Auf Flüchtlinge vorbereitet sein

Die Tagespost
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KOLUMNE
Auf Flüchtlinge
vorbereitet sein
VON MARTIN SCHNEIDER
Was haben Flüchtlinge mit Katastrophen
zu tun? Aus einer menschenrechtlichen
Perspektive nichts. Flüchtlinge sind keine
Katastrophe. Zum Flüchtling wird, wer
vor Katastrophen, die von Verfolgung,
Krieg, Hunger und Naturgewalten ausgelöst werden, flieht. Die aktuelle Debatte
legt jedoch einen anderen Schluss nahe.
Oft ist von „Flüchtlingsströmen“ die Rede. Mit diesem Bild sind unterschiedliche
Konnotationen verbunden: Wellen und
Ströme sind schwer kontrollierbar. Die
Wellen eines Tsunamis schwappen über
die Deiche und überschwemmen das
Festland. Auch Flüchtlingsströme sind
schwer „eindämmbar“. Auffällig ist: Umso mehr von Wellen die Rede ist, umso
mehr scheinen Flüchtlinge selbst eine
Katastrophe zu sein. Gefährlich wird es,
wenn dieses Bild Angstgefühle erzeugt.
Weil „Ströme“ einfach über uns herein-
Martin Schneider.
Wirtschaft und Soziales
Samstag, 29. August 2015 Nr. 103 / Nr. 35 ASZ
Foto: privat
brechen, weil wir sie nicht mehr kontrollieren können, haben wir Angst, davon
erfasst zu werden. Angst zu haben ist
nicht von vornherein schlecht. Angst ist
wichtig für die Einschätzung von Gefahren und Bedrohungen. Und doch sollte
man achtsam sein, wenn in einer Gesellschaft dieses Gefühl das öffentliche Klima bestimmt. Der Soziologe Heinz Bude
kommt genau zu dieser Diagnose und
spricht von einer „Gesellschaft der
Angst“. Und dies, obwohl es den Menschen in Deutschland im Durchschnitt
relativ gut geht.
Und nun die „Flüchtlingsströme“. Als
vor zwei Jahren das Thema an Bedeutung
zunahm, war eine gewisse Erleichterung
darüber spürbar, wie hilfsbereit und offen
viele Deutsche auf die Schutzbedürftigkeit von Flüchtlingen reagieren. Heribert
Prantl sprach in der Süddeutschen Zei-
tung gar von einem „Aufstand der Empathie“. Dies alles gilt noch und verdient
großen Respekt. Und doch darf nicht ausgeblendet werden, dass sich die Stimmungslage zum Teil geändert hat. Ein Gefühl der Überforderung ist vorherrschend. Auch wenn dieses Klima nicht
überall in Überfremdungsängste und
Ausländerfeindlichkeit
mündet,
die
Angst, die Kontrolle über die Flüchtlingsströme zu verlieren, hat zugenommen.
Auch dies ist nicht von vornherein negativ zu sehen. Bewältigungskapazitäten zu
prüfen – dazu ist jedes Gemeinwesen berechtigt. In sozialethischer Hinsicht bewegt man sich hier in einem nicht ganz
einfachen Spannungsfeld. Zum einen haben um das nackte Überleben kämpfende
Menschen ein Anspruchsrecht auf
Schutz. Zum anderen haben Staaten ein
Eigeninteresse, den Zutritt zu regeln und
zu gestalten. Die Bürger eines Landes
wollen nicht einfach nur Veränderungsprozessen ausgeliefert sein, sie wollen sie
gestalten. Kontrollverlust schwächt die
Souveränität – und macht nicht zuletzt
auch deswegen Angst. Politisch gefährlich wird dieser Zusammenhang, wenn
Bedrohungsszenarien geschürt werden.
Dies ist in der Flüchtlingspolitik meist
dann der Fall, wenn die Zahlen rapide
steigen. Die Abwehr von Flüchtlingsströmen rückt dann ins Zentrum der Diskussionen. Dabei wird übersehen, dass eine
Politik, die sich vorrangig gegen Flüchtlinge und Migranten abschirmen will,
sehr kurzsichtig ist. Hier könnte ein Blick
in den Katastrophenschutz lehrreich
sein. Nicht die Abwehr ist langfristig gesehen erfolgversprechend, sondern die
Anpassung an die veränderte Situation.
Gesellschaften, die ihr Heil in der Abschottung vor Veränderungen und Gefahren sehen, stehen diesen völlig unvorbereitet gegenüber. Dies ist der Punkt, an
dem das Bild von den Flüchtlingsströmen nicht mehr nur gefährlich ist, sondern dabei helfen kann, die Einstellung
zu ändern. Nicht zufällig charakterisiert
Manuel Castells die globale Weltgesellschaft als „Raum der Ströme“. Jürgen
Habermas benutzt das „Bild von anschwellenden Flüssen, die die Grenzkontrollen unterspülen“. Flüssigkeiten sind
im Gegensatz zu Festkörpern nicht leicht
aufzuhalten – manche Widerstände umfließen sie, andere lösen sie auf oder werden von ihnen aufgesogen oder sickern
durch sie hindurch. Und so werden sich
auch die Flüchtlingsströme nicht aufhalten lassen. Wir sollten uns darauf einstellen und vorbereitet sein – und einen
„Übergang von einer Haltung der Verteidigung und der Angst, des Desinteresses
oder der Ausgrenzung … zu einer Einstellung, deren Basis die ,Kultur der Begegnung‘ ist“, fördern (Papst Franziskus).
Der Autor ist theologischer Grundsatzreferent des Diözesanrats der Katholiken der Erzdiözese München und Freising
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