er flirte mit dem Teufel;
die Kinder in der Nachbarschaft „hatten Angst vor ihm, denn er galt als
Zauberer“2. […] Dee war der Prototyp der umstrittenen Berühmtheit, der
Magus, den das Volk mit Hassliebe verfolgte.
Sein Ruhm aber färbte auch ab auf einige der großen Bühnengeschöpfe,
auf Christopher Marlowes verdammten Dr. Faustus etwa und auf Prospero,
Shakespeares Meister magischer Effekte. Die „großartigen Visionen“ in
Der Sturm sind Bühnenkunst in höchster Vollendung: Schiffbruch auf dem
Meer, üppige Banketts, die im Nu erscheinen und wieder verschwinden –
Bühnenmagie, zugleich Produktionen anspruchsvoller Technik. Möglich
wurden solche Bühneneffekte jedoch erst ab etwa 1608, als Shakespeares
Ensemble auch den überdachten Raum des Blackfriars neben der Freiluftbühne des Globe zu nutzen begann. Im Innenraum des Blackfriars erreicht
der Bühnenzauber von Der Sturm einen neuen Gipfel der Perfektion.
Fliegende Käfer und andere Effekte, die einst dazu geführt hatten, dass
man John Dee zum gefährlichen Hexenmeister stempelte, ließen sich
nun realisieren, und niemand dachte mehr an Zauberei.
Prosperos Magie ist, wie die des Dr. Dee, sehr viel mehr als leichte
Unterhaltung. Mit seinem überlegenen Wissen lässt Prospero nicht nur
blitzschnell Gewitter aufziehen oder gedeckte Tafeln herbeischaffen:
Er übernimmt die Insel, die den Schauplatz von Der Sturm abgibt. Magie –
wie jede Mystifikation, die man richtig einsetzt – verleiht Autorität,
darum sollte uns auch nicht überraschen, dass Dees Geschick als Magus so
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eng verknüpft war mit den Strukturen der wirtschaftlichen und politischen Macht der elisabethanischen Zeit. Schwer einzuschätzen ist für uns,
was wir davon halten sollen, dass Dr. Dee der Königin zur kolonialen
Expansion in Amerika riet. Das Publikum aber, das verfolgte, wie Caliban
oder Ariel Prosperos Befehle befolgen, wird kaum daran gezweifelt haben,
dass im Zusammentreffen zweier Welten derjenige der Mächtigere sein
würde, der über Magie verfügt. Als Prospero (der aus Mailand vertriebene
Herzog) auf der Insel ankommt, befreit er mit seinem Wissen – seinen
magischen Künsten – Ariel aus dem Spalt einer Pinie, in dem ihn eine
Hexe festgeklemmt hatte. Freiheit, beschwert sich Ariel, habe Prospero
ihm versprochen, nicht erneute Dienste, doch dieser stellt klar: „Meine
[Zauber] Kunst … hieß [die gespaltne Pinie sich auftun] und heraus dich
lassen“. So wird Ariel aus der einen Gefangenschaft befreit, nur um wiederum
in Sklaverei zu geraten.
Ein mächtiger Europäer nimmt eine Insel in Besitz – sind wir noch in
der Welt von Der Sturm, oder geht es hier um England und Spanien und
ihre Eroberungen in der Neuen Welt? Shakespeares Publikum jedenfalls
hat sich gewiss an jüngst vergangene Ereignisse jenseits des Atlantiks
erinnert. In den 1590er Jahren hatten Sir Walter Raleighs Siedler versucht,
auf Roanoke Island, vor der Küste North Carolinas, eine Siedlung zu
errichten, und waren damit gescheitert. In Jamestown in Virginia war eine
englische Kolonie entstanden, gerade ein, zwei Jahre bevor Der Sturm
auf die Bühne kam. Noch wusste niemand, ob sie der doppelten Bedrohung
durch Eingeborene und Klima würde trotzen können.
Stets waren Begegnungen mit Eingeborenen wie Caliban und Ariel zu
befürchten. Die amerikanischen Indianer verfügten über vorzügliche
Kenntnisse ihres Landes und seiner Ressourcen, doch die Wissenschaft
eines Dr. Dee war ihnen noch überlegen – insbesondere, wenn ihre
Erkenntnisse und Fähigkeiten als geheime Macht präsentiert wurden, die
nur ihrem Besitzer zu Gebote steht (wie dies Prospero tat). Wer nicht über
entsprechende Kenntnisse verfügt, dem erscheint Wissenschaft rasch wie
Zauberei, insofern kann sie auch als Mittel der Unterdrückung dienen.
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Es war dies eine Taktik, wie sie die Spanier bei der Eroberung Mexikos und
Perus mit großem Erfolg eingesetzt hatten. […]
Shakespeares Prospero ist vielleicht die positivste Darstellung eines
Magus im elisabethanischen und jakobäischen Drama – und das hat seine
Ursache wohl in der Selbstbeschränkung, mit der er seine magischen Kräfte
zu nutzen lernt. Ursprünglich war er von seinem Bruder nicht zuletzt wegen
seiner obsessiven Beschäftigung mit der Magie als Herzog von Mailand
abgesetzt und ins Exil auf die Insel getrieben worden, und zunächst hält
Prospero auch an seiner magischen Praxis fest. Doch er gibt sie auf. Sobald
er Gerechtigkeit und Glück auf der Insel wiederhergestellt hat, kann er
Egoismus und Überheblichkeit des Magus anprangern.
Prosperos Preisgabe der Magie wurde gelegentlich als Bild für
Shakespeares Abschied von der Bühne interpretiert – Der Sturm, geschrieben um 1610, war das letzte Stück, das er als alleiniger Autor verfasst
hat. Doch nicht weniger erstaunlich ist Shakespeares Botschaft über die
Weisheit einiger außergewöhnlicher Menschen, die sich entschieden,
auf ihre Fähigkeiten zu verzichten: Prospero verfügt über genügend Selbstdisziplin, seine übernatürlichen Kräfte aufzugeben. In Doctor Faustus –
Marlowes Stück über die Gefahren von Wissen, Macht und Gier – bietet
der erschrockene Faustus an, „seine Bücher zu verbrennen“, um der
Hölle zu entkommen; Prospero dagegen versenkt sein Buch der Magie
freiwillig, das er zuvor noch zu den Bänden „mehr wert mir als mein
Herzogtum“ gerechnet hatte.
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Lisa Jardine: Gloriana rules! The waves; or, the advantage of being
excommunicated (and a woman). In: Transactions of the Royal Historical
Society, 6th series, 14 (2004), S. 209—222.
John Aubrey: Brief lives. London 2000. Zu John Dees Leben vgl. S. 366—369.
Catherine Stoyan
W. H . A u d e n
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Die See und der Spiegel (Auszüge)
Ein Kommentar zu Shakespeares Der Sturm
Bleib bei mir, Ariel, während ich packe, und das erste was du freiwillig tust
Erleichtert meinen Abschied. Teil meine scheidenden Gedanken
Wie du gedient hast meinen ausufernden Wünschen: dann, braver Geist
Äonen für dich voll Gesang und Kühnheit, und für mich
Kurz Mailand, dann Erde. Alles in allem ging die Sache besser aus
Als ich einst erwartet habe oder je verdient;
Ich bin froh, daß ich mein Herzogtum nicht zurück bekam bis
Ich es nicht mehr wollte; ich bin froh, daß Miranda
Mir keine Beachtung mehr schenkt; ich bin froh, daß ich dich freiließ
So kann ich endlich wirklich glauben, daß ich sterben werde.
[…]
Was wirklich ist, ist die Ankunft des Schmerzes; dank deiner Dienste
Sind Unglückliche und Einsame nur zu lebendig.
Aber jetzt sind die schweren Bücher für mich alle unbrauchbar
Denn wo ich hin gehe haben Worte kein Gewicht: also
Wird es das Beste sein, wenn ich ihren faszinierenden Rat
Der schweigenden Auflösung durch die See übergebe
Die nicht mißbraucht, weil sie nichts schätzt;
[…]
In einem offenen Boot, weinte ich, weil ich eine Stadt weggab
Selbstverständliche Wärme und anfassbare Wirklichkeit
Für die Gabe des Umgangs mit Schatten. Wenn das Alter, das sicher
Genauso böse ist wie die Jugend, etwas klüger aussieht
Dann nur, weil die Jugend immer noch fähig ist zu glauben
Daß sie davonkommen wird mit allem, während das Alter
Nur zu gut weiß, daß es davongekommen ist mit nichts.
[…]
Jetzt Ariel, bin ich der ich bin, dein einstiger und einsamer Herr
Der jetzt weiß was Magie ist: die Macht zu bezaubern
Hubert Schlemmer
Die von der Enttäuschung kommt. Was die Bücher lehren können, ist nur
Daß die meisten Wünschen enden in stinkenden Teichen
[…]
Jetzt, da unsere Partnerschaft gelöst ist, fühle ich mich so seltsam
Als wär ich betrunken gewesen seit meiner Geburt
Und jetzt, plötzlich, zum ersten Male, stocknüchtern
Mit den unbeantworteten Wünschen und ungewaschenen Tagen
Gestapelt rund um mein Leben; als hätte ich die ganze Zeit geträumt
Von einer ungeheuren Reise die ich mache
Imaginäre Landschaften entwerfend, Schluchten und Städte
Kalte Mauern, heiße Räume, wilde Münder, besiegte Rücken
Erfundene Notizen hinkritzelnd über Geheimnisse, belauscht
In Theatern und auf Toiletten, in Banken und in Berggaststätten
Und jetzt, auf meine alten Tage, wache ich auf und die Reise ist wirklich;
Und ich muß sie tatsächlich machen, Schritt für Schritt
Allein und zu Fuß, ohne einen Pfennig in meiner Tasche
Durch ein Universum, wo die Zeit nicht verkürzt ist
Tiere nicht sprechen und weder Schwimmen bekannt ist noch Fliegen.
Wenn ich sicher zuhause bin, Ozeane entfernt in Mailand
Und einfürallemal begreife, daß ich dich nie wiedersehe
Dort drüben, mag sein, wird es mir nicht so schrecklich erscheinen
Nicht mehr interessant zu sein, sondern ein alter Mann
Genau wie andere alte Männer, mit Augen die
Im Wind leicht tränen und einem Kopf der im Sonnenschein wegnickt
Vergeßlich, ungeschickt, ein bißchen schäbig
[…]
O Ariel, Ariel, wie werd ich dich vermissen.
Genieß dein Element. Leb wohl.
Stefan Schuster, Christoph Bornmüller, Bernd Grawert
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Anfertigung der Dekorationen und Kostüme in
den Werkstätten des Staatstheaters Darmstadt.
Technische Gesamtleitung Bernd Klein Bühneninspektor Uwe Czettl Leiter
der Werkstätten Gunnar Pröhl Assistent Technischer Direktor Jonathan Pickers
Technische Assistenz Konstruktion Christin Schütze Produktionsassistenz Sonia
Thorner-Vela Leiterin Kostümabteilung Gabriele Vargas-Vallejo Leiter des
Beleuchtungswesens Dieter Göckel Leiter der Tontechnik Alfred Benz Chefmaskenbildnerin Tilla Weiss Leiterin der Requisitenabteilung Ruth Spemann Leiter
des Malsaals Armin Reich Kaschierwerkstatt Lin Hillmer Leiter der Schreinerei
Matthias Holz Leiter der Schlosserei Jürgen Neumann Leiter der Polster- und
Tapezierwerkstatt Roland Haselwanger Gewandmeisterei Lucia Stadelmann,
Roma Zöller (Damen), Brigitte Helmes (Herren) Schuhmacherei Anna Meirer
Textnachweise:
Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben. Piper, München 1967.
S. 232–236. | W. H. Auden: Die See und der Spiegel. In: Shakespeare, William;
Tragelehn, B. K. (Übers.): Der Sturm. Stroemfeld/Roter Stern, Frankfurt a.M. 2006.
S. 179–186. | Neil MacGregor: Shakespeares ruhelose Welt. C. H. Beck, München
2013. S. 131–143. | Jan Kott: Shakespeare heute. Deutscher Taschenbuch -Verlag,
München 1980. S. 296–333 | Peter Sloterdijk: Zorn und Zeit. Suhrkamp, Frankfurt
a.M. 2006. S. 97–99 | Rechteinhaber, die nicht erreicht werden konnten, werden
gebeten, sich zwecks nachträglicher Rechtsabgeltung zu melden.
Für die freundliche Unterstützung danken wir Dentaltechnik Hamm
und dem Blumenladen fleur in
fleur in
Schulstraße 10
Impressum
Spielzeit 2015|16, Programmheft Nr. 2 | Herausgeber: Staatstheater Darmstadt
Georg-Büchner-Platz 1, 64283 Darmstadt, Telefon 06 15 1 . 28 11-1
www.staatstheater-darmstadt.de | Intendant: Karsten Wiegand |
Geschäftsführender Direktor: Jürgen Pelz |
Redaktion: Maria Viktoria Linke, Franziska Eisele | Zeichnungen: Anja Vogel |
Fotos: Sandra Then | Gestalterisches Konzept: sweetwater | holst, Darmstadt |
Ausführung: Hélène Beck | Hersteller: DRACH Print Media GmbH, Darmstadt
„Our revels now are ended. These our actors,
As I foretold you, were all spirits and
Are melted into air, into thin air:
And, like the baseless fabric of this vision,
The cloud-capp'd towers, the gorgeous palaces,
The solemn temples, the great globe itself,
Ye all which it inherit, shall dissolve
And, like this insubstantial pageant faded,
Leave not a rack behind. We are such stuff
As dreams are made on, and our little life
Is rounded with a sleep.“
Prospero
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