Festrede Victor Neels

VICTOR NEELS | 90
Liebe Familie,
liebe Freunde,
sehr geehrte Damen und Herren,
heute vor fast vier Monaten hatte ich meinen 90sten Geburtstag. Die
Feier findet aber, aus verschiedenen Gründen, erst jetzt statt.
Zum Ersten: Wenn man schon neunzig Mal Geburtstag hatte, bleiben
nicht mehr viele übrig. Da hilft mir eine Antwort, die der ältere Frank
Sinatra seiner Tochter gab, auf Ihre Frage: „Papi was wünschst Du Dir
an Deinem Geburtstag?“ Seine Antwort war: „Noch einen Geburtstag,
Liebes“.
Zum Zweiten: Es ist natürlich wohl ein besonderer Tag. Darum haben
meine Frau und ich gedacht, diesen Tag etwas besonders, etwas
festlicher zu gestalten ... nämlich in einem Europäischen Kontext. Mein
Familien- und Freundeskreis ist verteilt über zwei EU-Länder: die BRD
und Belgien. Und wir möchten jetzt einmal alle zusammenbringen an
einem Ort, wo wir eine große und schöne Zeit erlebt haben, einem der
schönsten Orte von ganz Deutschland, nämlich Vogelsang im Naturpark
Nordeifel (wovon unsere Ardennen sozusagen die zweite Hälfte sind);
ein Ort, der jetzt ein Erinnerungsort ist, mit Geschichten zum Anfassen
über Krieg und Frieden.
Das erste Wort hierüber an meine Vogelsanger Freunde war schon
genug für Ihre Antwort: „Ok, wir helfen Dir gerne dabei!“ Wir haben mit
Freude angenommen, aber gesagt: „Wir tragen die Kosten, weil es mein
Geburtstag ist und weil Vogelsang sicher sein Geld sehr gut gebrauchen
kann als „IP“, als Internationaler Platz.“
Es muss auch erwähnt werden, dass wir, als Familie, zwei Jahrzehnte im
Kreis Euskirchen gewohnt und gelebt haben. Aber Vogelsang und BalenMol sind ca. 180 Km voneinander entfernt. Im tiefen Winter, mit Kälte,
Schnee, Glatteis, Hagel oder Regen ist das eventuell eine gefährliche
Reise. Darum heute am 09. im schönen Monat Mai!
Ich hätte eigentlich meiner aktuelle Rede den folgenden Titel geben
können: „Hass! Haat! Haine!“
Hass ist eine menschliche Emotion! Bringt aber keine Lösung für
menschliche Probleme. Aber der Hass kann besiegt werden mit einer
wichtigen Voraussetzung: dem beiderseitigen Willen!
Als Kommandant der Widerstandsbewegung AS-GL von Balen, meinem
Geburtsort, haben wir über deutsche Truppenbewegungen und Aktionen
der Landesverräter „Zwarten“ Informationen gesammelt. Aber wir haben
auch Sabotageaktionen verübt: Diebstahl von deutschen Militärmaterial,
Überfälle, Sprengungen und Behinderungen von Zugtransporten.
Wir haben auch 9 abgeschossene alliierte Piloten befreien können:
Amerikaner, Engländer und Australier, die ihre Familien zurückgefunden
haben. Was die Zeitschrift „The Dispatch“ von der RAF, in 2006, 51
Jahre nach dem Krieg, noch schreiben liess: „What if these Belgians had
not been such brave people, would the survivors have been captured
earlier! “
Im März 1943 gab es in der Nacht eine große Razzia der Gestapo und
BE-Verräter im Nachbarort Mol. Ca. 40 Männer und Frauen wurden
verhaftet. Davon sind nur die Hälfte zurückgekommen (KZ). Anfang
September 1944 bekamen wir den Befehl von AS-GL, uns in einem
Widerstandcamp (Refuge) „De Most“, bei Balen, ASAP zu melden. Von
den ca. 250 Männern, die sich gemeldet haben, durfte ich, wegen
logistischer Schwierigkeiten, nur 35 behalten. Wir blieben 12 Tage und
verübten Überfälle, wobei wir ein paar LKW und Waffen bekamen und
wir 27 deutsche Militärs und Kollaborateure gefangen genommen haben.
Nach einem schweren Artillerie-Beschuss mussten wir nachts unsere
„Refuge“ verlassen und übergaben unsere Gefangenen an die BEBrigade PIRON, die gerade unseren Nachbarort Leopoldsburg befreit
hatte. Inzwischen hatte in diesem Ort eine Gruppe Belgische SS, Leute
in Uniform, 21 Männer und Frauen in einem Graben erschossen. Auch
wurden in dieser Periode 11 Männer aus Balen, von deutschen SS
Leuten, erschossen. Diese beiden Gräueltaten wurden auf dem
weltbekannten Nürnberger Prozess zitiert.
Diese … unvollständige … Liste der Verbrechen gegen die
Menschlichkeit hatte natürlich nur ein einziges Resultat: HASS! Hass
nach dem unmoralischen Angriff von Deutschland auf Belgien, mit allen
seinen Gräueltaten und Zerstörungen von unseren Städten und
Industrien. Hass nach 4 Jahren schwerer Besetzung mit ca. 58.000
Toten. Hass noch am Ende durch die unmenschlichen Taten der
zurückziehenden deutschen Armee.
So war die Situation 1944 und 1945. Und nun kam endlich der Frieden.
Am 08.05.1945 (dies war übrigens gestern vor 70 Jahren!) war der 2.
Weltkrieg vorbei. Die Besatzung von Deutschland nahm einen Anfang.
Der Leidensweg der deutschen Bevölkerung wurde ab diesem Zeitpunkt
Wirklichkeit. Es würde lang und schwierig werden. Es besteht da ein
interessanter Spruch: Nach Regen kommt Sonnenschein! Prächtig, aber
aufgepasst: Nach Sonnenschein kommt wieder Regen! Das ist ein
Naturgesetz. Auch in der Politik … und das sollte man lieber nicht
vergessen.
In den 60er Jahren nach dem zweiten Weltkrieg, war die deutsche
Bevölkerung ziemlich in Aufruhr. Es entstanden hier verschiedene
Gruppierungen, die Camp Vogelsang lieber weg haben wollten. Ein so
großer NATO-Übungsplatz (5.000 Soldaten) brachte viele Probleme für
einen Teil des Kreises Euskirchen - aber insbesondere für Gemünd,
Dreiborn, Herhahn-Morsbach, Einruhr, Erkensruhr und die
Aufmarschgebiete. Auch Schleiden und Kall waren reichlich bedient mit
Panzer-LKW und anderen Militärtransportern. Es gab auch schwere
Probleme für das Dorf Wollseifen, das plötzlich geräumt werden musste
von den Briten. 500 Menschen mussten alles verlassen und ein anderes
Leben suchen. Ich grüße den Ehrenvorsitzenden des Traditions- und
Fördervereins Wollseifen e.V. Herrn Sistig. Und wünsche Ihnen und allen
Mitgliedern des Fördervereins viel Erfolg.
Es war eine schwierige Zeit als ich im September 1969 im Camp ankam.
Am 01.01.1970 übernahm ich das Kommando von einem
Oberstleutnant, der Jahre in einem Kriegsgefangenenlager eingesperrt
war. Aber der erste belgische Kommandeur, der im Mai 1950 das Camp
von den Briten übernahm, hatte ein Papier in seinem Büro hängen,
worauf klar und deutlich stand: „Ich hasse die Deutschen!“. Nicht sehr
schön, aber verständlich, wenn man bedenkt, dass auch er 4 Jahre
Gefangenschaft als hoher belgischer Offizier hinter sich hatte, fern von
seiner Familie und Freunden, in einem verfeindeten Land. 20 Jahre nach
dem Krieg mit 65 Millionen Toten weltweit, wurde es den jungen
Deutschen, geboren im Krieg oder gerade davor, aber doch zu viel. Sie
hatten keinen Einfluss nehmen können auf die Ergebnisse, aber
mussten wohl die Folgen tragen!
Aber der Krieg war noch nicht zu Ende. Es gab schon den nächsten: Der
„Kalten Krieg“. Einer der uns nicht direkt behelligte, ein Krieg zwischen
zwei Welten, dem Westen und dem Kommunismus. Aber mit einer
Neuigkeit: der latenten Atomgefahr! Als Kommandeur eines PanzerInfanterie Bataillons habe ich noch verschiedene Übungen organisieren
müssen mit A-Bomben (Ground Zero). Die Lagerung dieser Bomben war
geheim und sie mussten regelmäßig umgelagert werden. So haben wir
oft leere Lager bewachen müssen. Düren in Deutschland und Kleine
Brogel in Belgien waren solche Lagerstätten.
In der belgischen Regie-Periode wurden im Camp Vogelsang ca. 1,5
Millionen NATO-Soldaten ausgebildet, technisch wie taktisch. Vor allem
Belgier, Deutsche, Briten, Holländer aber auch gelegentlich Amerikaner,
Franzosen und Luxemburger. Das Leben in und außerhalb des Camps
war nicht einfach: Tag und Nachtübungen, Geschosslärm, Explosionen,
großer und schwieriger Verkehr auf den Straßen, die oft sehr
verschmutzt waren von dem Panzerdreck aus dem Gelände. Folgen
waren, vor allem bei den Kindern, unruhiger Schlaf und Unfälle auf den
Straßen zwischen Zivil und Militär. Tote und Verletzte.
Die Bevölkerung hatte nach 25 Jahren genug. Es musste etwas
geschehen. Als Erster habe ich versucht, der Bevölkerung mehr
Transparenz zu vermitteln über den großen, unbekannten und
schwierigen NATO-Truppenübungsplatz. So haben wir einen Tag der
offenen Tür organisiert. Der erste am 12. September 1972. Das ganze
Camp, außer die Gefahrenzone, war zugängig. BE-Truppen zeigten
Material, Übungen und Installationen für 5.000 Soldaten. Verschiedene
deutsche Dienste zeigten sich: Feuerwehr, DRK, Polizei, TH Aachen,
Lokaltourismus, Serviceclub Kiwanis Nordeifel, von dem ich drei Jahre
Präsident war, internationale Musikkapellen, usw.
Wir haben sogar ein paar Mal eine Trainingsatombombe explodieren
lassen. Jährlich hatten wir ca. 40-45 Tausend Besucher. Das Geld, das
wir dort sammelten, ging an unsere Sozialarbeit bei der Bevölkerung.
Zum Beispiel fuhr jährlich ein Bus mit deutschen Kindern mit
Behinderungen für zwei Wochen an die belgische Küste, nach De
Panne. Und jährlich ein Seniorentag mit vielen Besuchern.
Um das Sozial- und Gemeinschaftsleben zu verbessern, haben wir oft
schwere Arbeiten unternommen: verschiedene moderne Sportfelder und
Jugendheime errichtet, Häuserruinen für den Straßenbau entfernt, Hilfe
bei dem Bau der Panzerumgehungsstraße Dreiborn, Schwimmerlaubnis
für Schulkinder im Campschwimmbad usw. Eine ganze Liste also, aber
unvollständig, und das ist schade, für die fantastische Arbeit von so
vielen Soldaten und Zivilangestellten. Es waren oft schwierige und
gefährliche Arbeiten. Ich hatte auch einen vorbildlichen Stab: Offiziere,
Unteroffiziere, Gefreite und Soldaten, und ich darf die BE-Pioniere nicht
vergessen, die Enormes geleistet haben für die Instandhaltung dieses
großen Camps.
Ich bin stolz auf Euch Alle. Ohne Euch stünde ich jetzt nicht hier!
Am 31. März 1980 war meine Arbeit zu Ende. Es bleibt nun noch,
meinen Nachfolgern zu danken für die Fortsetzung der schon geleisteten
Arbeit.
Aber zu allerletzt habe ich noch jemandem zu danken. Keinem General,
keinem Minister, keinem Chef (oder, doch?!), sondern schlicht und
einfach meiner Frau Annelene. Sie hat mir deutsch und die deutsche
Mentalität und die Gebräuche beigebracht. Sie war die Erste, die mir als
20-jährigem, mit Hass erfülltem aber verliebtem Sergeant der Besatzung
gezeigt hat, dass es in allen Ländern der Welt gute und schlechte
Menschen gibt … und eine ganze Menge unentschlossene, die aber die
politische Waage beeinflussen.
Was ich schließlich bin und was ich vollbracht habe, ist dank ihr. Nach
70 Jahren Zusammenleben sage ich noch immer „Love you more and
more!“ Und ich bitte Dich Schatz, diese 70 Rosen annehmen zu wollen:
eine Rose für jedes Jahr, das Du mich ertragen musstest.
Rosen für Annelene
Meine Damen und Herren, das lange Zeitalter des Hasses zwischen
Deutschen und Belgiern ist verschwunden. Liebe deutsche und
belgische Freunde, wir haben zusammen Enormes fertig gebracht. Wir
haben der Welt gezeigt, dass es möglich ist, Hass durch Freundschaft zu
ersetzen. Auch auf einem Kontinent, wo tausende Jahre nun Kriege an
der Tagesordnung waren, und nun 70 Jahre lang kein Krieg mehr war.
Aber dieser Frieden muss politisch bestätigt werden. Und jetzt, liebe
europäische Jugend, jetzt kommt Eure Zukunft. Sonst werden alle Opfer,
die von Euren Eltern gebracht wurden, umsonst gewesen sein. Sonst ist
Eure eigene Zukunft und die von Euren Kindern in großer Gefahr, und es
gibt wieder Millionen Tote und Elend in „unserem Europa“.
Dieses herrliche Fleckchen Erde, voll Geschichte und Opfern, muss ein
Erinnerungsort für die ganze europäische Jugend werden. Und lasst es
mich noch einmal in Englisch sagen: „Good Luck, old and young fellows.
We ‘old dragons’ will keep an eye on you from our next Camp
Vogelsang, somewhere in the stars!”
Es lebe unser Europa,
es lebe Deutschland,
es lebe Belgien!