Alltagswelten – Expertenwelten | Band 14 Christopher Street Day Der CSD im Spannungsfeld zwischen schwul-lesbischer Emanzipation und kommerzieller Spaßkultur Johannes Jakob Arens | Christopher Street Day | Inhalt Vorwort der Herausgeber 1. Schwul-lesbische Kultur zwischen Emanzipation und Spaß 2. Die Stonewall Riots und der Mythos “Christopher Street“ 2.1. Schwul-lesbische Emanzipation in den USA vor 1969 2.2. Die gay liberation in den USA 3. Schwul-lesbische Emanzipation in der Bundesrepublik 3.1. Der Paragraph 175 3.2. Die Schwulenbewegung 3.3. Schwul-lesbische Emanzipation zu Beginn des 21. Jahrhunderts 4. Der Kölner Christopher Street Day 4.1. Schwul-lesbisches Köln 4.2. Der Kölner Lesben- und Schwulentag Köln 4.3. Von der Demonstration zum Event 4.4. Zwischen Politik und Kommerz 5. Motivationen und Erfahrungen 6. Lokale Identität 7. Strategien gegen die Unsichtbarkeit 7.1. Hypermaskulinität 7.2. Drag Kings and Queens 7.3. Gender bending 8. Der CSD im öffentlichen Raum 9. Wem gehört der CSD? 9.1. Sponsoring 9.2. Volksfest CSD? 9.3. Gegenwelten 9.4. Rückeroberung Interview mit Reinhard Klenke Interview mit Elfi Scho-Antwerpes Interview mit Volker Beck Interview mit Tomasz Baczkowski Literatur zum Thema Impressum 3 4 6 6 9 13 14 16 19 20 20 25 27 30 31 33 37 37 38 39 40 42 43 43 44 46 47 49 51 52 54 55 Christopher Street Day | Vorwort | Der CSD sei eine einzige große Party, als politisches Signal spiele er kaum mehr eine Rolle. Vorwort der Herausgeber Inzwischen reiht sich der Christopher Street Day [CSD] in vielen Städten in die Reihe von Traditionsveranstaltungen ein, die als kulturelle Events aus dem städtischen Leben nicht mehr wegzudenken sind. Lesben und Schwule präsentieren sich selbstbewusst und vielfältig im öffentlichen Raum. Sie feiern mit anderen Bürgerinnen und Bürgern in einer ausgelassenen und solidarischen Atmosphäre. Aber es werden auch Stimmen laut, die den CSDs vorwerfen, immer unpolitischer zu werden. „Kommerzialisierung“ ist nur ein Stichwort, das die aktuelle Diskussion bestimmt. Der CSD sei eine einzige große Party, als politisches Signal spiele er kaum mehr eine Rolle. Bei aller Euphorie, wie gut es Lesben und Schwule heute haben, beschleicht den einen oder die andere ein ungutes Gefühl. Längst nicht jede/r empfindet es als selbstverständlich, im Alltag offen als Lesbe oder Schwuler zu leben. Viele fühlen sich in der Öffentlichkeit unsicher. Lesben und Schwule mit Zuwanderungsgeschichte berichten von Mehrfachdiskriminierung. Ältere Lesben und Schwule müssen ihre Emanzipation oft in einer ignoranten Umgebung bewältigen. Auch wenn es anders scheint: Selbst Jugendliche tun sich mit ihrem Coming Out genauso schwer wie eh und je. Der politische Acker für ein diskriminierungsfreies Leben mag in Deutschland gut bestellt sein. Lesbische und schwule Lebensweisen werden zumindest dann auf allen gesellschaftlichen Ebenen mitbedacht, wenn wir uns aufdrängen. Viele wissen aber nicht, wie mühsam das ist. Wie stark ist unsere Community, wenn es um Anfeindungen von außen geht? Wie wichtig sind künftig jene Unentwegten unter uns, die sich auf Dauer für eine aktive Minderheitenpolitik für Lesben und Schwule einsetzen? Welche Bedeutung hat dafür der CSD in Zukunft? Wir bedanken uns bei Johannes Jakob Arens, der diese kulturwissenschaftliche Analyse an der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn vorgelegt hat. Sie trägt dazu bei, dass wir uns auf die Wurzeln des CSD besinnen aber auch verstehen, welch politisches Potential in einem modernen CSD steckt! Alexander Popp Schwules Netzwerk NRW Geschäftsführer Gabriele Bischoff LAG Lesben in NRW Geschäftsführerin Alltagswelten – Expertenwelten Band 14 | www.schwules-netzwerk.de | Christopher Street Day | Zwischen Emanzipation und Spaß 1. Schwul-lesbische Kultur zwischen Emanzipation und Spaß Obwohl seit 1979 in der Bundesrepublik und seit den frühen 1980er Jahren auch in NRW Veranstaltungen unter der Bezeichnung Christopher Street Day oder Gay Pride stattfinden, gibt es hierzulande bislang so gut wie keine historisch-kulturwissenschaftliche Dokumentation bzw. Analyse des Phänomens CSD. Dabei ermöglicht eine konkrete und ortsbezogene wissenschaftliche Erforschung der Paraden neben Erkenntnissen bezüglich Brauchmustern als Indikatoren kollektiver Identitätsbildung wichtige Einblicke in den gesellschaftlichen Umgang mit Minderheiten. Die folgende Untersuchung basiert in wesentlichen Teilen auf einer 2006 am Volkskundlichen Seminar der Rheinischen Friedrich Wilhelms-Universität Bonn entstandenen Magisterarbeit. In einem historisch-beschreibenden Teil spannt sie den Bogen von den Stonewall Riots bis zum gegenwärtigen weltweiten Massenphänomen Gay Pride. Nach einer Beschreibung schwul-lesbischer Emanzipation in der Bundesrepublik konzentriert sich die Arbeit auf eine stellvertretende Analyse des Kölner Christopher Street Days. Anhand einer solchen Analyse der mehr als 15-jährigen Geschichte des Kölner CSD lassen sich Rückschlüsse auf andere, vergleichbare Veranstaltungen in NRW ziehen, da viele Entwicklungen als exemplarisch für Probleme und Herausforderung in schwul-lesbi scher emanzipatorischer Öffentlichkeitsarbeit gesehen werden können. Dabei ermöglicht eine konkrete und ortsbezogene wissenschaftliche Erforschung der Paraden wichtige Einblicke in den gesellschaftlichen Umgang mit Minderheiten. Christopher Street Day | Zwischen Emanzipation und Spaß | Neben den Anfängen in Form des jährlich rotierend in einer anderen nordrheinwestfä lischen Stadt veranstalteten Gay Freedom Days zu Beginn der 1980er Jahre wird die Initiierung der Kölner Parade in ihrer jetzigen Form als Gegenreaktion auf einen zunehmenden schwulen Rückzug aus dem öffentlichen Raum im Rahmen der AIDS-Krise beschrieben. In einem weiteren Kapitel wird die Entwicklung des Kölner Lesben und Schwulentags von einer kleinen politischen Demonstration hin zu einer von internationalen Konzernen unterstützen Großveranstaltung analysiert. Untersucht werden darüber hinaus die Rezeption des Kölner CSD in den Medien, die Nutzung der Parade und der Straßenfeste als politische und wirtschaftliche Plattform sowie interne Protestaktionen und Gegenwelten, um den CSD im Spannungsfeld zwischen schwullesbischer Emanzipation und kommerzieller Spaßkultur zu positionieren. Dabei werden soziale, kulturelle, politische und wirtschaftliche Aspekte und gruppendynamische Konstruktionen und Aushandlungen von kollektiver, überregionaler und lokaler Identität innerhalb des Phänomens CSD berücksichtigt. Ergänzt wird der Text durch eine Reihe von Interviews mit Organisierenden, Teilnehmenden sowie mit Politikern und Politikerinnen. Neben Gewährspersonen zum Paradebeispiel Köln kommen Organisatoren kleinerer Veranstaltungen zu Wort und wird der Blick über den Tellerrand am Beispiel der Veranstaltungen in Polen gewagt. Alltagswelten – Expertenwelten Band 14 | www.schwules-netzwerk.de | Christopher Street Day | Mythos „Christopher Street“ 2. Die Stonewall Riots und der Mythos „Christopher Street“ Die Etablierung schwul-lesbischer Paraden in Deutschland unter der Bezeichnung Christopher Street Day oder Gay Pride ist nicht nur aussagekräftig über die Entwicklung schwul-lesbischer Emanzipation hierzulande, sondern ist darüber hinaus als Schnittmenge der verschiedenartigen US-amerikanischen und deutschen Kulturmuster Parade, Demonstration und Umzug zu sehen. Ein kulturhistorischer Rückblick auf schwul-lesbische Emanzipation in den USA seit den 1950er Jahren mit den sogenannten Stonewall-Unruhen als Schlüsselmoment der Befreiungsbewegung und der anschließenden Ausformung öffentlichen Gedenkens der Ereignisse ist daher sehr aufschlussreich. 2.1. Schwul-lesbische Emanzipation in den USA vor 1969 Die US-amerikanischen Ansätze schwul-lesbischer Emanzipation der 1950er und 1960er Jahre waren geprägt von einem zunehmenden Bewusstsein gesellschaftlicher Unterdrückung und einem bewussten Willen und Mut zu deren Abschaffung. Homosoziale Erfahrungen und erste Ansätze einer Vernetzung ermutigten viele Homosexuelle nach ihrem Militäreinsatz im Zweiten Weltkrieg, in einer der subkulturellen Gemeinschaften der Großstädte einen Neuanfang zu wagen, anstatt in ihre bisherigen sozialen Bezugssysteme zurückzukehren. Durch die Forderungen der neuen Bürgerrechtsbewegungen entstandene gesellschaftliche Brüche und Verwerfungen ermöglichten ein bis dahin ungekanntes selbstbewusstes Auftreten. Denn auch wenn es bei den Protesten gegen Rassismus und den eskalierenden Vietnamkrieg um politische Ziele ging, blieben kulturelle und moralische Gewissheiten nicht unberührt. In dem Maße, in dem sich die Fronten zwischen establishment und counter culture verhärteten, nahmen auch gewaltsame Auseinandersetzung zwischen Polizei und „Radikalen“ zu. Die Lage des New Yorker Stonewall Inn und anderer schwulen Bars in einer Straßenachse mit relativ hoher Präsenz solcher erfahrener junger Aktivisten und Aktivistinnen führten im Juni 1969 daher zu einer raschen Eskalation der Ereignisse. Begonnen hatte die politische homosexuelle Selbstorganisation 1950 in Los Angeles mit der Gründung der Mattachine Society. 1955 wurde mit den Daughters of Bilitis (DOB) ein weiblich-homosexuelles Pendant gegründet. Um die politische Motivation bündeln zu können, kam es bald zu einer engen Kooperation der Gruppen. Die verschlüsselte Namensgebungen beider Organisationen – die der Mattachine Society nach einer mittelalterlichen geheimen Bruderschaft und die der DOB nach den lesbischen Liebesgedichten „Chanson de Bilitis“ von Pierre Louÿs – verweisen auf deren Strategie der Emanzipation durch Assimilation an ihre heteronormative Umgebung. Während diese führenden, landesweit agierenden Verbände politische Agitation und Selbstverteidigung als kontraproduktiv ablehnten, kam es trotzdem bereits 1960 erstmals zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Schwulen und der Polizei nach der Razzia eines Lokals in San Francisco. Durch die Konkurrenz der Organisationen von Westund Ostküste und die Übernahme historisch verzerrter Darstellung in den Medien durch nachrückende Generationen konnte sich im Laufe der Jahre der alleinige Anspruch der New Yorker Ereignisse von 1969 als Beginn der gay revolution durchsetzen. Waren 1960 die kalifornischen Auseinandersetzungen und Proteste noch weitestgehend ungehört in einer homophoben Umgebung verpufft, ermöglichte gegen Ende des Jahrzehnts ein durch Forderungen und Erfolge der Bürgerrechtsbewegung sensibilisiertes gesellschaftliches Klima die Freisetzung eines öffentlichen “individuellen Neins” zu staatlichen Repressionen von nicht heterosexuellen Lebensentwürfen. Die Erinnerungen an die Straßenschlachten zwischen Polizei und Gästen des Stonewall Inn vom 27. bis zum 29. Juni 1969 anlässlich einer Razzia formten ein Jahr später den Anlass zum ersten Christopher Street Liberation Day. Seit den 1970er Jahren haben sich vergleich bare Veranstaltungen mit unterschiedlich ausgeprägtem politischem Charakter in vielen nordamerikanischen, australischen, neuseeländischen und westeuropäischen Großstädten etabliert. Fast immer werden die New Yorker Ereignisse als historischer Anlass des Protests, Gedenkens oder Feierns genannt. Durch die Forderungen der neuen Bürgerrechtsbewegungen entstandene gesellschaftliche Brüche ermöglichten ein bis dahin ungekanntes selbstbewusstes Auftreten. Christopher Street Day | Mythos „Christopher Street“ | Alltagswelten – Expertenwelten Band 14 | www.schwules-netzwerk.de | Christopher Street Day | Mythos „Christopher Street“ Politische Forderungen wurden plötzlich konkret im öffentlichen Raum präsentiert. Die Stonewall-Riots in New York Die in der Christopher Street gelegene, hauptsächlich von Schwulen frequentierte Bar Stonewall Inn hatte sich innerhalb ihres zweieinhalbjährigen Bestehens zu einer der beliebtesten Bars des New Yorker Greenwich Village entwickelt. Obwohl die Bar laut Zeitzeugen ein heruntergekommenes und schmutziges Ambiente bot, verkörperte sie für viele Besucher trotz der häufigen Razzien einen der wenigen sicheren Rückzugsorte aus dem von staatlichen Repressalien dominierten Alltag. Während in allen New Yorker Bars der Ausschank von Alkohol an Homosexuelle verboten war, war hier sogar das Tanzen erlaubt. Neben dem Protest gegen die als unverhältnismäßig hart empfundenen, regelmäßigen Razzien und Sanktionen der Ordnungskräfte wurde durch die Ausbeutung der von Schwulen frequentierten Lokale durch die Mafia, eine aufgeladene Stimmung als Grundlage für eine physische Gegenwehr geschaffen. Am 29. Juni 1969 kam es zu eine erneuten Polizeirazzia, die, entgegen der üblichen Praxis, nicht mit den Betreibern der Bar abgesprochen war. Die Aktion richtete sich vor allem gegen die anwesenden, meist als Prostituierte arbeitenden männlichen crossdresser und führte zu einem Ausbruch angestauter Frustrationen. Nachdem die Verhaftung mehrerer solcher drag hustlers durch lautstarke Anteilnahme der Zuschauer vor dem Gebäude begleitet worden war, löste die Ankunft eines gepanzerten Transportfahrzeugs einen Stimmungsumschwung aus. Physische Gegenwehr zwang den überraschten Polizisten zu einem zeitweiligen Rückzug und auch die angeforderte Verstärkung durch die Tactical Patrol Force sah sich einer Phalanx singender und tanzender Drag Queens konfrontiert. Die Stimmung des folgenden Tages wird von Zeitzeugen als ausgelassen geschildert und nach einer weiteren Nacht von gewalttätigen Auseinandersetzungen machten sich erste Verschiebungen innerhalb des noch zögerlich schwulen Bewusstseins bemerkbar. Politische Forderungen wurden plötzlich konkret in Form von Graffitis und Plakaten oder physisch im demonstrativen Austausch von Zärtlichkeiten zwischen Männern im öffentlichen Raum präsentiert. 2.2 Die gay liberation in den USA Aber nicht alle politisch aktiven New Yorker Schwulen und Lesben zeigten sich zufrieden mit dieser plötzlichen Radikalisierung. Die deutliche Präsenz von Drag Queens als denjenigen Stereotypen der schwulen Szenen, mit denen man möglichst nicht in Verbindung gebracht werden wollte, kam erschwerend dazu. Die Leitung der New Yorker Mattachine Society distanzierte sich daher in Form von Plakaten und Flugblättern, in denen sie zur Ruhe und Mäßigung aufrief. Viele bereits vor Stonewall politisch engagierte Schwule und Lesben sahen jedoch in der plötzlichen Sensibilisierung ihrer Umgebung und einer jähen Radikalisierung der Ereig nisse die Chance für den Beginn einer neuen, weniger hierarchisch strukturierten Bewegung, dem Ausbau lokaler Netzwerke und einer verstärkten Kooperation von Schwulen und Lesben. Diese Stimmung einer gay liberation materialisierte sich wenige Tage nach den Unruhen in der Gründung der gay liberation front. Diese zeichnete sich, gemäß anarchisti scher Tendenzen in radikalen Teilen der Bürgerrechtsbewegung, vor allem durch ihre lose, zellenartige Struktur um gemeinsame Interessen und Ziele und eine führungsfreie Versammlungskultur aus. Während die bisherige Homophilenbewegung sich vor allem durch die Strategie der Anpassung an heterosoziale Normen zwecks Förderung der Toleranz innerhalb einer homophoben Gesellschaft ausgezeichnet hatte, war es das erklärte Ziel der gay liberation front eine gay revolution durchzuführen. Diese sollte durch strukturelle Veränderungen der Gesellschaft bessere Lebensbedingungen für nicht-heterosexuelle Lebensentwürfe schaffen. Die Wahl anderer linksradikaler Organisationen als Partner bei der Durchführung dieser Revolution sollte sich durch deren oftmals homophobe, frauenfeindliche und hierarchische Struktur als problematisch erweisen. Dennoch machte sich bald ein Wandel im USamerikanischen staatlichen Umgang mit sexuellen Minderheiten bemerkbar. Abgesehen von vielen kleineren Rechtsreformen auf lokalem und regionalem Niveau hatten bis 1977 neunzehn Bundesstaaten die Strafbarkeit homosexueller Handlungen abgeschafft oder angepasst. Die Schwulenbewegung zerfaserte im Laufe der 1970er Jahre jedoch weitgehend aufgrund fehlender Grundstrukturen oder ideologischer Zerwürfnisse. Wenn sie auch ihre radikalen Forderung und Strategien nicht über die Mitte der 1970er Jahre hinaus zu transportieren vermochte, hatte sie jedoch eine breite Öffentlichkeit bezüglich einer Verortung schwuler und lesbischer Lebensentwürfe im amerikanischen Alltag sensibilisiert. Die durch ihren Aktivismus ermöglichten Szenen erwiesen sich jedoch, vor allem im schwulen Bereich, als extrem konsumorientiert, zeichneten sich durch ein großes Interesse an der Erfahrung der eigenen Sexualität aus und wurden erst durch die fatalen Auswirkungen von AIDS zu Beginn der 1980er Jahre repolitisiert. … das erklärte Ziel der gay liberation front war, eine gay revolution durchzuführen. Christopher Street Day | Mythos „Christopher Street“ | Alltagswelten – Expertenwelten Band 14 | www.schwules-netzwerk.de 10 | Christopher Street Day | Mythos „Christopher Street“ Der erste Christopher Street Liberation Day Die heute vor allem in US-amerikanischen Metropolen mit einem großen, sichtbaren Anteil schwul-lesbischer Bevölkerung wie New York oder San Francisco ausgerichteten Gay PrideParaden hatten bei ihrer Einführung 1970, ein Jahr nach den Unruhen, noch deutlich den Charakter einer politischen Demonstration. Dieser wurde erste im Laufe der Jahre durch die Spaßelemente der Mainstream-Paraden überlagert. Vor Stonewall wäre die angekündigte und organisierte Präsenz homosexueller Bürger mit politischen Forderungen im öffentlichen Raum undenkbar gewesen. Noch 1966 verwarf ein Mitglied der Mattachine Society auf einer Konferenz verschiedener schwuler Gruppen offensives politisches Verhalten wie das Schwenken eines Banners als kontraproduktiven und gesetzeswidrigen Akt. Das im April 1965 erstmals von der East Coast Homophile Organizations (ECHO) or ganisierte picketing – einer strikten Vorgaben der Ordnungskräfte folgenden Demonstration – vor dem Pentagon, dem Sitz der Bürgerrechtskommission, dem Außenministerium und dem Weißen Haus gegen die Diskriminierung Homosexueller in der US-amerikanischen Armee gilt als die erste schwul-lesbische Demonstration im öffentlichen Raum. Da vor allem der Protest vor dem Sitz des Präsidenten durch mehr als siebzig Teilnehmer und zahlreiche Medienvertreter ungeahnte Aufmerksamkeit erfuhr, fand die Idee eines vergleichbaren, aber regelmäßigen annual reminders am 4. Juli, dem Nationalfeiertag, großen Anklang und bereits am 4. Juli 1965 demonstrierten 39 Personen eineinhalb Stunden lang vor der Independence Hall in Philadelphia. Diese regelmäßige Gedenkveranstaltung war in wesentlichen Zügen eine Idee des schwulen Bürgerrechtlers Craig Rodwell, dessen Plan eines Christopher Street Liberation Day zum Gedenken an die Stonewall-Unruhen fünf Jahre später ebenfalls auf fruchtbaren Boden fiel. Wiederum lehnten Mitglieder der New Yorker Sektion der Mattachine Society eine derartige Aktion als revolutionär und als Provokation erneuter Unruhen ab. Die Möglichkeit, weitere Schwule und Lesben für eine Mitarbeit innerhalb der Bewegung zu motivieren und die Aussicht auf erhöhte öffentliche Präsenz führten schließlich wenige Monate vor der Demonstration zur offiziellen Unterstützung des Vorhabens durch die Eastern Regional Conference of Homophile Organizations (ERCHO). Ein Christopher Street Liberation Day Committee wurde gegründet, obwohl die Organisatoren um Rodwell eher ein grass roots project, unabhängig von kommerziellen Interessen und ideologischer Ausrichtung favorisierten. Der erste Christopher Street Liberation Day wurde zunächst für den exakten Jahrestag der Unruhen am Samstag den 27. Juni 1970 angesetzt, bald jedoch aus strategischen Gründen auf den folgenden arbeitsfreien Sonntag verlegt. Ein ursprünglich geplantes zweitägiges Straßenfest wurde vorläufig aufgrund der von der Stadtverwaltung geforderten Kaution in Christopher Street Day | Mythos „Christopher Street“ | 11 Vor Stonewall wäre die angekündigte und organisierte Präsenz homosexueller Bürger mit politischen Forderungen im öffentlichen Raum undenkbar gewesen. Höhe von einer Million Dollar wieder fallen gelassen. Im April 1970 konzentrierten sich die Pläne auf einen march for freedom durch Greenwich Village mit einer offen zugänglichen Abschlussveranstaltung im Central Park. Die bis wenige Minuten vor Beginn des Marsches fehlende Genehmigung der Stadt verwaltung und die wenigen erschienenen Teilnehmer deuteten zunächst auf ein Scheitern des Unternehmens. Obwohl die Organisatoren Übergriffe der Polizei befürchteten und den Teilnehmern daher empfahlen, Brillen und losen Schmuck abzulegen, kam es zu keinerlei nennenswerten Zwischenfällen. Nach Angaben der Veranstalter und den anwesenden FBI-Agenten nahmen in New York City etwa 2.000 Teilnehmer am ersten Stonewall Gedenkmarsch teil. In Rundschreiben und Pressemitteilung waren landesweit schwul-lesbische Gruppen zu Veranstaltung vergleichbarer Demonstrationen aufgefordert worden und sahen sich viel fach mit ähnlichen Vorbehalten und bürokratischen Schwierigkeiten konfrontiert. Dennoch war die landesweite Verbreitung und Popularisierung des Phänomens der Pride-Paraden nicht mehr aufzuhalten. Christopher Street Days und Gay Pride Paraden weltweit Aber nicht nur in den USA, wo 1978 in San Francisco bereits 350.000 Teilnehmende zu ver zeichnen waren, konnte die Strategie der geballten Präsenz im öffentlichen Raum Erfolge verbuchen. Auch in anderen Ländern gewannen neue Diskurse von Stolz, Wehrhaftigkeit und Sichtbarkeit Raum in der schwul-lesbischen politischen Landschaft. London und Paris folgten bereits 1971 dem US-amerikanischen Vorbild. Der 1978 auf USamerikanischen Vorschlag etablierte International Gay Solidarity Day in Sydney/Australien führte anfänglich zu zahlreichen Verhaftungen und Folgeprotesten. Er entwickelte sich aber im Laufe der Jahre – ab 1981 in die australische Sommer-Saison (März) verlegt – in deutlicher Analogie zum Karneval in New Orleans/Louisiana, zu einer lukrativen Touristenattraktion. Alltagswelten – Expertenwelten Band 14 | www.schwules-netzwerk.de Dennoch war die landesweite Verbreitung und Popularisierung des Phänomens der Pride-Paraden nicht mehr aufzuhalten. 12 | Christopher Street Day | Mythos „Christopher Street“ Die deutsche Schwulenbewegung griff ab 1979 die Idee des Christopher Street Days auf und hielt, im Gegensatz zu den meisten anderen Veranstaltern, die bald den Bezeichnung Pride vorzogen, auch an dieser Benennung fest. Im Verlauf der AIDS-Krise der schwullesbischen Szenen kam es zu einer erneuten Politisierung der Veranstaltungen und einer zweiten Gründungswelle emanzipatorischer Bündnisse. In den Niederlanden, wo eine erste Demonstration gegen die Altersschutzgrenze für homosexuelle Handlungen von 21 Jahren bereits am 21. Januar 1961 in Den Haag stattfand, wird seit 1978 am letzten Samstag im Juni unter der Bezeichnung Roze Zaterdag zentral in einer der größeren Städte des Landes demonstriert. Seit 1995 organisiert die Stiftung Gay Business Amsterdam (GBA) als Dachverband von schwulen und schwulenfreundlichen Firmen eine „carnevalske botenparade“ durch die Prinsengracht. Dieser sogenannte Amsterdam Pride hat nach Angaben der Organisatoren aber ausdrücklich keinen politischen oder emanzipatorischen Hintergrund. Seit 1992 erhält jährlich eine europäische Pride-Veranstaltung von der European Pride Organizer‘s Association (EPOA) den Titel Europride. Nach Oslo im Jahr 2005 fand der Europride 2006 zum zweiten Mal in London statt. Der von der International Association of Lesbian, Gay, Bisexual and Transgender Pride Coordinators (Interpride) unterstütze Worldpride fand erstmals 2000 in Rom statt. Die zweite Ausrichtung war ursprünglich für 2005 in Jerusalem angesetzt, wurde aber aufgrund der politischen Situation mehrfach verschoben. Erwähnenswert sind außerdem die in Schwellenländern vielfach an AIDS-Prävention gekoppelte Veranstaltungen wie beispielsweise die seit den späten 1990er Jahren veranstalteten thailändischen Gay Pride Paraden in Bangkok, Phuket und Pattaya. In Sao Paulo/Brasilien übertraf die Parade am 17. Juni 2006 mit 2,4 Millionen Zuschauern den Karneval von Rio de Janeiro. Seit einigen Jahren werden auch in Osteuropa Veranstaltungen wie der Pride March in Riga/Lettland oder der „Marsch der Gleichheit“ in Warschau/Polen organisiert. Die Organisierenden stoßen dabei nicht nur auf bürokratische Hürden, sondern auch auf gewalttätige Angriffe durch rechtsradikale und fundamentalistische katholische und orthodoxe Gruppierungen. 2006 erhielten die Veranstaltungen in Moskau und Warschau und die Situation Schwuler und Lesben in Osteuropa erhöhte mediale Aufmerksamkeit durch den Angriff auf den Parlamentarischen Fraktionsvorsitzenden von Bündnis 90/Die Grünen Volker Beck in Moskau bzw. die Teilnahme weiterer deutscher Bundespolitiker an der Demonstration in Warschau. Christopher Street Day | Emanzipation in der Bundesrepublik | 13 3. Schwul-lesbische Emanzipation in der Bundesrepublik Auch wenn Struktur und Ablauf heutiger schwul-lesbischer kultureller Äußerungen in den meisten westlichen Ländern globalen, vielfach US-amerikanischen Vorlagen zu folgen scheinen, gibt es im Rückblick markante Unterschiede bezüglich der Emanzipationsbestrebungen und deren Erfolge im 20. Jahrhundert. Als Beispiel sei Verfolgung und Ermordung von Schwulen im nationalsozialistischen Deutschland bei gleichzeitiger Sensibilisierung schwuler US-amerikanischer Soldaten durch erhöhte Kontakt- und Kommunikationsmöglichkeiten während des Militärdienstes genannt. Um den Kölner Christopher Street Day innerhalb seines gesellschaftspolitischen und kulturellen Kontexts verorten zu können, ist daher ein Blick in die Geschichte schwul-lesbischer Emanzipation in der Bundesrepublik nach 1945 sinnvoll. Die schwul-lesbische Emanzipationsbemühungen nach dem Zweiten Weltkrieg lassen sich grob in drei Phasen unterteilen. Ein erster Abschnitt umfasst die gesellschaftspolitische Restauration und die damit einhergehende andauernde Verfolgung homosexueller Min derheiten bis zur Reform des Sexualstrafrechts im Jahr 1969. Auf die Entpönalisierung folgte eine Phase des Abbaus von gesellschaftlichen Barrieren und Vorurteilen, die jedoch mit dem Ausbruch von AIDS ein abruptes Ende fand. Schließlich bestimmten der Umgang mit der Krankheit und ein parallel verlaufender Rückfall in homophobe Konzepte von Sexu alität Ziele und Strategien der Schwulenbewegung bis in die späten 1990er Jahre hinein. Die mit dem Ende der Ära Kohl und der Übernahme der Regierungsgeschäfte durch die Koalition aus SPD und Bündnis 90/Die Grünen einsetzenden gesellschaftlichen Reformen und Erneuerungen fanden ihren Höhepunkt in der Einführung des Lebenspartnerschaftsgesetzes im Jahr 2002. Alltagswelten – Expertenwelten Band 14 | www.schwules-netzwerk.de Es sei eine der Pflichten des Staates, gegen „ethisch besonders verwerflichen und nach der allgemeinen Überzeugung schändlichen Verhaltens“ vorzugehen, 14 | Christopher Street Day | Emanzipation in der Bundesrepublik 3.1. Der Paragraph 175 Bis in die 1930er Jahre hinein ermöglichte eine meist liberale Auslegung des Sexualstraf rechts sowie eine immer leichter zu erlangende ökonomische Unabhängigkeit junger Menschen – Voraussetzung für eine Emanzipation aus traditionellen familiären Strukturen – eine gewisse Ausdifferenzierung schwul-lesbischer Lebensentwürfe. Verfolgung und Ermordung sexueller Minderheiten im nationalsozialistischen Deutschland bereiteten der ersten Selbstorganisation in Vereinen, wissenschaftlichen Komitees und Freundschaftsbünden bereits im Jahr der sogenannten Machtergreifung ein schnelles Ende. Auch wenn unmittelbar nach dem Ende des Krieges im Mai 1945 eine Entschädigung oder gar Anerkennung als Opfer des faschistischen Terrors noch lange nicht in Sicht war, schienen bisherige Rollenverteilung und Leitbilder durch die kriegsbedingte Zerschlagung der sozialen Strukturen zunächst in Frage gestellt. Mit den bald einsetzenden gesellschaftspolitischen Restaurationsbemühungen der Adenauer-Ära und der Beibehaltung einer verschärften Straf verfolgung auch nach dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Diktatur erwies sich diese libertinäre Nachkriegsphase jedoch als Seifenblase. In der neu gegründeten Bundesrepublik galten deviante, nicht den männlich-heterose xuellen Normen entsprechende Lebensentwürfe wiederum als konkrete Gefahr für die Gesellschaft. Im Unterschied zu nationalsozialistischen Lösungsansätzen des „Problems Homosexualität“ verschob sich der Fokus von einer Bekämpfung der Vererbung auf die Bekämpfung der Verführung. Die Intensität der Wut hingegen hatte sich jedoch kaum verändert. Bis in die 1970er Jahre blieb, neben der unausgesprochenen Angst vor der Gefährdung der patriarchalischen Herrschaftsstruktur, vor allem der Jugendschutz die gängigste Begründung für die durchgängige Verfolgung homosexueller Handlungen. Für homosexuelle Männer boten vor allem Orte anonymer sexueller Handlungen wie öffentliche Toiletten (sogenannten Klappen) oder Kinos ein Ventil für ihre sexuellem Bedürfnisse, während die unmittelbar nach dem Krieg entstehende homosexuelle Kneipenszene hin und wieder auch Frauen die Möglichkeit für soziale Kontakte bot. Die Angst vor strafrechtlicher Verfolgung, religiöser Stigmatisierung oder gesellschaftlichen Sanktionen war an ein extrem negatives Selbstbild gekoppelt und führte vielfach zu Eheschließungen und Familiengründungen und somit zu einem Identität und Integrität schwer belastenden Doppelleben. Die meisten Homosexuellen zogen sich daher in die häusliche Privatsphäre zurück. Christopher Street Day | Emanzipation in der Bundesrepublik | 15 Nationalsozialistisches Erbe Die Übernahme des durch die Nationalsozialisten nach der Machtergreifung verschärften § 175 ab 1949 ist insofern mehr als nur strafrechtlich aufschlussreich, da sich anhand des Umgangs einer Gesellschaft mit ihrem Sexualstrafrecht Rückschlüsse über vorherrschende Ideologien ziehen lassen. Der Status von Minderheiten ist dabei an das demokratische Bewusstsein der Bevölkerung gebunden. Während die DDR 1950 in einer Strafrechtsreform den ursprünglichen § 175 des Strafgesetzbuchs aus dem Jahr 1871, welcher „beischlafähnliche Handlungen“ als Voraussetzung für eine Verurteilung voraussetzte, wiedereinführte, griff das bundesrepublikanische Strafrecht ab 1949 auf die verschärfte Version aus dem Jahre 1933 und somit auf den Tatbe stand der „wollüstigen Absicht“ zurück. Die im Nationalsozialismus begonnene verschärfte Verfolgung Homosexueller endete in der Bundesrepublik rechtlich erst 1969 mit der Entpönalisierung gleichgeschlechtlicher sexueller Handlungen bzw. 1994 mit der endgültigen Streichung des Paragraphen. Faktisch aber blieb sie für die meisten traumatisierten Opfer, durch die vollständige Tabuisierung des erlittenen Unrechts bis an ihr Lebensende erhalten. Reformatorische Bestrebungen bezüglich des Sexualstrafrechts blieben in den 1950er Jahren zunächst erfolglos, waren die Sozialstrukturen der Vorkriegszeit in Form einer ideali sierten, patriarchalisch dominierten Familie doch erfolgreich restauriert worden. Außerdem kam es zusätzlich zu einer Funktionalisierung von homophoben Stereotypen und Klischees innerhalb der ideologischen Auseinandersetzungen des Kalten Kriegs. Nicht nur in den USA wurden linksverdächtige Intellektuelle und Politiker durch den Vorwurf der Homo sexualität ausgeschaltet, sondern auch in der Bundesrepublik wurde der kriminelle Aspekt einer staatlichen Stigmatisierung um eine politisch-patriotische Komponente erweitert. Klagen gegen den verschärften Paragrafen wurden von allen Instanzen abgelehnt. Der Bundesgerichtshof und das Bundesverfassungsgericht entschieden 1951/52 bzw. 1957, dass es sich bei der Beibehaltung nicht um die Übernahme nationalsozialistischer Rechtsauffassungen handele. Sie begründeten dies mit der erneuten Definition Homosexueller als Kriminelle und soziale Gefahr. Es sei eine der Pflichten des Staates, gegen „ethisch besonders verwerflichen und nach der allgemeinen Überzeugung schändlichen Verhaltens“ vorzugehen, auch wenn kein bestimmtes Rechtsgut verletzt werde. Die Reformen des Sexualstrafrechts Der mit der Formierung der Studentenbewegung einhergehende gesellschaftsklimatische Wandel und die Beteiligung der Sozialdemokraten an der Großen Koalition ab 1966 führten 1969 zu einer Liberalisierung des Sexualstrafrechts unter der Federführung des SPD-Bun desjustizministers und späteren Bundespräsidenten Gustav Heinemann. Im Mai 1969 stimmte der Deutsche Bundestag der Aufhebung der grundsätzlichen Bestrafung homosexueller Handlungen und der Einführung einer Schutzaltersgrenze von 21 Jahren zu. Im Juni 1973 wurde letztere auf 18 Jahre gesenkt und lag somit bis zur endgültigen Abschaffung des § 175 im Zuge eines Rechtsabgleichs mit den Ländern der ehemaligen DDR im Jahre 1994 weiterhin um zwei Jahre höher als die entsprechende Grenze für heterosexuelle Handlungen. Wenn ab 1969 homosexuelle Handlungen nicht mehr strafbar waren, bedeutete dies keinesfalls das Ende gesellschaftlicher Diskriminierungen. Die einsetzende Solidarisierung Schwuler und Lesben im privaten Bereich wurde misstrauisch beäugt und weiterhin vielfach als gefährliche Unterwanderung der heteronormativen Gesellschaft interpretiert und sanktioniert. Dennoch war die Entpönalisierung gleichgeschlechtlicher Sexualität eine wichtige Voraussetzung für eine von Schwulen und Lesben getragene weitreichende Eman zipation. Alltagswelten – Expertenwelten Band 14 | www.schwules-netzwerk.de 16 | Christopher Street Day | Emanzipation in der Bundesrepublik 3.2. Die Schwulenbewegung Die Umsetzung schwul-lesbischer Lebensentwürfe in der Bundesrepublik blieb zu großen Teilen nach 1969 weiterhin von der Tolerierung der sie umgebenden Gesellschaft abhängig. Möglichkeiten zur Selbstartikulation und Selbstbestimmung wurden erst mit der Studentenbewegung geschaffen. Mit der Durchsetzung neuer Lebensentwürfe wie der Ehe ohne Trauschein, Wohngemeinschaften oder einem gewählten Single-Dasein erfuhr auch die Machbarkeit homosozialer Lebensentwürfe eine neue Dimension. Die parallel einsetzende „sexuelle Revolution“ führte zu Lockerungen in sexualmoralischen Vorstellungen, was einer erheblichen Beschränkung des kirchlichen Einflusses gleichkam. Die Umkehrung der gesellschaftlichen Prüderie der Nachkriegsjahre in eine frivole Lust am Körperlichen blieb jedoch weiterhin der gesellschaftlichen Norm entsprechenden Heterosexualität vorbehalten. Dennoch hatten die Forderungen der Studenten verknöcherte gesellschaftliche Strukturen nachhaltig verändert und ermöglichten die gewünschte Selbstorganisation des eigenen Lebens, durch alle gesellschaftlichen Schichten und für Minderheiten. Aus Mangel an Vorbildern übernahmen die frühen schwulenemanzipatorischen Gruppen vielfach das gesellschaftspolitische Bild der linken Studentenbewegung und betrachteten homophobe Repression als eine Sonderform der allgemeinen Unterdrückung. Führende Gruppen wie beispielsweise die 1971 gegründete Homosexuelle Aktion Westberlin (HAW) hatten dabei das Ziel einer Integration schwul-lesbischer Aktionsbündnisse in die Organisationen der Linken vor Augen. Aus den Bemühungen, die eigene Sexualität nicht zum alleinigen Fokus des politischen Bewusstseins zu machen, entwickelten sie den Anspruch, dass ihre Mitglieder sich möglichst auch in anderen, nicht-schwulen, linkspolitischen Organisationen engagieren sollten. Mit der Parole „Die Unterdrückung der (Homo-) Sexualität ist nur ein Spezialfall der allgemeinen Unterdrückung“ reihte sich 1972 erstmals eine Gruppe von etwas 200 Schwulen und Lesben in eine Mai-Demonstration in WestBerlin ein. Die politische Studentenbewegung jedoch, vielfach männlich-patriarchalisch strukturiert, verstand ihre Hauptaufgabe in der Abschaffung des herrschenden Systems und nicht in der Befreiung von Homosexuellen oder anderen Minderheiten. Ihre nichtschwulen Aktivisten betrachteten die Umsetzung andersartiger Lebensentwürfe eher als ein nebensächliches Schlachtfeld, welches nach der angestrebten Revolution von alleine zur Ruhe kommen würde. „Die Unterdrückung der (Homo-) Sexualität ist nur ein Spezialfall der allgemeinen Unterdrückung“ Christopher Street Day | Emanzipation in der Bundesrepublik | 17 Zur zentralen Strategie schwul-lesbischer Emanzipation wurde das Öffentlichmachen der eigenen Sexualität. Nach dem Auftritt mehrerer männlicher Teilnehmer in Frauenkleidung auf der Abschlussdemonstration des Pfingstreffens der HAW kam es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den sich selbst als „Tunten“ bezeichnenden Aktivisten und orthodoxem Marxisten, die eine Abschreckung der „revolutionären Klasse“ der Arbeiterschaft und damit eine Gefährdung der gemeinsamen politischen Ziele durch derart provokantes Verhalten voraussagten. Rosa von Praunheims Film „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“ zählt neben den Stonewall-Ereignissen zu den entscheidenden Schlüssel momenten einer eigenständigen Schwulenbewegung in der Bundesrepublik. Nachdem der Film, dessen Regisseur nach eigenen Aussagen erst ein Jahre später von den Stonewall-Unruhen und den Forderungen der neuen Schwulenbewegung erfuhr, bei seiner Uraufführung im August 1971 in Berlin zu engagierten Diskussionen im überwiegend homosexuellen Publikum geführt hatte, stimulierte er in vielen anderen Städten der Republik die Gründung emanzipationspolitischer Gruppen. Praunheims Film, der in überzogener Weise Mechanismen angepassten schwulen Alltags in homophober Umgebung nachzeichnet, wollte bewusst auch die schwulen Szenen provozieren und aufzeigen, dass Veränderung nur durch Selbstverteidigung der Betroffenen möglich sei. Vielfach bestimmten nun, nach US-amerikanischem Vorbild der gay liberation front, nicht wie bislang Integration und Assimilation, sondern Rebellion in Form von schwuler Präsenz im öffentlichen Raum und der Konfrontation mit einer homophoben, heteronormativen Gesellschaft das politisches Programm der meist in Hochschulnähe angesiedelten Gruppen. Das Tabu der Nicht-Besprechbarkeit der Homosexualität wurde bewusst gebrochen. Hatten die Aktivisten der 1920er und 1950er Jahre sich schamhaft als „homophil“ bezeichnet, kennzeichnete sich die programmatische Abkehr von bürgerlichen Normen nun durch den Gebrauch der Wörter „homosexuell“ oder „schwul“. Die aus Angst vor Strafe, Stigmatisie rung und Sanktionen entstandene Strategie, schwulen Stolz, Promiskuität und als deviant betrachtete Sexualpraktiken vor der Öffentlichkeit zu verbergen, wurde von den studentischen Emanzipationsgruppen abgelehnt. So folgten Städte wie Berlin, Hamburg und Köln bezüglich der Namensgebung der sich formierenden Gruppen dem Beispiel der ersten, Ende 1970 in Bochum gegründeten, studentischen Selbsthilfegruppe der Homosexuelle[n] Aktionsgruppe Bochum (HAB). Zur zentralen Strategie schwul-lesbischer Emanzipation wurde das Öffentlichmachen der eigenen schwulen und später lesbischen Sexualität. Gesellschaftliche Veränderung war nach Meinung der Aktivisten nur durch eine massive Konfrontation der heterosexuell be stimmten Umwelt mit Vertretern schwuler Gegenentwürfe möglich. Diese Strategie fand einen ihrer ersten medialen Höhepunkte im Selbst-Outing etlicher Schwuler auf der Titelseite des Magazins Stern im Oktober 1978. 1991 bekam sie durch ein ohne das Einverständnis der Betroffenen durchgeführtes Outing verschiedener Personen des öffentlichen Interesses in einer Sendung eines Privatsenders eine neue mediale Dimension. 1972 lud die Homosexuelle Studentengruppe Münster (HSM) die etwa 50 in der Bun desrepublik existierenden Schwulengruppen zu einem Treffen zwecks Gründung eines Dachverbandes ein. Die erste bundesweite Initiative dieses Dachverbands Deutsche Aktionsgemeinschaft Homosexualität (DAH) stellte die 1973 organisierte Aktion zur endgül tigen Abschaffung des § 175 dar, die neben einer Unterschriftenaktion zeitgleich mit den parlamentarischen Beratungen abgehaltene Aktionstage umfasste. Weitere Schritte schwuler Selbstorganisation folgten in Berlin mit der Gründung des ersten schwulen Verlags (1975), der Eröffnung eines schwulen Buchladens (1978), eines schwulen Cafés (1977) und schließlich der Gründung des ersten deutschen Hochschulschwu lenreferats (1979). Alltagswelten – Expertenwelten Band 14 | www.schwules-netzwerk.de 18 | Christopher Street Day | Emanzipation in der Bundesrepublik „Schwuler Stolz“ in Deutschland 1979 kam es auch in der Bundesrepublik zu ersten Umzügen und Straßenfesten nach USamerikanischem Vorbild. In Frankfurt am Main veranstaltete die Nationale Arbeitsgruppe Repression gegen Schwule (NARGS) das einwöchige Festival „Homolulu“, bestehend aus Informationsveranstaltungen, Kursen, Partys und einer sogar in der Tagesschau erwähnten Abschlusskundgebung. Die im selben Jahr in Berlin und Bremen veranstalteten Paraden stießen ebenfalls vor allem in den schwulen Szenen auf ein reges Interesse. Diesem Bei spiel folgten bald Hamburg (1979) und München (1980). In einer zweiten Welle traten ab den 1990er Jahren weitere Großstädte wie Köln, Hannover und Stuttgart, in Kooperationen zusammengefasste Regionen wie beispielsweise der CSD Nord Kooperation, um auch kleineren Szenen eigene Veranstaltung zu ermöglichen, sowie in den neuen Bundesländern gelegene Städte wie Dresden, Erfurt, Leipzig und Magdeburg auf den Plan. Während Christopher Street Day Paraden und Straßenfeste nach US-amerikanischem Vorbild sich ab 1979 also rasch zu einem erfolgreichen kulturellen Handlungsmuster entwi ckelten, veränderte sich der politische Charakter der Emanzipationsbewegung. Erste Anzei chen einer politischen Professionalisierung sowie generationsbedingte Konflikte begannen sich bereits Ende der 1970er abzuzeichnen. Die AIDS-Krise Mit der Verbreitung von AIDS erlebten die schwulen Szenen zu Beginn der 1980er Jahre, ob nun politisch engagiert oder nicht, den heftigsten Umbruch seit der Reform des Sexualstrafrechts. Einer Durchdringung sämtlicher sozialer Strukturen mit der Präsenz der Krankheit schweißte schwule Identität und AIDS nahezu untrennbar zusammen. Im Gegensatz zu den USA, in denen der Ausbruch der Krankheit durch eine starke Gettoisierung und andauernde staatliche Repression zu sozialer Verelendung ganzer Szenen führte, fand in der Bundesrepublik der befürchtete gesellschaftliche Rückschritt in weit geringerem Ausmaß statt. Aber auch wenn einhergehend mit der medialen Berichterstattung über AIDS die Öffentlichkeit in einem bislang unbekannten Maße über kulturelle Aspekte schwul-lesbischer Lebensentwürfe informiert wurde, lebten durch eine scheinbare Beschränkung der Krankheit auf Schwule, Prostituierte und Drogensüchtige alte Vorurteile wieder auf. Neben einer dramatischen Desintegration schwulen sozialen Lebens, einem erneuten Rückzugs ins Private und einem regelrechten Kneipen- und Diskothekensterben verursachte AIDS zwangsläufig auch die Ausbildung einer vorbildlichen schwul-lesbischen Infrastruktur in Form von Krankenbetreuung, allgemeiner Gesundheitsvorsorge und Präventionsmaß nahmen. Generationswechsel und Kommerzialisierung Verknöcherte Strukturen der „69er-Aktivisten“ in Form von immer länger werdenden Kundgebungen politischer Inhalte, die für jüngere Schwule und Lesben aufgrund des veränderten gesellschaftlichen Kontextes nur noch schwer nachvollziehen waren, sahen sich plötzlich mit dem Aufkommen interessengeleiteter Freizeitangebote wie Sportvereinen und einer zunehmenden Ausdifferenzierung der schwul-lesbischen Kneipenszenen zu Beginn der 1990er Jahre kontrastiert. Der Anteil politisch bewusster und engagierter Aktivisten verkleinerte sich zusehends und immer mehr Schwule und Lesben distanzierten sich von derart radikaler Gesellschaftskritik. Die so entstandene Spaltung der Szene in einen politischen und einen freizeitorientierten Teil führte rasch zu einer Versandung der Aktionskraft der verschiedenen Gruppen. Während die zunehmende Entpolitisierung und Kommerzialisierung der schwul-lesbischen Szenen von eher älteren Aktivisten als Verrat an den einstigen Zielen aufgefasst wird, sind es vor allem jüngere, nach der gay liberation und der AIDS-Krise in gleichgeschlechtliche Netzwerke sozialisierte Schwule und Lesben, die die gegenwärtige Emanzipationsbewegung bestimmen. Ihre nicht mehr zwingend dem äußerst linken politischem Spektrum zuzuordnenden Auffassung äußert sich beispielsweise in der von internationalen Sponsoren unterstützten und von einer breiten heterosexuellen Masse wohlwollend rezipierten schwul-lesbischen Präsenz in Form eventisierter Gay Pride-Paraden. Christopher Street Day | Emanzipation in der Bundesrepublik | 19 Die politische Motivierung, für die eigenen Belange einzustehen, wird von Verbänden und Vereinen zunehmend als mühselig empfunden. 3.3 Schwul-lesbische Emanzipation zu Beginn des 21. Jahrhunderts Die eingangs genannte Periodisierung schwul-lesbischer Emanzipation in der Bundesrepublik verlief im Wesentlichen parallel mit den politischen Verhältnissen des Landes. Sie ist grob einteilbar in die Legislaturperioden unter den jeweiligen Bundeskanzlern Konrad Adenauer, Ludwig Erhard und Kurt-Georg Kiesinger, Willy Brandt und Helmut Schmidt, sowie Helmut Kohl. Mit dem Wegfall des § 175 im Rahmen eines Rechtsabgleichs mit den neuen Bundes ländern 1994 hatte die schwul-lesbische Emanzipationsbewegung formal eines ihrer wich tigsten Ziele erreicht. Nach der Wahl Gerhard Schröders 1998 zum Bundeskanzler waren, unter anderem durch die Beteilung von Bündnis 90/Die Grünen an der Regierungskoalition, weitere Reform- und Gleichberechtigungsbestrebungen bezüglich nicht-heterosexueller Lebensentwürfe zu verzeichnen. Nachdem 2001 mit dem Lebenspartnerschaftsgesetz eine teilweise Anerkennung nicht-heterosexueller Lebensgemeinschaften in den Augen vieler Schwulen und Lesben ein weiteres Tabu gefallen ist, scheinen Themen wie die anhaltende Bedrohung durch AIDS, das Anti-Diskriminierungsgesetz oder homophob motivierte Gewalt kaum noch Interesse hervorzurufen. Die politische Motivierung, für die eigenen Belange einzustehen, wird von Verbänden und Vereinen zunehmend als mühselig empfunden. Mit der Großen Koalition seit 2005 und den wertkonservativen Bestrebungen der CDU auf Bundesebene ist, einhergehend mit politischen Veränderungen auf der Landesebene wie beispielsweise der neuen CDU/FDP-Regierung in Nordrheinwestfalen seit 2005, eine erneute Politisierung der schwul-lesbischen Bewegung zu konstatieren. Diese richtet sich zum einen auf drohende Rückschritte in Deutschland selbst, zum anderen auf eklatante Menschenrechtsverletzungen in Osteuropa. Alltagswelten – Expertenwelten Band 14 | www.schwules-netzwerk.de 20 | Christopher Street Day | Der Kölner Christopher Street Day 4. Der Kölner Christopher Street Day 4.1 Schwul-lesbisches Köln „lange Tradition der weltoffenen Toleranz“ In seinem Grußwort für den schwul-lesbischen Szenenführers „Out in Cologne“ von 2005 beschwört Oberbürgermeister Fritz Schramma Kölns „lange Tradition der weltoffenen Toleranz gegenüber Andersdenkenden und Anderslebenden“. Aber auch wenn lokale Politiker sich gerne mit dem Ruf der Stadt als Zentrum der lesbisch-schwulen Szene brüsten, zeigt ein Blick in die jüngere Geschichte Kölns, dass von einer breit getragenen Akzeptanz schwul-lesbischer Lebensformen keine Rede sein kann, und tolerante Haltungen an die Entdeckung von Schwulen und Lesben als wirtschaftlichem und wahlpolitischem Potential in den 1990er Jahren gekoppelt sind. Schwule und Lesben sind mittlerweile nicht nur zu einer politischen Größe geworden, son dern auch ihre wirtschaftliche Stärke wird von städtischer Seite nicht außer Acht gelassen. Veranstaltungen wie der CSD 2006 mit geschätzten 600.000 Zuschauern und Zuschauerinnen oder den für 2010 angesetzten Gay Games haben sich zu einem wichtigen ökono mischen Potential für Köln entwickelt. Nach 1969 ist zunächst lediglich eine Duldung unter der Voraussetzung der Unsichtbarkeit zu konstatieren. Christopher Street Day | Der Kölner Christopher Street Day | 21 Homophobie in Köln nach 1945 Bald nach Kriegsende wurde die alljährliche Inszenierung scheinbarer öffentlicher Toleranz in Form des Karnevals unter Mottos wie „Leben und leben lassen“ oder „Jeder Jeck ist anders“ wieder aufgenommen. Obwohl sie gegenwärtig vielfach als eine der Grundvoraussetzungen für eine erfolgreiche Integration nicht-heterosexueller Lebensentwürfe in die kulturelle Landschaft Kölns gesehen wird, änderten sich die Alltagsbedingungen von Schwulen und Lesben erst nach der Reform des Sexualstrafrechts 1969. Bis 1969 war es vor allem die Strafverfolgung möglicher homosozialer oder homoerotischer Handlungen im öffentlichen Raum durch die Ordnungsbehörden, die den homosexuellen Alltag bestimmte. Doch auch wenn sich bereits in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre, durch den von der Studentenbewegung ausgelösten Wandel auch unter Homosexuellen eine Aufbruchsstimmung breitmachte, wurde erst mit der Straffreiheit die Möglichkeit für eine selbstbewusste und selbstbestimmte Präsenz im öffentlichen Raum geschaffen. Vor allem jüngere Schwule und Lesben, die die Bedrohung des Nationalsozialismus und die anhaltenden Repressalien der frühen Bundesrepublik nur indirekt kennen gelernt hatten, legten hierbei ein bislang unge kanntes Selbstbewusstsein an den Tag. Nach 1969 ist zunächst lediglich eine Duldung unter der Voraussetzung der Unsichtbarkeit zu konstatieren. Als Beispiele sind die Mietkündigungen des von der Kölner gay liberation front e. V. (glf) ab 1974 unterhaltenen schwulen Zentrums zu nennen. Diese ergingen 1976 wegen des offenen Transports eines Transparents durch den Hausflur sowie 1979 aufgrund der Präsenz von Veranstaltungsplakaten in einem ehemaligen Schaufenster der gemieteten Räume. Ein weiteres Beispiel ist die späte Abschaffung der von der Bahnpolizei angelegten sogenannten „rosa Listen“. Diese dienten der Erfassung der um den Bahnhof als Anlauf stelle männlicher Prostituierter aufgegriffenen Homosexuellen und wurden ersten 1988 eingestellt. Alltagswelten – Expertenwelten Band 14 | www.schwules-netzwerk.de 22 | Christopher Street Day | Der Kölner Christopher Street Day Schwul-lesbische Szenen in Köln Auch in Köln kam es durch den Film von Rosa von Praunheim zu ersten schwulenpolitischen Formationsbemühungen. Die Programmkonferenz der ARD beschloss im Januar 1972, den im Auftrag des WDR produzierten Film nicht bundesweit auszustrahlen. Der Westdeutsche Rundfunk zeigte daraufhin den Film am 31. Januar mit einer anschließenden Live-Diskussion im dritten Programm. Auf eine Anzeige im Kölner Stadtanzeiger hin kamen in einer Privatwohnung mehrere politisch motivierte schwule Männer zusammen und diskutierten die Gründung einer emanzipatorischen Organisation. Anlässlich einer Filmvorführung von „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation in der er lebt“ verteilten die Aktivisten in der Ehrenstraße Flugblätter mit der Einladung zu einem Informationsabend in der Evangelischen Studentengemeinde. Nach grundsätzlichen Diskussionen um Zielrichtung und Organisationsform wurde Anfang 1972 die gay liberation front e. V. (glf) gegründet. Diese unterschied sich jedoch von ihrem amerikanischen Vorbild durch den Verzicht auf die Forderung von gesellschaftspolitischer Veränderung als Voraussetzung für die Emanzipation von Schwulen. Daher spaltete sich bald die Homosexuelle Aktion Köln (HAK), später Schwule Aktion Köln (SAK) ab. Zwei Jahre später wurde der glf als erster Schwulenorganisation in Deutschland ein gemeinnütziger Status zuerkannt. 1974 eröffnete der Verein ein kleines Zentrum und gründete das „glf-Sozialwerk“ als Informations- und Beratungsstelle. Ende 1975 organisierten die Mitglieder eine erste Demonstration mit einem Informationstisch auf der Schildergasse und einem Transparent mit der Aufschrift „Homosexuelle gehen auf die Straße“. 1976 kam es innerhalb der Gruppe zu ersten Auseinandersetzungen bezüglich der politischen Ausrich tung, da das Programm des Vereins mittlerweile neben politischen Aktionen und Beratung auch umfangreiche Angebote zur Freizeitgestaltung umfasste. Im selben Jahr wurden diese Angebote zugunsten emanzipationspolitischer Arbeitsgruppen vermindert und erstmals etablierte sich eine Lesbengruppe innerhalb des Vereins. Nachdem 1984 deutlich geworden war, dass trotz aller Bemühungen ein politisch motiviertes Zentrum nicht weiter aufrecht zu halten war, gründen die glf und elf der damals 16 Lesben- und Schwulengruppen die Emanzipation e. V. als Trägerverein für ein leistungsfähiges, gemeinsames Zentrum, welches im März 1985 als Schwulen- und Lesbenzentrum (SCHuLZ) eröffnet wurde. Doch auch die rund 400 Quadratmeter Nutzfläche einer ehemaligen Tanzschule erwiesen sich bald aufgrund der hohen Besucherzahlen als nicht ausreichend. 1994 wurde das SCHuLZ als Europas größtes Schwulen- und Lesbenzentrum in einer umgebauten Brauerei wiedereröffnet. Das SCHuLZ stellte eine umfangreiche Infrastruktur für Kölner schwul-lesbische Vereine in Form von Infothek, Bibliothek, diversen Veranstaltungsräumen und Gastronomie Christopher Street Day | Der Kölner Christopher Street Day | 23 War das Tanzen zweier männlicher Partner grundsätzlich verboten, so galt im Karneval eine Ausnahme, … zur Verfügung. Nach neun Jahren regen Betriebs beschloss im Juni 2003 eine außerordentliche Mitgliederversammlung aufgrund von Pachtproblemen in der Gastronomie und zunehmenden Lärmbelästigungsklagen die Schließung des SCHuLZ und die Auflösung der Betreiberorganisation Emanzipation e. V. Vor der Eröffnung unabhängiger schwul-lesbischer Einrichtungen wie dem SCHuLZ war es vor allem die zunehmende Selbstorganisation der von Schwulen und Lesben frequentierten Lokale und Gaststätten, die die Bildung von eigenen Netzwerken begünstigten. Eine gern in Anspruch genommene Ausnahme heterosexueller Normen stellte der Karneval dar, da er paradoxerweise das in schwulen Kneipen geltende Tanzverbot umging. War das Tanzen zweier männlicher Partner grundsätzlich verboten, so galt im Karneval eine Ausnahme, sobald einer der beiden Männer Frauenkleider trug. Eine frühe Querverbindung, die in den 1990er Jahren den Ausbau des schwul-lesbischen Karnevals erheblich begünstigen und sich auch bei der Gestaltung der CSD-Paraden als wichtig erweisen würde. Während für einen Großteil der älteren Schwulen die Anpassung an geltende äußerliche Normen ein wichtiges Verhaltensmuster blieb und dem Auftreten in der bürgerlichen Uni form in Form von Anzug und Krawatte eine gewisse Schutzfunktion zukam, entwickelte sich ab Ende der 1960er Jahre eine durch den sexuellen Fetisch Lederkleidung konstituierte Teilszene. Ihre Mitglieder schufen neben einer eigenen Infrastruktur in Form von Vereinen und bald auch eigenen Kneipen vor allem ein unabhängiges System von Werten, Normen und Zeichen. Sie versuchten nicht den geltenden bürgerlichen Vorgaben zu entsprechen, sondern verkehrten die für Homosexuelle vorgegebene Rolle der effeminierten Tunte in eine Darstellung extremer Maskulinität in Form des zweiten „Hautpanzers“ Ledermontur. Zunächst von den meist heterosexuellen Wirten der Schwulenlokale nur bedingt geduldet, bildeten sie später das Grundfundament für unabhängige, selbstbestimmte schwule Kneipenszenen und kam ihnen für Köln eine entscheidende Rolle bei der Etablierung des Christopher Street Days zu Beginn der 1990er Jahre zu. Erstmals nach dem Krieg kam es, abseits von politischen Querverbindungen innerhalb dieser Lederszene zu Kontaktaufnahme und Austausch mit Gleichgesinnten im In- und Ausland. Köln entwickelte sich zu einem Zentrum der europäischen schwulen Lederszene und das innerhalb dieser Gemeinschaft geknüpfte soziale Netz erwies sich auch während der AIDS-Krise als weitaus engmaschiger als das der meisten anderen schwulen Gruppierungen. Alltagswelten – Expertenwelten Band 14 | www.schwules-netzwerk.de 24 | Christopher Street Day | Der Kölner Christopher Street Day Die AIDS-Krise Für die schwulen Szenen Kölns bedeutete die Ausbreitung von AIDS nicht nur den Tod eines beträchtlichen Teils ihrer Mitglieder, sondern auch den Zusammenbruch vieler sozialer Netzwerke. Sehr bald wurde deutlich, dass das SCHuLZ als schwul-lesbische Beratungsstelle dem Ansturm Hilfesuchender nicht mehr gewachsen war, und ab 1985 bemühte man sich um den Aufbau einer entsprechenden Hilfsorganisation. Diese trennte sich 1986 als AIDS-Hilfe Köln auch räumlich vom Schwulen- und Lesbenzentrum. Die studentischen Strukturen der szeneeigenen Vereine und Gemeinschaften traten durch diese zwangsläufige Professionalisierung langsam in den Hintergrund. Die Revitalisierung der überwunden geglaubte Koppelung von sexuellem Begehren an Krankheit und Tod führten zu einem Bruch im mühsam erworbenen Selbstvertrauen. Um dieser pessimistischen Grundstimmung, einem deutlichen Rückzug in die Privatsphäre und der damit einhergehenden umfangreichen Schließung der Kölner Szenenkneipen ein positives Moment der Identifikation entgegenzusetzen, beschloss eine Kooperation verschiedener Gruppen und Einzelpersonen aus der Schwulen- und Lesbenbewegung sowie der AIDS-Arbeit die Initiierung des Kölner Lesben- und Schwulentags in Form einer Parade. Der Gay Freedom Day Auch wenn sich der Kölner Christopher Street Day in seiner heutigen Form erst ab 1991 etablierte, fand in den 1980er Jahren mehrmals der sogenannte Gay Freedom Day in Köln statt. Diese Aktionstage wurden jedes Jahr in einer anderen nordrhein-westfälischen Stadt vom Bundesverband Homosexualität und der AIDS-Hilfe veranstaltetet. Außer vielfach ungenauen oder falschen Informationen auf privaten Websites oder den Portalen schwullesbischer Organisationen sind hierzu jedoch kaum mehr Fakten zu ermitteln. Der zweite Gay Freedom Day in Köln am 29. und 30. Juni 1984 unter dem Motto „Lasst die Wende wackeln“ umfasste einen Floh- und Hobbymarkt, ein Diskussionsforum zu Zielen der Schwulen- und Lesbenbewegung, einen Informationstisch in der Schildergasse sowie einen Demonstrationszug vom Neumarkt zum Alter Markt. Nach einer Abschlusskundge bung mit Ansprachen und dem Auftritt eines schwulen Männerchores auf dem Alter Markt wurde der Tag mit einem gemeinsamen Picknick am Aachener Weiher und der im Bürgerzentrum Stollwerck veranstalteten „Gay-Freedom-Fete“ abgeschlossen. Über den Gay Freedom Day von 1987 berichtete der Kölner Stadtanzeiger von etwa „700 homosexuellen Frauen und Männern“, die auf dem Kölner Heinrich-Böll-Platz parallel mit dem durch die Kölner glf organisierten neunten Weltkongress der International Lesbian and Gay Association (ILGA) gegen gesellschaftliche Diskriminierung demonstrierten. Die letzte, vor der Etablierung eines selbstständigen Kölner Lesben- und Schwulentages, unter dem Dach des Gay Freedom Day in Bottrop stattfindende Demonstration war nach Angaben von Zeitzeugen eine „wenig erfreuliche Veranstaltung“, die von lediglich etwa 300 Teilnehmern frequentiert und anhaltenden Pöbeleien von Demonstrationsgegnern ausgesetzt war. Um den festgefahrenen Demonstrationscharakter zu durchbrechen, politische Aussagen mit Spaß zu verbinden und der sozialen Desintegration der AIDS-Krise ein lebensbejahendes Moment mit lokalem Kolorit entgegenzusetzen, entwickelte ein Zusammenschluss verschiedener schwul-lesbischer Organisationen und Privatpersonen das Konzept eines Kölner Lesben und Schwulentags. Die bloße Kombination von „schwul-lesbisch“ und einer Abbildung des Doms reichte aus, um die patriarchalisch-heteronormative Ordnung in Gefahr zu sehen. Christopher Street Day | Der Kölner Christopher Street Day | 25 „Lasst die Wende wackeln“ 4.2. Der Kölner Lesben- und Schwulentag Köln Im Oktober 1990 schlossen sich verschiedene Gruppierungen der Kölner Szenen wie die Zukunftswerkstatt, das Bildungswerk Emanzipation e. V., Aktivisten der Kölner Sektion der AIDS Coalition To Unleash Power (ACT UP) und verschiedene Einzelpersonen zusammen. Ziel war, die Möglichkeiten eines Kölner Lesben- und Schwulentages nach Berliner Vorbild zu diskutieren und den kaum noch wahrgenommenen jährlichen Veranstaltungen in Form des Gay Freedom Days eine neue Form schwul-lesbischer Präsenz im öffentlichen Raum entgegenzusetzen. Neben der dringend benötigten Entkoppelung der seit der AIDS-Krise auch innerhalb der Szenen gängigen Gleichung schwul=todkrank sollte die in der Einrichtung eines gemeinsamen Zentrums begonnene Kooperation verschiedenster Gruppen unter Einbeziehung der Wirte der Szenen intensiviert werden, um so durch Vernetzung und Verzahnung ein größeres politisches Gewicht entwickeln zu können. Das Bildungswerk Emanzipation e. V. als Dachverband aller Trägergruppen im SCHuLZ versuchte in einem Schreiben an Gruppen, Vereine und Wirte der Szenen vom 10. Oktober 1990, Interesse und Kooperationsbereitschaft zu sondieren. Die Präsentation eines Videos mit Aufnahmen US-amerikanischer Pride-Paraden sowie der Wunsch lokale Brauchmuster zu integrieren, um die Ausbildung einer positiv besetzten spezifischen Kölner schwul-lesbischen Identität zu stimulieren, führten schließlich zum allgemeinen Konsens, eine Parade zu veranstalten. Neben den der Berliner Love Parade erwies sich vor allem der Kölner Karneval als wichtige nationale Inspirationsquelle hinsicht lich einer erfolgreichen Kombination politischer Forderungen und der Teilnahme der kom merziellen Bereiche der Szenen. Auch das von Gerhard Malcharek entworfenen Logo war durch die Verwendung der beiden Domspitzen ein deutlich lokaler Bezug und wurde bis Ende der 1990er Jahre beispielsweise auf Biergläsern verwendet. Die ursprüngliche Aufschrift „Cologne Lesbian/Gay-Freedom Day and Celebration“ wurde ab 1992 durch den Zusatz „Kölner Lesben- und Schwulentag“ ergänzt, später ganz gegen die deutsche Bezeichnung ausgetauscht, die Domspitzen auf zwei spitze Dreiecke reduziert. Diese Bezeichnung der Veranstaltungen, in den ersten Jahren in der Presse und der internen und externen Kommunikation der Veranstalter als „Kölner LUST“ wurde im Laufe der Jahre zu KLuST verkürzt und bezieht sich gegenwärtig ausschließlich auf die Ausrichter des ColognePride als Verein. Alltagswelten – Expertenwelten Band 14 | www.schwules-netzwerk.de 26 | Christopher Street Day | Der Kölner Christopher Street Day Schätzungsweise 5.000 Zuschauer und Zuschauerinnen verfolgten die am Sonntag, den 7. Juli ´91 stattfindende Parade von etwa 2.500 Schwulen und Lesben. Trotz erheblicher Bedenken bezüglich erneuter Veranstaltungen in Köln bewirkte das genannte Schreiben ausreichend Rückmeldung, um eine regelmäßig tagende Arbeitsgruppe zur Entwicklung eines Konzeptes für einen Kölner Lesben- und Schwulentag formieren zu können. Als wichtigste Elemente einer solchen Veranstaltung kristallisierten sich bald eine von der AIDS-Hilfe Köln veranstaltete Eröffnungsgala, eine von der Emanzipation e. V. und den „Schwulen und Lesben in der SPD“ (Schwusos) organisierte Parade, ein von der „Schwulen Initiative für Pflege und Soziales“ (SCHWIPS) betreutes Straßenfest sowie eine vom Partyveranstalter Coconut ausgerichtete Abschlussdisco heraus. Die bereits erwähnt besondere Dichte des sozialen Netzwerks der Lederszene führte zu einer entsprechenden eigenen Vorbereitungsgruppe. Während die Parade als politische Demonstration problemlos bereits am 12. März 1991 angemeldet werden konnte, lehnte das Ordnungsamt die Nutzung der Stephanstraße, die aufgrund der etlichen schwulen Kneipen für das geplante Straßenfest ausgesucht worden war, zunächst ab. Die Arbeitsgruppe reagierte mit einem Schreiben mit der Bitte um Intervention an verschiedene lokale Politiker. Diese ersten Ansätze der Strategie des Einsatzes des politischen Gewichtes hinsichtlich der Wahlkampfinteressen der lokalen Parteien führten zum einen zu einem offiziellen Gespräch zwischen Oberbürgermeister Norbert Burger und einer Delegation schwuler und lesbischer Kölner und Kölnerinnen. Nach dem letztendlichen Einlenken der Ordnungsbehörde kam es zur Formung eines kommunalpoliti schen Arbeitskreises. Dieser legte bislang 1992 und 2004 in einer „Kommunalpolitischen Erklärung“ die Ziele des KLuST als einem der Vertreter der Szenen hinsichtlich einer Verbes serung schwul-lesbischer Lebensbedingungen in Köln fest. Der erste Kölner Lesben- und Schwulentag begann nicht, wie ursprünglich anvisiert am Jahrestag der Stonewall-Unruhen, sondern am 3. Juli 1991 mit der von der AIDS-Hilfe ausgerichteten Eröffnungsgala im Kölner Gürzenich. Das unter dem Motto „Jot Fründe kumme zosamme“ zwischen dem 30. Juni und 7. Juli stattfindende Rahmenprogramm umfasste neben etlichen Partys, Informations- und Diskussionsveranstaltung zu emanzipations politischen Themen auch ein Lesben-Fußballturnier und eine Stadtführung zur schwulen Ge schichte Kölns. Schätzungsweise 5.000 Zuschauer und Zuschauerinnen verfolgten die am Sonntag, den 7. Juli stattfindende Parade von etwa 2.500 Schwulen und Lesben. Eröffnet wurde die Kernveranstaltung von Bürgermeisterin Renate Canisius mit ihrem eigens für den ersten Kölner Lesben- und Schwulentag verfassten Gedicht „In unserem schönen Köln am Rhein“. Die anschließend in der Stephanstraße stattfindende Kombination von Abschlusskundgebung und Straßenfest konnte im Gegensatz zur Parade auf keinerlei von Schwulen und Lesben organisierte Vorbilder zurückgreifen und orientierte sich daher an der Tradition der Kölner Stadtteilfeste („Veedelsfeste“). Ein möglicher Erfolg wurde zunächst vor allem von den ansässigen schwulen Wirten sehr in Frage gestellt, letztendlich besuchten jedoch schätzungsweise 5.000 Menschen das Fest. Die angestrebte Erweiterung des politischen Charakters der bisherigen Gay Freedom Day-Demonstrationen um lokale und Unterhaltungselemente spiegelte sich beispielsweise im Showprogramm, bestehend aus einem Auftritt des schwulen Chores „Die Traviatas“ und einer Travestiesängerin sowie in der Versorgung der Besucher und Besucherinnen mittels einer Gulaschkanone und dem Verkauf von Waffeln mit heißen Kirschen. Christopher Street Day | Der Kölner Christopher Street Day | 27 Dieser erste Erfolg führte in den Folgejahren zu einem unerwartet starken Anstieg der Teil nehmer- und Zuschauerzahlen aller unter dem Oberbegriff Kölner Lesben- und Schwulen tag ausgerichteten Veranstaltungen und das Kölner Konzept wurde zu einem Vorbild für andere deutsche Städte. Für Köln blieb es bei dem ersten Wochenende im Juli als Fixpunkt, um den sich ein stets wachsendes Rahmenprogramm entwickelte, seit 2003 unter dem Dachlabel ColognePride zusammengefasst. 1992 kam es aufgrund der rasant ansteigenden Teilnehmer- und Besucherzahlen und undeutlich verteilter Zuständigkeiten zu ersten Spannungen innerhalb des Organisationsteams. Diese versuchte man mittels erster Ansätze einer Professionalisierung in Form von verschiedenen für Straßenfest, Parade, Veranstaltungen mit Wirten, Finanzen, Öffentlichkeitsarbeit und Bühnenprogramm zuständige Arbeitsgruppen zu lösen. Teilnehmer und Teilnehmerinnen Während 1991 von 2.500 Teilnehmenden und 5.000 Besuchenden des Straßenfestes die Rede ist, waren es 1992 bereits 4.000 Teilnehmer und Teilnehmerinnen und 10.000 Besucher und Besucherinnen. 1997 berichtet der Stadtanzeiger von 25.000 Schwulen und Lesben sowie 600.000 Zuschauern. Ihren Zenit erreicht die Parade im Jahr 2002 mit der Ausrichtung des Europride, geschätzten 70.000 Teilnehmenden und etwa einer Million Zuschauenden. Diese Gesamtzahl entspricht dem Zweihundertfachen der Angaben für 1991. Die Anzahl der teilnehmenden Wagen war innerhalb von elf Jahren von drei einfachen LKW auf 150 Festwagen gestiegen. Nachdem im folgenden Jahr die erwarteten 800.000 bis 1,2 Million Zuschauer und Zuschauerinnen auf etwa 750.000 nach unten korrigiert werden mussten, scheinen sich die Zahlen mit 600.000 Besuchern und Besucherinnen in 2005 und 2006 eingependelt zu haben. Die Anzahl der teilnehmenden Wagen war innerhalb von elf Jahren von drei einfachen LKW auf 150 Festwagen gestiegen. 4.3. Von der Demonstration zum Event Alltagswelten – Expertenwelten Band 14 | www.schwules-netzwerk.de 28 | Christopher Street Day | Der Kölner Christopher Street Day Das Straßenfest Auch das Straßenfest sprengte bald die Grenzen des ihm zugewiesenen Raums. Bei den Planungen zum zweiten Kölner Lesben- und Schwulentag hatte man vorsorglich eine Ausweitung der Straßensperrung auf den am Ende der Stephanstraße liegenden Marienplatz beantragt. 1993 fanden die Veranstaltungen erstmals auf dem Alter Markt statt. Nachdem der Hauptausschuss eine Nutzung des Alter Markts für die Abschlusskundgebung und das Straßenfest des CSD 1994 abgelehnt hatte, wurde nach wiederholten Protesten des KLuST dem Ausweichen auf den Neumarkt zugestimmt. Trotz der unübersichtlichen Situation des von Straßenbahntrassen und Hauptverkehrsadern umgebenen Platzes und einer eher chaotischen Parade, kam zunächst für 1995 wiederum der Neumarkt ins Gespräch. Aus Sicherheitsgründen einigten sich Stadt und KLuST letztendlich jedoch auf Alter Markt und Rathausvorplatz. In den Jahren 1997 und 1999 wich man aufgrund der immer weiter steigenden Besucherzahlen auf den weiter südlich gelegenen Mühlenbach aus, kehrte jedoch 2000 wieder in die Altstadt zurück. Da der von der Stadtverwaltung zugesagte Heumarkt aufgrund der Verlängerung der Ausstellung „Körperwelten“ Gunther von Hagens’ nicht nutzbar war, genehmigte die Stadt, gegen den Willen des Erzbistums, auf einstweilige Anordnung des Verwaltungsgerichts die Nutzung des Roncalliplatzes. 2001 wurde mit Heumarkt, Alter Markt, Rathausvorplatz und Theo von Burauen-Platz erstmals fast die gesamte Altstadt für Abschlusskundgebung und Straßenfest genutzt. Auf grund anhaltender Klagen der Anwohner bezüglich Lärmbelästigung wird die Hauptbühne auf dem Heumarkt seit 2002 Richtung Reiterdenkmal ausgerichtet und werden verstärkt Lärmschutzkontrollen durchgeführt. Mottos und Leitgedanken Die Mottos der Veranstaltungen, seit einigen Jahren in öffentlichen Mottofindungsgruppen erarbeitet, stellen seit Beginn der Kölner Lesben- und Schwulentage ein wichtiges Element des CSD dar. Die Mottos der beiden ersten Jahre standen mit „Jot Fründe kumme zosamme“ und „Mir fiere uns und Kölle“ deutlich im Zeichen eines lokalen Charakters und der strukturellen Nähe zum Kölner Karneval. Zwischen 1993 und 1996 standen die Veranstaltungen unter dem allgemeinen Leitgedanken „Flagge zeigen“, um der altbekannten emanzipatorischen Forderung nach schwul-lesbischer Präsenz im öffentlichen Raum Nachdruck zu verleihen. 1998 wurden die Forderungen mit „Freie Fahrt für die Homo-Ehe“ erstmals konkretisiert, die Forderungen nach der Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften bestimmen auch in den folgenden Jahren mit „We are family“ (1999) und „Im Namen des Volkes, traut Euch“ (2001) die politische Aufmerksamkeit der Veranstaltung. Nach dem Inkrafttreten des Lebenspartnerschaftsgesetzes richteten sich die Forderungen auf eine Antidiskriminierungsgesetz (2003), Schwule und Lesben im Alter (2005) und die anstehenden Kürzungen in der öffentlichen Förderung schwul-lesbischer Projekte nach dem Regierungswechsel in Nordrhein-Westfalen (2006). Probleme und Konfliktpotentiale Gestiegene Veranstaltungskosten von DM 850.000 hatten bereits 1998 zur Gründung der CSD-Veranstaltungs-GmbH zur Abfederung der wirtschaftlichen Risiken des KLuST geführt. Der quantitative Einbruch in den Besucher- und Besucherinnenzahlen sowie auf schlechtes Wetter und Unregelmäßigkeiten in der Abrechnung mit den Standbetreibern und Wirten zurückzuführende Altschulden aus den Veranstaltungen der Vorjahre führten 2002 jedoch zur Zahlungsunfähigkeit der Veranstalter. Das auf die Bekanntgabe des Defizits in Höhe von Euro 200.000 folgende Angebot einer Investorengruppe, das wirtschaftliche Risiko des Straßenfestes tragen zu wollen, führten, nicht nur wegen der Zusicherung der Anonymität des Investors durch den KLuST, zu erregten Diskussionen innerhalb der Szenen. Im Dezember einigte sich die Interessengemeinschaft Altstadt (IG Altstadt) unter ihrem Vorsitzenden Hans Flock mit den Veranstaltern über die Gründung einer separaten Betriebsgesellschaft. Diese übernimmt seit 2003 als CPV-GmbH ohne Einfluss auf politische Ausrichtung und das Rahmenprogramm die Organisation des Straßenfestes auf dem Heumarkt, dem Alter Markt und dem Rathausvorplatz. Das seit 2004 um die Kreuzung Schaafenstraße und Mauritiuswall stattfindende „Veedelsfest“ wird hiervon unabhängig durch eine Kooperation der ansässigen Wirte organisiert. Im Gegensatz zu vergleichbaren Veranstaltungen hat es in der Geschichte des Kölner CSD keine nennenswerten grundsätzlichen Diskussionen über die Durchführung der Parade gegeben. So sind als öffentlich-rechtliche Konfliktpotentiale im Wesentlichen die Reibereien bezüglich der Genehmigung des Straßenfestes bzw. kleinere, wenn auch anhaltende Auseinandersetzung mit den Kölner Verkehrsbetrieben (KVB) um die Unterbrechung des Straßenbahnverkehrs bzw. der Umlegung der Paradestrecke zu nennen. Mit der Verlegung des Straßenfests an den Mühlenbach 1997 wurde auch die Paradestrecke angepasst, um sowohl genügend Teilnehmende aufnehmen bzw. ausreichend Zuschauenden Platz bieten zu können. Nachdem die KVB 1999 zunächst auf einer Umlenkung des Zuges durch den Tunnel unter dem Maritim-Hotel bestanden hatten, lenkten sie im letzten Moment ein und unterbrachen den Verkehr zwischen Rudolfplatz und Heumarkt während der Parade. 2000 nahm der Zug erstmalig rechtsrheinisch in Deutz Aufstellung, und Stadt und Polizei richteten erstmals ein Bürgertelefon zur Beantwortung von Fragen bezüglich Verkehrsumleitungen und Straßensperrung ein. Nach dem großen Ansturm des Europride führten die Verkehrsbetriebe 2003 ein vergünstigtes, 24 Stunden gültiges, Event-Ticket ein. Ein weitaus langwierigeres Konfliktpotential stellen die Auffassungsunterschiede mit der katholischen Kirche dar. 1991 musste der von der Gruppe „Homosexuelle und Kirche“ (HUK) organisierte ökumenische Gottesdienst auf ein evangelisches Gotteshaus ausweichen, nachdem das Erzbistum sich geweigert hatte, einen Kirchenraum zur Verfügung zu stellen. Nachdem 2000 die Freigabe des unmittelbar neben dem Dom gelegenen Roncalliplatzes gegen den ausdrücklichen Willen des Domkapitels gerichtlich erzwungen worden war, konnte die Kirche auch 2002 die Nutzung des Platzes als Village Square (Anlaufstelle für Teilnehmer des Europride) nicht verhindern. 2004 ließ der KLuST im Vorfeld des CSD für seine Motto-Kampagne „Schluss mit den Mogelpackungen“ 20.000 Faltschachteln als Zigarettenschachtelumverpackung zum Überdecken der Gesundheitswarnungen drucken. Eines der sechs Motive zeigte, Bezug nehmend auf eine Äußerung des Kölner Erzbischofs, Homosexualität sei in der Schöpfungsordnung nicht vorgesehen, das Logo einer fiktiven Zigarettenmarke namens „Schwarzer Heuchler“. Zu sehen war ein Portrait Meisners mit der Unterschrift „Diskriminieren macht impotent“. Das nordrhein-westfälische Ministerium für Gesundheit, Soziales, Frauen und Familie wertete die Kampagne als persönliche Beleidigung des Kardinals, forderte den gewährten Druckkostenzuschuss zurück und verlangte die Einstampfung des Motivs. Diese verweigerte der KLuST jedoch mit dem Hinweis auf die „Wahrhaftigkeit unserer politischen Arbeit“ und verzichtet seither auf jede direkte Unterstützung des CSD durch öffentliche Mittel. „Wahrhaftigkeit unserer politischen Arbeit“ Christopher Street Day | Der Kölner Christopher Street Day | 29 Alltagswelten – Expertenwelten Band 14 | www.schwules-netzwerk.de 30 | Christopher Street Day | Der Kölner Christopher Street Day 4.4. Zwischen Politik und Kommerz Medienrezeption Die Umsetzung der konkreten Mottos bzw. die Vermittlung derselben in der Öffentlichkeit ist einer der anhaltenden Diskussionspunkte bei der Positionierung des CSD zwischen Politik und Emanzipation, Spaß und Kommerz. Trotz des ausgesprochen schwachen Interesses der Medien an Inhalten und Bildern jenseits von möglichst nicht-weißen „exotischen“ Drag Queens, männlicher nackter Körper sowie dargestellter Fetischpraktiken, ist die wohlwollende Einstellung der in Köln ansässigen Medien, wie beispielsweise des Westdeutschen Rundfunks (WDR) oder des Kölner Stadtanzeigers (KStA) nicht zu unterschätzen. Neben den, im Allgemeinen eher in kurzen Features des Boulevardbereichs angesiedeltem Interesse der Privatsender, berichtete der WDR in den Jahren 1998 bis 2000 analog zur Übertragung des Rosenmontagszugs in einer zweieinhalbstündigen Livesendung. Nach nicht zu lösenden Konflikten mit dem KLuST aufgrund der vom Sender als unverhältnismäßig groß empfundenen Lücken in der Zugfolge wurde dieses Komplettübertragung ab 2001 auf Zusammenschnitte im späteren Abendprogramm reduziert. Der Kölner Stadtanzeiger berichtet von 1991 an in zunehmendem Umfang über den Kölner CSD. 1995 tauchte in der Ausgabe nach dem CSD-Wochenende erstmals ein kleiner Hinweis auf der Titelseite auf, ein Jahr später wurde mit einem Farbfoto und einem kleinen Artikel auf der Titelseite berichtet. 2001 war bereits im Vorfeld des CSD eine ganzseitige Berichterstattung zu finden. 2003 widmete sich das Blatt eine Woche lang jeden Tag unter dem Titel „Mein CSD“ der Bedeutung des anstehenden Ereignisses aus dem Blickwinkel von Einzelpersonen. 2004 war mit einer Fotografie auf der Titelseite erstmals ein lesbisches Paar zu sehen. Der CSD als Politische Plattform Die Präsenz nicht-lesbischer Frauen hingegen ist seit 1991 durch die Teilnahme und Schirmherrinnenfunktion verschiedener Politikerinnen an den Veranstaltungen viel beachtet. So stand die Eröffnungsgala zwischen 1993 und 1997 unter der Schirmherrschaft der damaligen Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth, 1999, 2002 und 2003 unter der der Bundesministerinnen Andrea Fischer (Gesundheit), Renate Künast (Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft) und Ulla Schmidt (Gesundheit). Der CSD wurde 1995 erstmals durch Norbert Burger in seiner Funktion als Oberbürgermeis ter der Stadt Köln eröffnet, nachdem er sich in den Jahren zuvor durch seine Vertreterin Renate Canisius bzw. das Ratsmitglied Cornelia Klien hatte vertreten lassen. Sein Nachfolger Harry Blum, der sich bereits in seiner Funktion als stellvertretender Bürgermeister um eine Vermittlung im Konflikt um des Veranstaltungsortes des Straßenfestes bemüht hatte, verstarb vor dem ersten CSD seiner Amtsperiode. Fritz Schramma, seit 2000 Oberbürgermeister, nahm erstmals 2003 gemeinsam mit Berlins regierendem Bürgermeister Klaus Wowereit am CSD teil, ließ sich seither jedoch durch Bürgermeisterin Elfi Scho-Antwerpes vertreten. Scho-Antwerpes fühlt sich nach eigenen Angaben durch ihr Engagement in der Kölner AIDS-Arbeit seit Beginn der 1980er Jahre von Anfang an mit dem Kölner CSD verbunden. Auf landes- und bundespolitischer Ebene waren es in den 1990er Jahren vor allem Politiker und Politikerinnen von Bündnis 90/Die Grünen, die, wie schon in der Schirmherrinnenschaft der Eröffnungsgala, durch eine Teilnahme am CSD ihre Unterstützung der emanzipatorischen Anliegen zum Ausdruck brachten. Neben der regelmäßigen Präsenz des Kölner Bundestagsabgeordneten Volker Beck sind in diesem Zusammenhang der ehemalige stellvertretende nordrhein-westfälische Ministerpräsident Michael Vesper, die Fraktionsvorsitzende Kerstin Müller, der ehemalige Bundesumweltminister Jürgen Trittin, die Bundesvorsitzende Claudia Roth sowie der ehemalige Bundesaußenminister und Vizekanzler Joschka Fischer (erstmals 2002) zu nennen. Mit einer zunehmenden Entdeckung Schwuler und Lesben als Wählerpotential zeigten sich auch Politiker und Politiker der anderen Parteien, wie die Bundesjustizministerinnen Hertha Däubler-Gmelin (2002) und Renate Zypries (2004). Die FDP ist seit 2000 durch ihren schwulen Parteivorsitzenden Guido Westerwelle vertreten. Stellvertreter der Unionsparteien auf Landes- oder Bundesebene sind bisher nicht in Erscheinung getreten. 5. Motivationen und Erfahrungen Erfahrungen von Gemeinschaft Durch die Unterbrechung des Alltags durch Feiern und Tanzen während der Parade und auf dem Straßenfest entstehen Erinnerungsmomente im Lebenslauf. Für viele nicht-heterosexuelle Menschen nimmt die erstmalige Teilnahme an einer CSD-Parade einen zentralen Platz in der Erinnerung des Coming-out-Prozesses ein. Für die vielen ehrenamtlichen Helfer und Helferinnen ist das Gefühl von Solidarität trotz der teils aufreibenden Organisationsarbeit jedes Jahr wieder Anlass zu neuem Engagement. Die im CSD gemachte Erfahrung von Gemeinschaft verfügt auch über eine körperliche Komponente. Die individuellen Körpererfahrungen werden im Idealfall im Fest aufgelöst. Der 2005 auf dem Hamburger CSD unter dem Motto „Get in Touch!“ initiierte sogenannte group hug, bei dem nach Angaben der Veranstalter 16.000 Paradeteilnehmenden und Besuchenden sich mindestens zehn Sekunden in den Arm nahmen, ist ein Beispiel für eine zielgerichtete Verstärkung dieser physischen Erfahrung. Das temporäre Empfinden, Teil eines kollektiven Körpers zu sein, ermöglicht zum einen den Abbau von Barrieren zwischen der Teilnehmenden und führt somit zu einer Ausdifferenzierung und Verdichtung des sozialen Netzwerks. Zum anderen ist das in der Gemeinschaft aufgehende nicht-heterosexuelle Individuum für die Dauer der Veranstaltung vor den homophoben Sanktionen und Angriffen der Umwelt geschützt. Der durch die Erfahrung von Gemeinschaft entstehende Wunsch nach Wiederholung wird von den Veranstaltern des CSD genutzt, um Besucher und Besucherinnen, Teilnehmer und Teilnehmerinnen zu motivieren, sich ehrenamtlich zu betätigen und so durch einen freiwilligen Einsatz das Erlebnis zu intensivieren. In den Programmheften der letzten Jahre ist über dem Antrag auf Mitgliedschaft im KLuST in Form eines Formulars eine Fotografie der Abschlussveranstaltung zu sehen. Die Aufnahme ist vom hinteren Teil der Bühne gemacht und zeigt den Blick über die Köpfe der Arm in Arm den Abschluss des ColognePride feiernden Organisatoren in die Menschenmenge auf dem nächtlichen Heumarkt. Die Bildunterschrift lautet. „SEI DABEI! Mitglied werden im KLuST.“ Positioniert ist die Anzeige auf den letzten Seiten des offiziellen, kostenlos erhältlichen Programmhefts. Die Fotografie zeigt mit der Abschlussveranstaltung am Abend nach der Parade genau jenen „verdichteten“ Moment des Festes, in dem Gemeinschaft als Zustand der unvermittelten und momentgebundene Erfahrung eines homogenen, egalitären Kollektivs geschaffen wird. Die Sehnsucht nach einem erneuten, vergleichbaren Erlebnis tritt durch den Hinweis auf die jährliche Ausrichtung der Veranstaltung in den Vordergrund. Eine noch intensivere Erfah- Das temporäre Empfinden, Teil eines kollektiven Körpers zu sein, führt zu einer Ausdifferenzierung und Verdichtung des sozialen Netzwerks. Christopher Street Day | Motivationen und Erfahrungen | 31 Alltagswelten – Expertenwelten Band 14 | www.schwules-netzwerk.de Im Vordergrund standen positive Impulse für die Zukunft. 32 | Christopher Street Day | Motivationen und Erfahrungen rung wird mit der Mitgliedschaft im Kreis der Trägergruppe in Aussicht gestellt, die durch das Anmeldeformular in greifbare Nähe rückt. Die freiwillige Mitarbeit an der Ausrichtung von Parade und ColognePride stellt hier somit die temporäre Verschmelzung von Anspruch und Wirklichkeit dar. Nicht nur die Teilnahme am CSD ist das ideale Ziel, sondern die aktive Mitgestaltung des Brauchs als Repräsentation eines soziokulturellen Systems und gegenseitiger Verständigung über gemeinschaftliches Handeln. Mit dem Wunsch nach einer Wiederholung der gemeinschaftlichen Erfahrung stiegen die Besucher- und Besucherinnenzahlen in Köln stetig an und der CSD stieß Mitte der 1990er Jahre an seine wirtschaftlichen und räumlichen Grenzen. Die Verfestigung der Strukturen einer ursprünglich unvermittelten Erfahrung war in diesem Zusammenhang aus organisatorischen und auch ökonomischen Gründen unumgänglich. Die mit dieser Entwicklung einhergehende Veränderung des CSD ist zwischen Erfolgen der emanzipatorischen Bemühungen, der zunehmenden Toleranz nicht-heterosexueller Menschen im öffentlichen Raum der Stadt und einem gesteigerten Selbstbewusstseins im Umgang mit dem eigenen Lebensentwurf zu sehen. Ausbruch aus dem Alltag Für viele Teilnehmer und Teilnehmerinnen stellen Straßenfest und Parade einen Ausbruch aus dem Alltag dar. Die gemachten Erfahrungen bleiben dabei weit über die Dauer der Veranstaltung hinaus lebendig. Nicht nur die Unterbrechung des täglichen Trotts ist von Be deutung, sondern der CSD beziehungsweise die CSD werden im Rückblick zu Erinnerungs momenten, mit denen Anfang und Ende bestimmter Lebensabschnitte wie Coming Out oder erste Beziehung verknüpft werden. Stolz als ein Element des lebensbejahenden Charakters eines Festes und seine Funktion als Vergewisserung einer positiven Existenz haben bei der Konzeption und der Or ganisation des ersten Kölner CSD im Rahmen der AIDS-Krise eine entscheidende Rolle gespielt. Im Vordergrund standen positive Impulse für die Zukunft und weniger die Erinnerung an die Vergangenheit. Ein spezifisches Gedenken bezüglich des in Deutschland während und nach dem Nationalsozialismus geschehenen Unrechts wäre dabei mit der oben genannten lebensbejahenden Grundeinstellung des Festes kollidiert. Das mit den amerikanischen Pride-Paraden verknüpften Moment des Gedenkens an Stonewall wurde 1991, anders als deren fröhlicher Erscheinung, eher beiläufig übernommen. In den gegenwärtigen Veranstaltungen hingegen spielt das Gedenken an die an den Folgen von AIDS verstorbenen Mitmenschen, beispielsweise in Form der Gedenkminute am Vorabend der Parade, eine wichtige Rolle. Christopher Street Day | Lokale Identität | 33 6. Lokale Identität Die CSD-Stimmung in Köln wird oft als umfassendes, karnevaleskes Erlebnis der ganzen Stadt beschrieben, während die Parade in Berlin entsprechend des Vorbildes Love Parade mit riesigen Wagen in Verbindung gebracht wird. Diese Rückgriffe auf vorhandene örtliche Brauchmuster bei der Etablierung deutscher CSD sind einerseits auf eine pragmatische Übernahme der Brauchinfrastruktur zurückzuführen, andererseits wird die Heraushebung lokaler Besonderheiten bewusst eingesetzt, um die angestrebte Erfahrung von Gemeinschaft zu verstärken. Der Kölner Lesben- und Schwulentag griff auf die im Kölner Karneval erfolgreiche Verknüp fung von Unterhaltung und politischer Botschaft zurück. Diese Anleihen konzeptioneller Art haben sich im Laufe der Jahre zu weit reichenden Analogien mit dem Rosenmontagszug entwickelt. Der Vorbildcharakter des frühen Kölner Lesben- und Schwulentags als Form des öffentlichen Feierns mit politischer Willensäußerung, die die Demonstrationen der 1980er Jahre ablösten, wird bei der Beschreibung anderer CSD immer wieder betont. Vor der Etablierung eines Kölner CSD beschrieb das schwule Magazin Männer Aktuell im Mai 1991 die Berliner Parade als ein Ereignis, dessen Ausgelassenheit den Kölner Jecken in nichts nachstehen würde. 15 Jahre später hat der ehemalige Kölner Lesben- und Schwulentag die mittlerweile in verschiedene CSD aufgespalteten Berliner Veranstaltungen zahlenmäßig weit hinter sich gelassen. Die Nähe der CSD-Parade zum Rosenmontagszug wird vor allem durch die Presse immer wieder betont. Das Verhältnis zwischen Karneval und CSD bewegt sich dabei in einem Spannungsfeld zwischen Wettbewerb und wohlwollendem Vergleich. Der Rosenmontagszug dient den Ausrichtern des CSD als Referenzpunkt in der Auseinandersetzung mit den städtischen Ordnungsbehörden um die Inbesitznahme des öffentlichen Raums. Als beispielsweise für den CSD 2004 eine den Zugfluss behindernde Straßenlaterne an der Ecke Hohestraße und Gürzenichstraße dauerhaft entfernt wurde, betonte der KLuST in seinem Jahresbericht die vergeblichen vergleichbaren Bemühungen der Organisatoren des Rosenmontagszugs der Vorjahre. In den jährlichen Verhandlungen mit den Kölner Verkehrsbetrieben über eine mögliche Kreuzung des Umzuges mit den Straßenbahnlinien wurde in der Vergangenheit jedoch wiederholt auf eine größere Kooperationsbereitschaft der KVB beim Rosenmontagszug hingewiesen. Alltagswelten – Expertenwelten Band 14 | www.schwules-netzwerk.de Das Fest CSD fungiert in mehrfacher Hinsicht als eine therapeutische Entlastung des Alltags. 34 | Christopher Street Day | Lokale Identität Die Etablierung des Kölner CSD fiel in die Verschiebung der Aufmerksamkeit schwul-lesbischer Emanzipation auf lokale Schauplätze und die Konzentration auf konkrete Veränderungen innerhalb der Gesellschaft. Für viele Teilnehmer und Teilnehmerinnen bedeutet dieses Lokalkolorit der Parade die Schaffung eines Heimatgefühls. Die seit Beginn der Veranstaltung bewusst eingesetzte Strategie, durch die Referenzmöglichkeit „Karneval“ Erlebnisse von Gemeinschaft zu ermöglichen, wird in den letzten Jahren allerdings durch einen veränderten Rezeptionsschwerpunkt in den Medien unterlaufen. Die Assoziationen des Umzugs mit dem Karneval bleiben erhalten. Doch durch eine Konzentration in Wort und Bild auf nicht-weiße Drag Queens und entsprechende Bildunterschriften wie „Karneval in Rio oder CSD in Köln?“ oder „Catherina und Carla aus Brasilien lieben den CSD fast so sehr wie Karneval in Rio“ (KStA und BILD vom 4. Juli 2005) wird die Aufmerksamkeit auf den brasilianischen Karneval gelenkt. Der in Deutschland nur wenig bekannte Sachverhalt, dass die Pride-Parade in Sao Paolo mit 1,5 Millionen im Jahr 2005 und 2,4 Millionen Besuchern und Besucherinnen im Jahr 2006 den Karneval in Rio de Janeiro bereits weit hinter sich gelassen hat, bleibt unerwähnt. Vertreter des schwul-lesbischen Karnevalsszene Kölns sind hingegen in den letzten Jahren immer stärker in der CSD-Parade präsent. Seit der Gründung der „Rosa Sitzung“ 1994/95 haben sich die Karnevalsveranstaltungen der schwul-lesbischen Szenen zu einer festen Größe entwickeln können. 2005 nahmen die „Statt Garde Kolonia Ahoj“, die „Kölsche Schöckelgarde e. V.“ und die „Rosa Funken Köln von 1995 e. V.“ an dem Umzug teil. Während die meisten sogenannten Traditionsvereine ein striktes Auftrittsverbot ihrer Mitglieder außerhalb der Session überwachen, sind die schwul-lesbischen Karnevalsvereine in der Mehrzahl in der CSD-Parade vertreten. Einhergehend mit dieser Präsenz haben Teilnehmer und Teilnehmerinnen, Besucher und Besucherinnen des CSD die Grußformel „Kölle Aloha“ des schwul-lesbischen Karnevals übernommen. Aloha, als hawaiische Grußformel und Ausdruck für Liebe und Zuneigung bezieht sich zum einen alliterierend auf den Ausdruck „Alaaf“, zum anderen auf „warme“ und somit im übertragenen Sinn schwul-lesbische Assoziationen mit der Inselgruppe. Die Kommunikationsformel trägt somit verschiedene Elemente in sich. Zum einen ist sie als Parodie auf die im nicht-schwul-lesbischen Karneval verwendete Grußformel „Kölle Alaaf“ zu sehen, zum anderen stellt sie durch das „schwule“ Abknicken des Handgelenks einen spielerischen Umgang mit den von der heteronormativen Gesellschaft projizierten Stereotypen dar. Der Rückgriff auf lokale Brauchmuster stellt im Falle der Übernahme von karnevalistischen Elementen in den meisten Fällen ein Identifikationsangebot auch für heterosexuelle Kölner und Kölnerinnen dar. Die Aneignung lokaler Symbole kann jedoch auch zu gegenteiligen Reaktionen führen. Das von Gerhard Malcharek 1991 entworfenen Logo des Kölner Lesbenund Schwulentag stellt mit den beiden Turmspitzen des Kölner Doms, die im Laufe der Jahre auf die stilisierte Darstellung zweier spitzer Dreiecke reduziert wurden, einen wichtigen Bezug zum Veranstaltungsort her. Aufschlussreich ist die Reaktion der zwischen 1991 und 1993 in Fraktionsstärke im Rat der Stadt Köln vertretenen Deutschen Liga auf diese Aneignung des bekanntesten Wahrzeichens der Stadt. Der Vorläufer der gegenwärtigen rechtsradikalen Bürgerbewegung Pro Köln e. V. publizierte 1992 in seinem Mitteilungsblatt „Kölner Dom Spitzen“ das Logo des KLuST mit der Bildunterschrift: „Das Emblem des ‚Kölner Lesben- und Schwulentages’ dokumentiert das äußerste Selbstbewusstsein und den Herrschaftsanspruch der Homosexuellen über die Domstadt.“ Der im Schriftzug enthaltene Hinweis auf den temporären Charakter und die Abweisung jeglicher hegemonialer Ansprüche in Form der Formulierung Cologne Lesbian/Gay Freedom Day and Celebration wurde nicht als solcher verstanden. Die bloße Kombination von „schwul-lesbisch“ und einer Abbildung des Doms reichte aus, um die patriarchalisch-heteronormative Ordnung in Gefahr zu sehen. Christopher Street Day | Lokale Identität | 35 Karneval im Sommer? Das Fest CSD fungiert in mehrfacher Hinsicht als eine therapeutische Entlastung des Alltags. Zum einen ermöglicht es, ganz unabhängig von seiner gesellschaftspolitischen Intention, eine in der Gemeinschaft geschützte individuelle schwule oder lesbische Anwesenheit im öffentlichen Raum. Zum anderen ist die Teilnahme nicht-heterosexueller Selbsthilfegruppen, Vereine und Organisationen an der Parade und die Präsenz ihrer Informationsstände auf dem Straßenfest ein wichtiger Ausdruck ihrer Fähigkeit zur Selbstorganisation und damit Voraussetzung einer erfolgreichen Emanzipation. Die im Fest zutage tretende zeitlich begrenzte, offen strukturierte Gemeinschaft projiziert, neben einem von Travestie und Nacktheit bestimmten Bild nach außen, Möglichkeiten und Potenzial nicht der Norm entsprechenden Lebensentwürfe nach innen. Der schrillen Parade steht das Gefühl von Geborgenheit gegenüber. Die Teilnahme schwul-lesbischer Karnevalsvereine an der CSD-Parade deutet neben einer Verdichtung entsprechender Netzwerke auch auf funktionale Unterschiede zwischen Karneval und CSD hin. Die konstanten Vergleichsziehungen zwischen dem Rosenmontagszug und dem „Rosa Karneval“ sind auf der einen Seite bezüglich der Integration und Akzeptanz schwul-lesbischer Lebensentwürfe schmeichelhaft, auf der anderen Seite negieren sie je doch eine mögliche politische Schlagkraft des CSD. Diese kollektive Inszenierung der Gemeinschaft beim CSD funktioniert jedoch mit einem grundlegend anderen gesellschaftlichen Impetus. Im Karneval werden moralische Regeln und Konventionen des Alltags bewusst nur für einen beschränkten Zeitraum außer Kraft gesetzt, um die Funktionen des Zusammenlebens außerhalb des Karnevals nicht aus dem Gleichgewicht zu bringen. Die im CSD ihre Lebensfreude und Daseinsberechtigung demonstrierenden Menschen kommen jedoch nicht unter der Vorgabe zusammen, dass alles anders sein „könnte“, sondern dass ihrer Auffassung nach alles anders sein „sollte“. Die temporäre Beschränkung der durch die Masse der Teilnehmer ermöglichte Außerkraftsetzung der geltenden Normen ist hier keine freiwillige Maßnahme. Sie wird vielmehr durch rigide verbale und körperliche Sanktionen einer oftmals mehrheitlich homophoben Umwelt erzwungen. Die schmerzhafte Differenz zwischen Anspruch und Wirklichkeit ist die Erfahrung, dass der eigene Lebensentwurf im öffentlichen Alltag außerhalb der CSD-Veranstaltungen immer noch von Teilen der Gesellschaft abgelehnt wird. Alltagswelten – Expertenwelten Band 14 | www.schwules-netzwerk.de 36 | Christopher Street Day | Lokale Identität Gleichzeitig kann jedoch die Markierung des „Anderen“ als „schrill“, „falsch“ oder „unecht“ bestehende gesellschaftliche Normen festigen. Die Fixierung der nicht-schwul-lesbischen Berichterstattung in den lokalen und überregionalen Medien auf die Überschreitung von Gendergrenzen in der Parade kann als othering bezeichnet werden. Dieser literaturwissenschaftliche Begriff bezeichnet den Vorgang, in dem Subjekte, die als Bedrohung für die gesellschaftliche Ordnung empfunden werden, als „anders“ und somit als nicht der eigenen Gemeinschaft zugehörig markiert werden. Der Auftritt der israelischen Transgender-Sängerin Dana International auf dem Straßenfest des CSD 1998 deutet darauf hin, dass dieses othering neben einer Exklusion durch eine weiße hetero-normative Umwelt auch eine Strategie der Inklusion der auf Vielfalt bedachten schwul-lesbischen Szenen darstellen kann. Gleichzeitig kann jedoch die Markierung des „Anderen“ als „schrill“, „falsch“ oder „unecht“ bestehende gesellschaftliche Normen festigen. Die Präsenz des „anderen“ Körpers im Sinne eines verzerrten und überzogenen Klischees von Geschlechtlichkeit ermöglicht im Idealfall das Außerkraftsetzen von Erwartungen und vorgefertigten Klischees und eine neue, flexiblere Konzeption von Rollenbildern. In diesem Zusammenhang verdient die Teilnahme der Kölner Bürgermeisterin Elfi Scho-Antwerpes der Stadt Köln an den CSD der letzten Jahre besondere Aufmerksamkeit. Scho-Antwerpes, die bereits seit 1991 regelmäßig an der Parade teilnimmt, trug ein aufwändiges Kleid, in dessen großen Kragen etliche Armbanduhren eingearbeitet waren. Mit einem Fächer in der Hand nahm sie, in Begleitung zweier ebenfalls aufwändig kostümierter Drag Queens, innerhalb der Fußgruppe des KLuST an der Parade teil. Durch Verkleidung und Habitus übernahm sie die zwischen Teilnehmenden und Zuschauenden ausgehandelte Rolle einer Drag Queen. Durch ihre Erscheinung als biologische Frau in der gender performance eines biologischen Mannes in einer weiblichen gender role erweiterte sie die vielschichtige Beziehung zwischen Original und Imitation um eine weitere Ebene. Darüber hinaus unterläuft sie mit der CSD-Teilnahme in ihrer Funktion als Bürgermeisterin bewusst die beschriebene Dichotomie zwischen der heteronormierten Stadt auf der einen und den schwul-lesbischen Szenen auf der anderen Seite. Der CSD wird auf diese Weise über den Status eines betriebswirtschaftlichen oder wahlpolitischen Status hinausgehoben, er wird Teil der Stadt und erfüllt somit seinen emanzipatorischen Anspruch. Christopher Street Day | Strategien gegen die Unsichtbarkeit | 37 7. Strategien gegen die Unsichtbarkeit Die wichtigsten Strategien im Kampf gegen die gesellschaftliche Unsichtbarkeit von nicht-heterosexuellen Lebensentwürfen sind Hypermaskulinität und Travestie. Die jährliche Aufmerksamkeit der Medien gegenüber Fummeltunten und Muskelschwestern wirft nicht nur in Köln immer wieder die Frage nach der Effektivität von Pride-Veranstaltungen bezüglich der Forderungen nach Akzeptanz andersartiger Lebensentwürfe auf. Trotz des großen Verständnisses für den Wunsch nach gemeinschaftlichen Erfahrungen nennen Kritiker die Reduktion der medialen Rezeption der Paraden auf Drag Queens, Lederkerle und Dykes on Bikes in Form eines 20 Sekunden dauernden Zusammenschnitts in den Nachrichten als Preis der Zentrierung der individuellen Sexualität. 7.1. Hypermaskulinität Die auch in den Paraden des Christopher Street Days in Köln sichtbare geballte Anwesenheit von männlichen, nahezu nackten und vor allem muskulösen Körpern ist als Hypermaskulinität zu bezeichnen. Hierbei wird das Stereotyp eines weiblich-weichen, defensiven Schwulen durch die Präsentation eines harten, die Genderrolle “männlich” überzeichnenden Körpers subversiv unterwandert. Die zentralen körperlichen Elemente homophober Zuschreibungen wie das abgeknickte Handgelenk, ein affektierter Gang und Anspielung auf die sexuelle Unzulänglichkeit werden durch einen stereotypisierten männlichen, aber gleichzeitig schwulen Körper konterkariert. Diese subtile Subversion des für schwule Männer vorgegebenen sozialen Geschlechts beschränkt sich in diesem Fall nicht auf das temporäre „Überstreifen“ einer anderen Rolle in Form von Make-up und Kostümierung, sondern umfasst auch den Alltag außerhalb der Parade. Das Spiel mit den Stereotypen von Männlichkeit wird, vielfach unbewusst, durch langfristiges und zeitintensives körperliches Training betrieben. Der nackte, muskulöse, männliche Körper im Kontext der Parade verfügt über ein großes subversives Potential. Abweichend von der Präfiguration patriarchalischer Männlichkeit wird der „über-männliche Körper“ zu einem sexuellen Körper, zu einem Objekt des Begehrens. Der geformte Körper sendet Signale einer sexuellen Bereitschaft aus, die die patriarchalisch-heterosexuelle Positionierung der Frau im Zentrum des Begehrens in Frage stellen. Gleichzeitig entspricht er jedoch durch die Präsenz physischer und sexueller Potenz, durch Muskeln und die durch knappe Bekleidung betonten primären männlichen Geschlechtsorgane dem Stereotyp des aggressiven, omnipotenten Mannes. Er lässt sich auf diese Art weder dem Stereotyp des effeminierten Schwulen noch dem des omnipotenten Heterosexuellen zuordnen. Alltagswelten – Expertenwelten Band 14 | www.schwules-netzwerk.de 38 | Christopher Street Day | Strategien gegen die Unsichtbarkeit Der Einsatz von Hypermaskulinität als subversiver Strategie schwuler Emanzipation wurde durch eine Brechung der von der Umwelt auferlegten Stereotype ermöglicht. Da sich feminin besetzte, nicht-devote lesbische Rollenbilder nur langsam gegen das gängige Klischee der maskulinen Lesbe durchsetzen, ist ein entsprechendes lesbisches Pendant im Sinne einer Hyperfemininität bislang nicht zu beobachten. Barbusige lesbische Teilnehmerinnen, wie sie in den ersten Jahren in der Parade häufiger als Ausdruck von lesbischem Selbstbewusstsein und sexueller Selbstbestimmung zu sehen waren, sind in den letzten Jahren eher zur Ausnahme geworden. 7.2. Drag Kings and Queens Der englische Ausdruck für einen biologischen Mann in der einer weiblichen Genderrolle zugeschriebenen Kleidung lautet Drag Queen. Er ist abgeleitet von dem Verb to drag – schleppen, schleifen – und bezieht sich auf die Schleppe eines hinter dem Träger herschlei fenden Kleids. Der in den USA der 1920er Jahre geprägte Ausdruck und seine neuere weibliche Entsprechung Drag King sind dem deutschen Begriff „Transvestit“ vorzuziehen, da sie den unterhaltsamen, parodistischen Aspekt der Travestie beinhalten. Der „Transvestit“, in seiner im Duden angegebenen Definition als sexuelle „Bevorzugung von Kleidungsstücken, die für das andere Geschlecht typisch sind“ beschränkt sich streng genommen auf die medizinische Perspektive einer devianten Sexualität. Travestie bricht jedoch bewusst mit der ihr zugesprochenen Rolle. Auch im Einsatz des Crossdressings als subversiver Strategie ist eine männlich-schwule Dominanz zu verzeichnen. Die in Köln durchaus vorhandene Drag King-Szene unterläuft als Gemeinschaft biologischer Frauen durch die Parodie männlicher Genderrollen die Präfigurationen von Geschlechtlichkeit. Während diese gender parody mittlerweile auch in den Medien rezipiert wird, wird ihre Präsenz bei Veranstaltungen wie dem CSD weiterhin sowohl von anderen Teilnehmenden als auch Besuchenden ignoriert. Dies mag zum einem an der noch undeutlichen gesellschaftlichen Verortung des Phänomens liegen, zum anderen an der geringeren Spektakularität der Erscheinung von Drag Kings. Während Drag Queens durch ihre bunte, überzogene Parodie weiblicher Rollen auffallen, ist die weibliche Imitation männlicher Stereotypen vielfach weniger einfach auszumachen. Die Drag King-Szene zeichnet sich weniger durch eine Konzentration auf festgeschriebene Geschlechterrollen – wie beispielsweise die Ausrichtung männlicher Travestie auf die Rolle der weiblichen Diva – sondern eher durch einen subtileren, experimentellen Umgang mit Geschlechterrollen aus. Sie verfolgt vielmehr den Anspruch die Bedingungen der Konstruktion von Zweigeschlechtlichkeit und der entsprechenden Rollenzuteilung sichtbar zu machen. Christopher Street Day | Strategien gegen die Unsichtbarkeit | 39 7.3. Gender bending Rückblickend erscheinen Motivation und Funktion von Travestie innerhalb der schwullesbischen Bewegung der 1970er Jahre als grundsätzlich verschieden von der bloßen Imitation von Frauen. Körper- und Gesichtsbehaarung wurde bewusst nicht entfernt und der öffentliche Auftritt im Fummel stellte eine der wenigen Möglichkeiten dar, als schwuler Mann in der Öffentlichkeit überhaupt wahrgenommen zu werden. Dieser strategische Einsatz von Crossdressing innerhalb der schwulen Emanzipationsbewegung hatte zum einen das Ziel, gängige Geschlechterrollen in Frage zu stellen. Zum anderen stellte er – vor der Einführung einer käuflich erwerbbaren Regenbogensymbolik – die einzige Möglichkeit dar, durch die Kombination männlicher und weiblicher Attribute auf schwule Existenzen aufmerksam zu machen. Eine in der Parade 2005 gemachte Fotografie einer unbekannten Drag Queen verdeut licht die enge Koppelung der gender parody im Sinne Judith Butlers an den durch sie hervorgerufenen komischen Effekt. Die Drag Queen zeichnet sich durch einen grotesken Gegensatz zwischen körperlich-männlichen Merkmalen wie einer Glatze, einem über das Geländer hängenden Bauch und überzogenen Aspekten von Weiblichkeit in Form von übergroßen Brüsten und einer enormen Gummiperücke. Hinzu kommen ein mit der femininschwulen Genderrolle einhergehender erotisierter Habitus durch eine zwischen den Zähnen gehaltene Plastikrose und das unvermeidliche abgeknickte Handgelenk. Die abgebildete drag performance erfüllt die Merkmale von Travestie in Form der Verletzung einer Regel oder Norm sowie die Durchführung dieser Überschreitung durch eine unwürdige, minderwertige und abstoßende Person. Die Verletzung einer Norm ist durch die Überschreitung festgelegter Geschlechterrollen gegeben. Die, die Norm überschreitenden Handelnden sind durch die Hervorhebung der von den körperlichen Idealen abweichenden „Defekte“ wie Übergewicht und Kahlköpfigkeit als hässlich und abstoßend markiert. Travestie ist somit ein reziproker Prozess homophober Zuschreibungen und deren subversiver Unterlaufung durch Entsprechung und karikaturenhafte Überzeichnung. In einer Fotografie zweier Teilnehmer des dritten Kölner CSD von 1993 ist die Funktion von Travestie als Berührungen zwischen Sexualorientierung und Geschlechterrollen noch deutlich zu erkennen. Wiederum handelt es sich um die groteske Gegenüberstellung männlicher und weiblicher sekundärer Geschlechtsorgane in Form von Bärten und Brüsten sowie um die Kombination weiblich konnotierter Kleidung und Frisuren und dem maskulinen Objekt Motorrad. 13 Jahre später hat sich die konzeptionelle Basis der in der Parade zu beobachtenden männlich-schwulen Travestie grundlegend verändert. Das System abweichender Genderrollen ist durch die Koordinaten weibliche Travestie und eine angemessene Unterscheidung von Drag Queens und Transgender-Menschen erweitert worden. Darüber hinaus hat sich die kollektive Markierung von devianter Sexualität der gay revolution hin zu einer Darstellung individueller Figuren und Rollen entwickelt. So verweisen die gut inszenierten Kostüme verschiedener Drag Queens in den Paraden der vergangenen Jahre auf kreative und handwerkliche Fertigkeiten, lassen den Sachverhalt der gender parody jedoch in den Hintergrund treten. Weder physische noch soziale noch performative Präfigurationen werden in Frage gestellt oder unterlaufen. Nicht das Klischee der „Tunte“ wird neu verhandelt, sondern ein namentlich in der Presse genannter Travestie-Künstler zelebriert den eigenen Auftritt. Die Forderung auf dem Plakat eines Teilnehmers der Parade aus dem Jahr 2004 mit der Aufschrift: „Tunte sein ist politisch und nicht nur Dekoration!“ wird somit zum Anachronismus. „Tunte sein ist politisch und nicht nur Dekoration!“ Alltagswelten – Expertenwelten Band 14 | www.schwules-netzwerk.de 40 | Christopher Street Day | Der CSD im öffentlichen Raum 8. Der CSD im öffentlichen Raum Die seit 2004 in Köln stattfindende Diskussion um die Beflaggung öffentlicher Gebäude mit der Regenbogenfahne für die Dauer des CSD lässt die Mechanismen und Beweggründe der Verweigerung eines gleichberechtigten, sichtbaren Platzes für nicht-heterosexuelle Lebensentwürfe innerhalb der Gesellschaft deutlich werden. Eine zeitlich und räumlich begrenzte Inbesitznahme des öffentlichen Raumes in Form einer Parade ist unter Berücksichtigung des wirtschaftlichen Potenzials von Schwulen und Lesben gestattet. Die Anerkennung gleichgeschlechtlicher Le bensentwürfe in Form einer symbolischen Beflaggung der von ihnen mitgewählten Organe und Institutionen der Gesellschaft hingegen wurde ihnen lange verwehrt. In Berlin wird seit 1997 von verschiedenen Bezirksrathäusern die Beflaggung mit der Regenbogenfahne angeordnet. In Köln hingegen wurde 1998 ein Antrag von Bündnis 90/Die Grünen auf entsprechende Beflaggung von Rathaus und Hauptbahnhof mit den Stimmen von SPD und CDU abgelehnt. Bei den 1999 stattfindenden Kommunalwahlen zogen nach einer Diskussionsrunde im Rahmen des Straßenfests die anwesenden OB-Kandidaten bzw. deren Vertreter spontan zum Rathaus, um – gegen den ausdrücklichen Willen von Oberbürgermeister Burger – gemeinsam die Regenbogenflagge zu hissen. 2004 wurde von den Bezirksvertretungen verschiedener Stadtteilen wie Lindenthal oder Ehrenfeld auf Antrag des KLuST eine entsprechende Beflaggung angeordnet. Paraden wie der Kölner CSD stellen mit einer Teilnahme von bis zu 70.000 Menschen (2002) bei einer Gesamteinwohnerzahl von einer knappen Million einen durchaus ernstzunehmenden politischen und ökonomischen Faktor dar. So trug ein Teilnehmer des CSD 2005 ein Schild mit der Aufschrift: „Wir sind kein Milieu, wir sind Millionen.“ Diese Präsenz, die das herkömmlich patriarchalische, männlich-heteronormierte Gesellschafts bild bedroht, hat in der Vergangenheit immer wieder zu Abwehrreaktionen bei städtischen Vertretern und Ordnungsbehörden geführt. Der ehemalige Kölner Oberbürgermeister Norbert Burger bezog als Vertreter dieser gefestigten Ordnung deutlich Position. Bei dem 1991 erstmalig stattfindenden Empfang einer Delegation von Kölner Schwulen und Lesben im Kölner Rathaus beendete er das Gespräch nach Augenzeugenberichten mit der Frage „Wie viele sind sie eigentlich?“. Ein Jahr später erteilten die städtischen Ordnungsbehörden erst wenige Stunden vor der Eröffnung des Straßenfests eine entsprechende Genehmigung, was neben einem Gefühl der Ohnmacht eine krisenhafte Stimmung innerhalb der Szenen verursachte. In den ersten Jahren des Kölner Lesben- und Schwulentags tauchten wiederholt Konflikte zwischen den Organisierenden und der städtischen Vertretung auf. Nachdem der CSD bei seiner dritten Ausrichtung 1993 mit schätzungsweise 30.000 Teilnehmenden eine Zukunftsperspektive als feste Größe im Veranstaltungskalender der Stadt erworben hatte, kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen KLuST und Stadtverwaltung um die Christopher Street Day | Der CSD im öffentlichen Raum | 41 Parade 1992, Zugweg „Wir sind kein Milieu, wir sind Millionen.“ Teilnahme des Bürgermeisters oder dessen direkter Vertretung. Nachdem Bürgermeisterin Renate Canisius den CSD 1991 und 1992 in Vertretung von Oberbürgermeister Norbert Burger eröffnet hatte, ließ sich dieser 1993 durch die Ratsfrau Cornelia Klien vertreten. Der KLuST beharrte darauf, dass bei zunehmender Gewalt gegen Schwule und Lesben nur die Anwesenheit des Spitzenrepräsentanten oder seiner direkten Vertreter „das jetzt notwendige Signal der Solidarität und des gesellschaftlichen Miteinanders“ setzen könne. Burger drohte daraufhin mit dem vollständigen Rückzug städtischer Präsenz. Die letztendlich von Ratsfrau Klien gehaltene Ansprache fand in einer entsprechend aufgeladenen Stimmung statt und wurde von der Mehrheit der Anwesenden ausgebuht. Über die Hintergründe der Weigerung des Oberbürgermeisters, selbst zu sprechen oder eine direkte Vertretung zu entsenden, ist aus heutiger Sicht nur noch zu mutmaßen. Eine bewusste Verweigerung städtischer Teilnahme auf höchstem Niveau liegt jedoch angesichts der Größe der Veranstaltung und des bereits fast ein Jahr vorher bekannt gegebenen Datums auf der Hand. Diese Verweigerung städtischer Vertretung oberhalb des Status eines Ratsmitglieds kann hier durchaus als ein symbolischer Akt der Negation schwul-lesbischer Präsenz in Köln gewertet werden. In einem im Juli 2001 in der RIK veröffentlichten Kommentar zum CSD 2001 nennt der derzeitige Oberbürgermeister Fritz Schramma den CSD „eine gelungene Mischung aus fröhlicher Feier, gesellschaftspolitischer Demonstration und rosa Karneval“, die zeige, dass in Köln die schwul-lesbische Szenen längst zum Alltag gehören. Gleichzeitig fordert er die Teilnehmer und Teilnehmerinnen der anstehenden Parade zur Zurückhaltung auf: „Die Lesben und Schwulen sollten aber auch Rücksicht auf den Teil der Bevölkerung nehmen, der mit den schrillen und teilweise anstößigen Szenen nicht allzu viel anfangen kann.“ Was auf den ersten Blick als eine Anmahnung eines demokratischen Aushandlungs prozesses des öffentlichen Lebens aussieht, entpuppt sich bei genauerer Hinsicht jedoch als subtile Strategie einer Untermauerung gegengeschlechtlicher Normalität. Durch eine Fixierung der Öffentlichkeit und der Medien auf die karnevalesken Elemente der Parade werden die direkten politischen Aussagen des CSD größtenteils ignoriert. Eine gesellschaftspolitische Sprengkraft der Massenveranstaltung Christopher Street Day ist allenfalls noch in der Subversion von Geschlechterrollen durch Travestie oder Nacktheit vorhanden. Die von Schramma geforderte freiwillige Selbstkontrolle mit einem Verzicht auf „schrille Szenen“ würde der intendierten Demonstration der Vielfalt von Lebensentwürfen die Basis entziehen. Der CSD wäre somit gänzlich seiner indirekten politischen Botschaft beraubt und sowohl in Form als auch Inhalt von anderen Volksfesten nicht mehr zu unterscheiden. Während Schwule und Lesben versuchen, innerhalb dieser Auseinandersetzung um Repräsentation und Präsenz das ihnen aufgezwungene Rollenbild abzuwerfen oder subversiv zu sabotieren, ist eine heteronormative Mehrheit an einer Erhaltung des Status quo interessiert. Die Duldung subversiver Praxis durch ein dominantes System befindet sich somit immer in einer fragilen Balance zwischen gezielter Funktionalisierung als machtstabilisierender Faktor auf der einen und Öffnung und Integration auf der einen Seite. Parade 2005, Zugweg Alltagswelten – Expertenwelten Band 14 | www.schwules-netzwerk.de 42 | Christopher Street Day | Wem gehört der CSD? 9. Wem gehört der CSD? Die monatliche Umfrage des schwulen Magazins BOX fragte im Mai 2006 seine Leser, wie wichtig ihnen die CSD-Feiern seien. Im Folgemonat veröffentlichte die Zeitschrift die Ergebnisse, in denen 42 % der Leser in den CSD „immer noch Demonstrationen für unser Anliegen“ sahen, 42 % die Veranstaltungen als „nur noch Party“ betrachteten und 16 % der Antworten die Parade als „eine Art rosa Sommerkarneval“ bezeichneten. Die Ergebnisse dieser Umfrage sind nicht unbedingt repräsentativ, ihre Fragestellung mit den drei vorgegebenen Antwortmöglichkeiten ist jedoch aufschlussreich. Sie verdeutlicht mit den Begriffen „Demonstration“ und „Party/Sommerkarneval“ die beiden Pole des Diskurses hinsichtlich einer Positionierung des CSD zwischen politisiertem Brauch und kommerzialisiertem Event. Wie beschrieben ging die Entwicklung des Christopher Street Days in Köln einher mit quantitativen und qualitativen Veränderung der Veranstaltung, ihrer Konzeption und Durchführung. Neben den bis 2002 stetig steigenden Teilnehmenden- und Besuchendenzahlen sind vor allem die Professionalisierung des Ausrichters einerseits sowie die „Privatisierung“ des Straßenfests andererseits zu nennen. Diese Prozesse blieben in den schwul-lesbischen Szenen nicht unkommentiert und wurden teilweise mit scharfer Kritik bedacht. Die Kommerzialisierung des CSD ist daher nicht zwangsläufig als Entwicklung zu betrachten, die den politischen Grundgedanken der Veranstaltung pervertiert. Christopher Street Day | Wem gehört der CSD? | 43 Die zentrale Forderung der gay revolution – die Veröffentlichung des Privaten – wird somit wieder rückgängig gemacht. 9.1. Sponsoring Auf besondere Kritik stießen in den letzten Jahren die Aktivitäten von Sponsoren innerhalb der Parade und bei der Finanzierung des Straßenfests. Der ColognePride 2005 zählte beispielsweise insgesamt mehr als vierzig Sponsoren und Partner, die sich in verschiedene Kategorien einteilen lassen. Ein Großteil der finanziellen und organisatorischen Hilfestellung kam von Gruppen, Initiativen und Einrichtungen der schwul-lesbischen Szenen Kölns. Darüber hinaus waren einige größere Konzerne als Sponsoren zu verzeichnen. Neben Firmen mit einer ausschließlich marktwirtschaftlich orientierten Motivation, wie beispiels weise Coca Cola, Jägermeister, German Wings oder Deutsche Bank Köln, gab es einige Be triebe, die sich durch eine besonders integrative oder antidiskriminatorische Firmenpolitik auswiesen. Die Kommerzialisierung des CSD ist daher nicht zwangsläufig als Entwicklung zu betrachten, die den politischen Grundgedanken der Veranstaltung pervertiert. Die Mehrzahl der Sponsoren zeichnete sich jedoch eher durch ein oberflächliches Interesse an den politischen Inhalten der Veranstaltung aus. 2005 bezeichnete eine Modefirma als eine der Sponsorinnen der Parade das tolerante Umfeld des ColognePride als passend zum Geschäftskonzept. Die beworbene Kollektion wurde aus absatzstrategischen Gründen an das Image der Vielfältigkeit gekoppelt, die schwul-lesbischen Teilnehmenden sollten durch die Präsenz der Marke zum Kauf der Ware motiviert werden. Der CSD wurde mit dieser Aussage zu einer bloßen Trägerveranstaltung kommerzieller Werbung degradiert. Die äußere Form wurde hier nicht den Inhalten angepasst, sondern eine verkaufsverträgliche Softversion der Demonstration nicht-heterosexueller Lebensentwürfe wurde als „tolerantes Umfeld“ zur idealen Werbemöglichkeit. Aus der gay liberation wurde, so die Tagline der Werbekampagne, eine „Charming Fashion Revolution“. 9.2. Volksfest CSD? Mit der Einführung des „Fantasypride“ als schwul-lesbischer Auftakt zum ColognePride im Vergnügungspark Phantasialand in Brühl im Jahr 2003 weitete sich der volksfestartige Charakter der Veranstaltung aus. Die Veranstalter folgten dem US-amerikanischen Muster des seit 1990 im Vergnügungspark Disneyland Orlando/Florida ausgerichteten gay day. Mit den erhobenen Eintrittsgebühren von Euro 26,50 ist ein schrankenloser Zugang für alle Teilnahmewilligen, nämlich unabhängig von ihrem Einkommen, hinfällig. Gleichzeitig wird durch die zusätzlich stattfindenden Veranstaltungen der öffentliche Raum als Austragungsort der Aushandlung der Position gleichgeschlechtlicher Lebensentwürfe verlassen. Die zentrale Forderung der gay revolution – die Veröffentlichung des Privaten – wird somit wieder rückgängig gemacht. Die im CSD zusammentretende schwule Gemeinschaft – lesbische Präsenz wird nicht explizit angesprochen – tritt mit ihren Gleichberechtigungsforderungen nicht mehr in die Öffentlichkeit, sondern zieht sich in das selbst gewählte Getto Vergnügungspark zurück. Ein weiterer Streitpunkt in der Diskussion um die politische Effizienz der CSD-Veranstaltung betrifft die Ausrichtung des Bühnenprogramms. Die Auftritte von Schlagerinterpreten und -interpretinnen wie Mary Roos, Vicky Leandros oder Patrick Lindner und somit eine inhaltliche und formale Annäherung an Volksfeste mit einem rein unterhaltenden Charakter ermöglichen den weiteren Abbau von Vorurteilen, gleichzeitig verwischen sie jedoch die schwul-lesbischen Aspekte der Demonstration und damit das politische Anliegen. Mit der beschriebenen Veränderung des politischen Anspruchs von Travestie von der Aushandlung und Subversion gesellschaftlich bestimmter Geschlechterrollen hin zu einem inszenierten Auftritt des Individuums hat sich das Äußere der Parade grundlegend geändert. Das auf Provokation abzielende Crossdressing schwuler Aktivisten der 1970er Jahre ist einem immer professionelleren, nicht mehr unbedingt an eine gender parody gekoppelten Rollenspiel gewichen. Damit ist die Parade nur noch schwerlich von vergleichbaren Veranstaltungen mit einem anderen Ursprung zu unterscheiden. So zeigte ein Beitrag des Fernsehsenders CNN International über das Verbot einer schwul-lesbischen Demonstration in Moskau am 27. Mai 2006 zum Vergleich Bilder der Gay Prides in London, New York und Sydney sowie der Love-Parade in Berlin. Alltagswelten – Expertenwelten Band 14 | www.schwules-netzwerk.de 44 | Christopher Street Day | Wem gehört der CSD? 9.3. Gegenwelten Politisch diffuse und unverbindliche Ziele und somit eine Deinstitutionalisierung der schwul-lesbischen Emanzipationsbewegung traten bereits auf, nachdem die Koppelung der politischen Ausrichtung an linksradikale studentische Gruppierungen mit einer zunehmenden Liberalisierung der Gesellschaft in den 1970er Jahren weggefallen war. Die Etablierung des CSD in Köln als Reaktion auf die AIDS-Krise brachte die ausrichtende Gemeinschaft des Festes zunächst wieder mit dem gemeinsamen Ziel der Bekämpfung der Krankheit unter einem Dach zusammen. Als begrenzte medizinische Erfolge beispiels weise in Form von lebensverlängernden Langzeittherapien einsetzten, schwand das Empfinden von AIDS als Bedrohung schwuler Lebensentwürfe. Die Funktion der Parade als lebensbejahendes Signal gegen Krankheit, Tod und Stigmatisierung rückte immer weiter in den Hintergrund. Nach und nach traten mehr oder weniger ausformulierte emanzipationspolitische Forderungen an ihre Stelle. Diese Entwicklung lässt sich in der zunehmenden konkretisierten Form der Mottos nachzuvollziehen. Diese waren zunächst dem Karneval entlehnt („Jot Fründe kumme zosamme“ – 1991) und entwickelten sich dann über allgemeinere Leitgedanken wie „Flagge zeigen“ (1993-1996) hin zu konkreten politischen Aussagen zu schwulen oder lesbischen Aspekten von Familie („We are family“ – 1999) oder rechtlicher Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften („Im Namen des Volkes, traut Euch“ – 2001). Im Zuge der endgültigen Abschaffung des § 175 im Jahr 1994 und einer zunehmenden Integration schwul-lesbischer Lebensentwürfe durch die Politik der rot-grüne Koalition zwischen 1998 und 2005, vor allem mit der Einführung des Lebenspartnerschaftsgesetztes 2002, schienen aber auch diese Ziele erfüllt. Neue Ziele wie die Durchsetzung schwul-lesbische Aspekte im Antidiskriminierungsgesetz oder die organisierte Solidarität mit Schwulen und Lesben in Osteuropa stoßen hingegen wieder auf verstärkte Resonanz innerhalb der schwul-lesbischen Szenen. In der sogenannten „Kölner Erklärung“ aus dem Jahr 2000 protestierten verschiedene sexualemanzipatorische Gruppen aus NRW gegen eine „Heimholung ins Hetero-Reich“ durch veränderte Form und angepassten Inhalt. Aus der AIDS-Initiative „Maria HIV“ ging beispielsweise die Formation „queergestellt“ „von Menschen unterschiedlicher sexueller Identitäten“ hervor. Die deutlich linkspolitisch orientierte Gruppe protestierte während der Parade 2002 in Form einer mit Einkaufswagen ausgestattete Fußgruppe gegen die zunehmende Vereinnahmung der CSD-Veranstaltungen durch Sponsoren und Partyveranstalter. Bei einer von „queergestellt“ vor der KLuST-Veranstaltung ausgerichteten Gegenparade 2003 zogen etwa 500 Teilnehmer über die Ringe nach Ehrenfeld, um auf dem dortigen Neptunplatz an einer Abschlusskundgebung teilzunehmen. Im Juni 2003 übertitelte der Express einen Bericht zu dieser sogenannten off-pride mit: „Muss dass denn sein? [...] Gibt Christopher Street Day | Wem gehört der CSD? | 45 „Muss dass denn sein? [...] Gibt es jetzt zwei Nackedeiparaden in Köln?“ es jetzt zwei Nackedeiparaden in Köln?“. Die Gefahr einer Spaltung der Parade in gegenläufige Teile erwies sich jedoch als unbegründet, da die Intention von „queergestellt“ nicht in der Etablierung eines weiteren Umzugs, sondern in der Vermittlung von Denkanstößen liegt. Auch in Oberhausen hat sich mit der vom „Netzwerk der Queerulanten“ veranstalteten Freakweek seit 2001 eine ähnliche Veranstaltung neben dem CSD etablieren können, die auf ihrer Internetseite direkt auf den „Sommerkarneval“ in Köln Bezug nimmt: Der KLuST hingegen wertete den politischen Gehalt beispielsweise der Parade 2005 in seinem Jahresbericht als vorbildlich in Umsetzung des Mottos und Reduzierung der kommerziellen Wagen. Auch in Gesprächen mit Organisatoren und Organisatorinnen, Teilnehmern und Teilnehmerinnen wird deutlich, dass die Parade 2005 als angenehm repolitisiert empfunden wurde. Bezüglich einer Kommerzialisierung des CSD muss jedoch unterschieden werden zwischen einem das Bild nach außen hin konstituierenden Auftreten in der Parade und der bereits ge nannten Projektion des Potenzials und der Möglichkeiten der schwul-lesbischen Gemeinschaft nach innen. Während ein Blick in die Presse nach dem CSD-Wochenende 2005 zeigt, das die Rezeption von außen deutlich auf den Unterhaltungscharakter der Parade ausgerichtet ist, prägen die an Schwule und Lesben gerichteten Veranstaltungen des Rahmenpro gramms ein ganz anderes Bild. Dass Abkehr und Abspaltung von den zahlenmäßig großen CSD-Veranstaltungen nicht immer nur in einer anti-kommerziellen Haltung zu suchen sind, zeigt das Beispiel des CSDOstwestfalen-Lippe (CSD-OWL). Die in Bielefeld stattfindende Veranstaltung wird seit ihrer Etablierung 1996 vollständig ohne Sponsorengelder finanziert. Trotzdem organisierte die Initiative „Queertreiben“ ein alternatives Kulturfest im ArbeiterInnenjugendzentrum. Die genannten Alternativveranstaltungen in Köln, Oberhausen und Bielefeld lassen sich neben einer politisch-ideologischen Unterscheidung als Wunsch nach Wiederholung der Erfahrung von Gemeinschaft interpretieren, die neue Fest- und Erlebnisformen entstehen lassen. Alltagswelten – Expertenwelten Band 14 | www.schwules-netzwerk.de … eine letzte Chance für die Kölner Schwulen und Lesben „ein wenig „unter sich“ zu feiern.“ 46 | Christopher Street Day | Wem gehört der CSD? 9.4. Rückeroberung Gleichzeitig haben die Öffnung des CSD für kommerzielle Aspekte und sein rasantes Wachstum durch gestiegene Sicherheits- und Organisationskosten – auch bei rechtlicher Beibehaltung des Demonstrationsstatus – den gezielten Einsatz von Sponsoring auf Kosten der Sichtbarkeit der politischen Botschaft unumgänglich gemacht. Diese Entwicklung kann jedoch bei aller Kritik auch als eine emanzipatorische Chance gesehen werden, da sie neuen Gruppierungen und Ideen einen Nährboden bietet. Eine solche Ausdifferenzierung gesellschaftlicher und ökonomischer Nischen innerhalb des Systems CSD ist nicht nur in den besprochenen Alternativangeboten des „antikommerziellen“ Sektors schwul-lesbischer Szenen, sondern auch innerhalb der reinen Unterhaltungsangebote zu finden. So wurde im offiziellen Programmheft des ColognePride 2006 die Eröffnung des Straßenfestes in der Altstadt besonders empfohlen, da die meisten auswärtigen Gäste noch nicht eingetroffen seien. Darüber hinaus ist seit einigen Jahren eine Bewegung weg vom mehrtägigen, überfüllten Straßenfest auf Heumarkt, Alter Markt und Rathausvorplatz hin zu der wesentlich kleineren, seit 2000 von den Wirten der umliegenden schwulen Kneipen organisierten Veranstaltung im Vorfeld des ColognePride zu verzeichnen. Die RIK bezeichnete das 2002 während des Europride von der Wirtegemeinschaft Altstadt am Agrippabad veranstaltete Straßenfest als „vor dem ‚Big Bang’ back to the roots“ und als gelungen, weil „übersichtlich und gemütlich“. Dieser „kleine CSD“ versuchte gezielt die Atmosphäre der Anfänge in der Stephanstraße aufzugreifen, und sich von der Massenveranstaltung abzugrenzen um eine spezifische Zielgruppe anzusprechen. Das Magazin BOX nannte das Straßenfest 2005 im sogenannten Bermudadreieck den „Geheimtipp der Kölner Community“ und eine letzte Chance für die Kölner Schwulen und Lesben „ein wenig „unter sich“ zu feiern.“ Diese prozesshafte Rückeroberung des CSD durch die lokalen schwul-lesbischen Szenen soll an einem letzten, vom Autor am Rande der Veranstaltungen 2005 beobachteten Beispiel verdeutlicht werden: Das zwei Wochen vor der Parade von den Wirten der anliegenden Kneipen in der Schaafenstraße veranstaltete „Veedelsfest“ erwies sich auch 2005 als großer Erfolg. Die Organisatoren hatten dem Ansturm der vorhergehenden Jahre Rechnung getragen und die die Kreuzung Schaafenstraße/Mauritiuswall für diesen Abend vom Ordnungsamt für den Autoverkehr sperren lassen. Aufgrund der guten Stimmung und des günstigen Wetters fanden sich eine Woche später, zwei Nächte vor der Parade, erneut mehrere tausend Besucher ein, sodass der Straßenverkehr auch ohne städtisches Zutun zum Erliegen kam und die Durchfahrt bis in die frühen Morgenstunden unpassierbar blieb. Christopher Street Day | Interviews | 47 Interviews Interview mit Reinhard Klenke, Mai 2006 Wie hat Dir der CSD 2005 gefallen? Mir persönlich hat der CSD 2005 gut gefallen, weil ich in manchen Bereichen Anklänge an die Ursprungsidee des CSD wiedergefunden habe. Das konnte man ganz konkret an den vielen Fußgruppen und kleinen Vereinen festmachen. Anders als in den vergangenen Jahren war die Parade nicht so sehr von den großen Firmen dominiert. Das war so ein bisschen back to the roots. Also weniger Karneval im Sommer? Wir haben ja in der Anfangszeit, als es darum ging, den CSD für Köln quasi neu zu erfinden, durchaus in allen möglichen Bereichen Ideenklau betrieben. Einer davon war sicherlich der Kölner Karneval. Wir haben dabei ganz bewusst bestehende Traditionen aufgegriffen. Das, was mit dem Kölner Karneval verbunden wird, der ja ursprünglich auch eine politische Funktion hatte, wollten wir in der Parade übernehmen. Es sollte auch Spaß machen und nicht mehr so eine todernste Geschichte sein, wie die ersten CSD-Demonstrationen. Wir wollten eine politische Aussage mit einer phantasievollen und auch witzigen Form verbinden. Das war unserer Ursprungsidee. Der CSD greift also in Köln auf bestehende Brauchmuster zurück? Es gab ja als Vorgänger einen NRW-CSD, der in verschiedenen Städten stattfand. An der letzten Veranstaltung gegen Ende der Achtziger Jahre haben etwa 300 Leute teilgenommen. Das war eine wenig erfreuliche Veranstaltung. Diese Gay Freedom Days hatten einen viel stärkeren Demonstrationscharakter, die Schwulen- und Lesbenbewegung kam ja letztendlich aus der Studenten- und der Frauenbewegung. Man hat den Begriff Parade, anders als in den USA, hierzulande ganz bewusst vermieden. Es handelte sich um eine für Deutschland typische Demonstration. Es gab auch keine Straßenfeste, sondern man ging durch eine Stadt, demonstrierte und ging wieder auseinander. Dieser Demonstrationscharakter hatte sich festgefahren. Der politische Charakter sollte erhalten bleiben, wir wollten hier nichts Unpolitisches machen. Nur war uns die Verbindung mit Lebensfreude sehr wichtig. Unsere Idee war daher, lokale Identität aufzugreifen und als lokales Ereignis anzubieten. Das machte den Charme der Anfangsjahre aus. Die Mottos der ersten Veranstaltungen wie Jot Vründe ston zusamme und Mer fiere us un Kölle hatten einen ausdrücklich kölschen Hintergrund. Auch beim Straßenfest haben wir uns an den Festtraditionen hier in den Veedels orientiert. Das Konzept wurde angenommen und hatte großen Erfolg. Innerhalb weniger Jahre sind die Besucherzahlen von zunächst zweitausend auf zwanzig-, dreißigtausend und dann immer weiter angestiegen. Für mich liegt das Erfolgsrezept in Köln in diesen Bemühungen um einen Lokalkolorit. Viele Lesben und Schwule hier sind keine Kölner und haben sich so ein Stück Heimat schaffen können. Das Konzept hat ja dann auch in anderen Städten Anklang gefunden. Welche Rolle spielte AIDS bei der Etablierung des Kölner CSD? Ich glaube, diese Entwicklung wäre ohne die AIDS-Krise nicht möglich gewesen. Die Schwulenbewegung war zu dieser Zeit noch sehr stark studentisch geprägt und durch diese Auseinandersetzung mit der AIDS-Problematik sind viel weitere Kreise aus bürgerlichen Zusammenhängen an die Lesben- und Schwulenbewegungen herangeführt worden. Viele wurden durch AIDS zwangsgeoutet. Eine Parade ermöglichte unmittelbaren Zugang und war weniger hochschwellig als die Demonstrationen der Vergangenheit. In den ersten Jahren übernahmen die beiden AIDS-Hilfen NRW und Köln die Organisation des CSD. Es ging um ein Signal in die eigene Szene hinein, gegen die Mutlosigkeit und die Untergangsstimmung, die immer weiter um sich griff. Zu dieser Zeit kam es tatsächlich zu einem Kneipensterben in der schwulen Szene. Alles war auf Rückzug programmiert und dem wollten wir etwas entgegensetzen. Wir wollten nach Innen wieder Mut geben, mobilisieren, deutlich machen, dass das Leben lebenswert ist. Wir haben eine Zukunftswerkstatt veranstaltet, weil wir dachten, dass man der ganzen Trauer etwas Neues entgegensetzen muss, eine lebensbejahende Geschichte. In dieser Werkstatt haben wir alle möglichen Alltagswelten – Expertenwelten Band 14 | www.schwules-netzwerk.de Wir wollten nach Innen wieder Mut geben, mobilisieren, deutlich machen, dass das Leben lebenswert ist. 48 | Christopher Street Day | Interviews Projekte gesammelt. Eine Idee war, die in den USA so erfolgreichen parades nach Deutschland zu holen und hier in Verbindung mit einem Straßenfest umzusetzen. War der Kölner CSD von Anfang an eine Erfolgsgeschichte? Wir haben den ersten CSD zusammen mit den Wirten der Kneipen in der Stefanstraße gemacht. Die glaubten zunächst einmal nicht an einen Erfolg der Veranstaltung und hatten beim Ordern der Getränke nicht mit so einem Massenansturm gerechnet. Ich selbst war im ersten Jahr davon überzeugt, dass ein paar tausend Leute kommen würden. Mit der rasanten Entwicklung der Jahre danach hatte ich allerdings auch nicht gerechnet. Es gab im ersten Jahr nur drei oder vier Wagen. Alles war noch sehr bemüht. Wir hatten einen merkwürdigen Paradeweg vom Alter Markt aus durch die Altstadt an den Touristenlokalen vorbei. Die Parade zog durch die Außengastronomie hindurch. Das war für alle Beteiligten eine Begegnung der dritten Art. Es war halt ein Versuch. Als wir am Alter Markt losgingen, waren viele sich nicht ganz sicher, ob sie mitgehen sollten, oder nicht. Als der Kopfwagen losfuhr haben sich dann immer mehr Leute eingereiht. Die damalige stellvertretende Bürgermeisterin Canisius hat dann noch so ein aufmunterndes Gedicht zur Eröffnung der Parade vorgetragen. Die Stadt hat uns ansonsten zunächst nicht sonderlich euphorisch unterstützt. Eine Delegation von uns ist damals von Oberbürgermeister Burger empfangen worden. Als der uns verabschiedete hat er, um den ganzen nun ja nicht zuviel Bedeutung zu geben, gesagt: „Ja gut, ich hätte natürlich auch die Zeugen Jehovas empfangen, wenn die um einen Gesprächstermin gebeten hätten. Und nochmal, damit sie’s wissen – wieviel sind sie denn überhaupt?“ Für mich persönlich war das eine Herabsetzung. Gleichzeitig war es aber auch ein Ansporn, möglichst viele Leute für die Parade und das Straßenfest zu mobilisieren, um solchen Leuten zu zeigen, dass wir mehr als nur 50 Schwule und Lesben in dieser Stadt sind. Beim zweiten CSD wussten wir am Freitag noch nicht, ob die Stadt das Straßenfest genehmigen würde. Das Verfahren wurde bis zum letzten Moment herausgezögert. Es gab auch Anwohner, die versucht haben, das Straßenfest vom Verwaltungsgericht verbieten zu lassen. Erst im letzten Moment konnten diese Klagen abgewendet werden. Ich glaube, wenn das Straßenfest verboten worden wäre, wären die Leute nicht einfach nach Hause gegangen, dann hätte es wirklich Theater und Randale gegeben. Viele Schwule und auch Lesben hatten wirklich den Eindruck, sie stünden mit dem Rücken an der Wand. Ist der CSD über seine Grenzen hinausgewachsen? 1994 bekam der CSD Dimensionen, die meiner Meinung nach mit unserer ehrenamtlichen Struktur nicht mehr zu stemmen waren. Wir hatten den Neumarkt zugewiesen bekommen, weil die Stadt uns nicht glauben wollte, dass wir einen größeren Standort brauchten. Der Platz war in Nullkommanichts total überfüllt und ringsum ging der Verkehr weiter. Dass da niemand unter die Straßenbahn geraten ist, ist ein Wunder. Darüber hinaus hat der CSD sich leider sehr schnell für kommerzielle Teilnehmer geöffnet. Man konnte als Wirt Mitglied im Verein werden und auf diese Weise sozusagen über die Richtung mitentscheiden. Ich habe immer die Meinung vertreten, dass jemand, der ein vornehmlich finanzielles Interesse hat, nicht über seine Standgebühren beim Straßenfest mitbestimmen darf. Irgendwann sind CSD und Straßenfest zu einem Geschäft geworden, mit dem eine Menge Geld verdient wurde. Wird es in Zukunft nur noch ein großes Regenbogenevent geben, oder wird sich eine Repolitisierung der Paraden durchsetzen können? Das eine schließt das andere nicht aus. Der CSD ist eine große, auch kommerzielle Veranstaltung, das lässt sich nicht mehr zurückdrehen. Ich finde das eigentlich auch nicht falsch. Es gibt auch andere gesellschaftliche Gruppen, die sich ihrer wirtschaftlichen Stärke bewusst sind, das auch nach außen demonstrieren und auch für sich nutzen. Es wird aber auch immer mehr Nischen geben, wo der ursprüngliche Charakter wieder auftaucht und wo auch neues möglich ist. Es werden sich automatisch neuere, andere, lebendigere oder zeitgemäße Formen entwickeln. Christopher Street Day | Interviews | 49 Interviews Interview mit Elfi Scho-Antwerpes, Mai 2007 Wie hat Ihnen der CSD 2006 gefallen? Ich habe ihn als anders empfunden. Er war, im Vergleich zu den vergangenen Jahren, endlich wieder politischer. Man kann sagen: Er hatte eine hochpolitische Aussage. Das hat mir sehr gut gefallen. Ich glaube, dass sich das jetzt fortsetzen wird. Grundsätzlich ist zu sagen: Der CSD hat längst einen festen Platz im Kölner Veranstaltungskalender. Er gehört fest zu Köln. Im Laufe der Jahre hat sich der CSD auch entwickelt: Er ist inzwischen mehr als ein Protest- und Demonstrationstag von Lesben und Schwulen, er ist auch Ausdruck von Selbstbewusstsein und Lebensfreude. Ja, man kann sagen: Die Kölner CSD-Parade ist ein richtiges Highlight. Nicht von ungefähr kommen Besucherinnen und Besucher aus ganz Deutschland und sogar aus dem Ausland zum CSD in unsere Stadt. Insofern ist der CSD auch ein interessanter Wirtschaftsfaktor. Welche Aufgaben hat der CSD Ihrer Meinung nach? Die Hauptaufgabe des CSD besteht für mich darin, deutliche Zeichen zu setzen - gegen Intoleranz und Diskriminierung, für gegenseitigen Respekt und ein friedliches Miteinander. Denn bei allem gesellschaftspolitischen Fortschritt in den vergangenen Jahren ist auch klar: Die Integration von Lesben und Schwulen ist ein ständiger Prozess. Die gesellschaftliche Akzeptanz gleichgeschlechtlicher Lebensstile und ihrer Lebensgemeinschaften muss weiterhin gefördert werden. Hier gilt es fortwährend Bewusstseinsarbeit zu leisten, möglichst viele Köpfe zu erreichen. Und dabei kann eben auch der CSD eine wichtige Rolle spielen – spielt er zum Glück ja auch. Und wenn wir beim Kölner CSD deutlich Flagge zeigen, dann wird das ja auch andernorts wahrgenommen. Insofern hat der CSD eine gewisse Vorbildfunktion für andere Städte, auch im Ausland. Ich denke da zum Beispiel an Polen, Russland und die Türkei. Dort gibt es offenbar noch sehr viel zu tun hinsichtlich der gesellschaftlichen Akzeptanz von Schwulen und Lesben. Deshalb war ich im Juni 2006 auch beim CSD in Warschau. Angesicht der Bedrohung Homosexu- eller in Polen ging es für mich darum, ein Zeichen zu setzen. Das hat mich auch motiviert, noch mehr zu tun. Da war es nur konsequent, auch polnische Politiker auf das Thema anzusprechen. Kattowitz ist ja eine der Partnerstädte von Köln. In einem Gespräch mit dem Stadtoberhaupt habe ich über dieses Thema gesprochen. Er gilt als liberal und ich habe ihm erzählt, wie hier der CSD abläuft. Er konnte sich zum Beispiel überhaupt nicht vorstellen, dass das öffentlich-rechtliche Fernsehen über unsere Parade berichtet. Ich finde, dass wir auch und gerade im zusammenwachsenden Europa enger zusammen stehen müssen. Die Emanzipationsbewegung muss europaweit gestärkt werden. Da müssen wir auch auf den EG-Vertrag pochen, der ausdrücklich die Achtung der Rechte von Schwulen, Lesben, Bisexuellen und Transgender vorschreibt. Aber natürlich müssen wir auch bei uns in Deutschland nach wie vor wachsam sein. Denn in Gesellschaften mit wirtschaftlichen Problemen und Massenarbeitslosigkeit besteht die Gefahr, dass rechtsextreme Kräfte Stimmung gegen gesellschaftliche Minderheiten machen. Menschen mit Migrations-Hintergrund, aber auch Lesben und Schwule müssen da als „Prügelknaben“ herhalten. Das macht mir große Angst. Das dürfen wir als Gesellschaft und Solidaritätsgemeinschaft nicht zulassen! Wehret den Anfängen! Wie oft haben Sie schon am CSD teilgenommen? Eigentlich von Anfang an. Ich erinnere mich noch an das kleine familiäre Straßenfest in der Stephanstraße. Meine Verbindung zum CSD rührt aus meiner langjährigen Arbeit in der AIDS-Hilfe. Seit 2004 bin ich Mitglied des Rates der Stadt Köln und Bürgermeisterin. Aber ich war schon immer ein politischer Mensch und habe mich für gesellschaftliche Minderheiten eingesetzt. Als Kreisvorsitzende des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes trete ich ja auch für Menschen ein, die nicht immer auf der Sonnenseite des Lebens stehen. Das gilt auch für meine Arbeit bei der AIDS-Hilfe. 1991 gab es durchaus noch Widerstand von Seiten der Stadt. Da hat sich viel, viel geändert. Es gibt gelegentlich zwar noch Leute, die bei diesem Thema lächeln oder hämische Bemerkungen machen. Das sollte man nicht durchgehen lassen, da muss man Alltagswelten – Expertenwelten Band 14 | www.schwules-netzwerk.de 50 | Christopher Street Day | Interviews den Mund auf machen. Und das tue ich auch. Und dass sich auch bei der Stadt etwas verändert hat, zeigt sich daran, dass es heute eine „Arbeitsgemeinschaft Lesben, Schwule und Transgender“ gibt. Das hat der Rat beschlossen. Die Arbeitsgemeinschaft ist beim Sozialdezernat angesiedelt und bildet eine Kommunikationsplattform für Politik, Verwaltung sowie den Organisationen, Vereinen und Initiativen der schwul-lesbischen Bewegung in Köln. Sie ist ein wichtiges Instrument, um auf kommunaler Ebene die gesellschaftliche Akzeptanz gleichgeschlechtlicher Lebensstile und Lebensgemeinschaften zu fördern. Für die SPD gehöre ich der Arbeitsgemeinschaft an. Ich finde: Die Einrichtung dieser Arbeitsgemeinschaft ist ein politischer Erfolg. Und das höre ich auch aus der Kölner Community so. Heute liegt das größte Konfliktpotential in der Auseinandersetzung mit der katholischen Kirche. Neulich hat das „Domradio“ eine Sendung über mich und meine Aktivitäten gemacht. Darin habe ich gesagt, dass ich es sehr interessant fände, mit Herrn Kardinal Meisner ein Gespräch zum Thema Homosexualität zu führen. Ein solches Gespräch finde ich heute immer noch interessant. Gibt es für Sie innerhalb der Parade Grenzen, die nicht überschritten werden sollten? Ich glaube, eine gewisse freiwillige Selbstkontrolle, was beispielsweise Nacktheit angeht, wäre hilfreich für die Akzeptanz. Ich bekomme immer wieder zu hören: Muss das denn sein? Ich persönlich habe da kein Problem mit, aber im Hinblick auf Integration wäre es sicherlich hilfreich. Zuviel nackte Haut macht nicht immer den besten Eindruck und man verprellt unter Umständen damit Leute. Es ist im Grunde genommen ein Fest für alle. Die schwule Szene feiert sich, aber es ist ein Fest für alle. Und das ist ja eigentlich das Schöne daran. Ob es dann sein muss, dass sich einzelne in den Vordergrund drängen, ist eine andere Frage. Wenn der KluST vorneweg geht mit der Botschaft, dann geht es um die Botschaft. Dass dann Leute versuchen, mit ihrer Verkleidung ins Blickfeld der Kameras zu kommen, muss auch nicht zwingend sein. Für Sie ist der CSD also ein fester Bestandteil der kulturellen Identität Kölns. Unbedingt. Ich bin ja auch kulturpolitisch engagiert. Und da sage ich: Der CSD ist fester Bestandteil der Kulturstadt Köln. Und das ist auch gut so! Was halten Sie von dem diesjährigen Motto „100 % NRW – Nur mit uns“, das sich gegen die Kürzungen der Landesregierung im Bereich der schwul-lesbischen Selbsthilfe richtet? Ich halte es für absolut wichtig, dass die Leute auf die Straße gehen und die Bevölkerung darauf aufmerksam machen, dass diese Kürzungen kurzsichtig sind. Ich befürchte: Diese Einsparungen werden fatale Folgen haben, Errungenschaften werden verloren gehen. Das können wir uns als Gesellschaft nicht leisten. Werden Sie 2007 beim CSD dabei sein? Ja klar! Und wenn wir beim Kölner CSD deutlich Flagge zeigen, dann wird das ja auch andernorts wahrgenommen. Christopher Street Day | Interviews | 51 Interviews Interview mit Volker Beck, Juli 2006 Wie hast Du den letzten CSD 2005 hier in Köln erlebt? Der CSD 2005 stand für mich im Zeichen des Bundestagswahlkampfes. Neben dem Feiern war ich bei Parade und Straßenfest daher auch etwas in Sachen Überzeugungsarbeit unterwegs. Insgesamt hätten die Paraden der letzten Jahre auch noch etwas politischer sein können, ohne das man in punkto Fun Abstriche machen müsste. Es gab 2005 das Motto „lebenslang liebenswürdig“, aber das Thema Alter hat die Parade und das Programm auf der Hauptbühne nicht wahnsinnig beeinflusst. CSD heißt auch trinken, feiern und tanzen. Das sollte uns niemand vermiesen. Aber ich frage mich immer, ob alle überhaupt noch mitkriegen, wie sich bestimmte politische Lager zum Thema Lesben und Schwule verhalten und dass noch ein ganzes Stück zum Glück fehlt. Was hältst Du von großen Firmen als Sponsoren des CSD? Sponsoring ist wichtig, ebenso aber die Beachtung ethischer Maßstäbe. Macht beispielsweise ein Unternehmen nur am CSD bei der Zielgruppe Schönwetter oder transportiert es die Botschaft „Diversity“ auch in seiner allgemeinen Geschäftspolitik weiter? Wenn es da eine Konsistenz gibt, finde ich es OK. Die Forderung nach Konsistenz gilt auch für die globale Geschäftspolitik. Es ist wichtig, große Firmen für den CSD in Deutschland zu gewinnen, aber es darf nicht sein, dass sie gleichzeitig womöglich in den USA die religiöse Rechte in ihrer antihomosexuellen Politik finanziell unterstützen. Wie sieht es aus mit der Kommerzialisierung des Straßenfests? Einiges, was an den Ständen angeboten wird, finde ich schon etwas befremdlich. Manche Angebote haben mit Lesben und Schwulen recht wenig zu tun. Es fehlt nur noch, dass da an der Ecke einer einen Gemüsehobel anpreist. Man muss aufpassen, dass der Charakter eines solchen Festes nicht beliebig wird. Denn wenn das Besondere einmal weg ist, dann ist das auch das Ende der Erfolgsgeschichte. Deshalb muss man immer wieder an der Identität arbeiten: Am Programm und auch an den Forderungen, die man an unsere Regierung und diese Welt stellt. Was ist politisch notwendig? Wo drückt der Schuh am stärksten? In welchen allgemeingesellschaftlichen Debatten wie der Familienpolitik müssen und können wir als Lesben und Schwule mitmischen? Was verlangen wir von uns selbst als Community, wo wollen wir rücksichtsvoller oder integrativer werden? Wenn man solche Fragen vernachlässigt, kann das zwar noch eine Reihe von Jahren gut gehen, aber dann wird es ein Bierfest wie jedes andere auch. Was ist am Kölner CSD besonders „kölsch“? In Köln ist der CSD sicher besonders fröhlich und er ist besonders integriert in das Leben der Stadt. In Berlin sind die Schwulen und Lesben auch auf ihre Art und Weise fröhlich und ausgelassen, aber die Stadt reagiert darauf weniger. In Köln denken sich auch die Heteros: „Ach der Zoch kütt, den schauen wir uns mal an, dann rollen wir unser Kölsch-Fässchen vor die Tür, nehmen unseren Gettoblaster und feiern einfach mit.“ In Berlin erhält die Parade zwar ebenfalls viel Beifall vom Straßenrand, aber der Preuße bleibt doch etwas reservierter in der Zuschauerrolle. Da wird die Distanz nicht wirklich überwunden, während man hier eigentlich das Gefühl hat, die Stadt nimmt teil und freut sich mit. Ist der CSD nur ein ökonomischer Faktor für Köln? Der CSD ist auch über den Tag hinaus ökonomisch von Bedeutung ist. Köln hat ein schwulen- und lesbenfreundliches Image. Das bringt auch an den anderen Wochenenden Touristen und Geld in die Stadt. Wenn man nicht immer nach Amsterdam pilgern und mal was anderes erleben will, dann fährt man auch mal nach Köln. Das Ökonomische ist wichtig, um Veranstaltungen dieser Größe überhaupt zu stemmen, aber keineswegs die Hauptsache. Das Ideelle zählt. Der CSD lebt von den vielen ehrenamtlich Engagierten. Die kommen aus den unterschiedlichsten Organisationen. Ohne inhaltliche Anliegen gäbe es keine Motivation für solches Engagement. Auch wenn Parade und Straßenfest nicht bierernst daherkommen: Kern des CSD ist eine Demonstration für Selbstbestimmung, Bürgerrechte und Vielfalt der Lebensweisen. Ein CSD auf rein kommerzieller Basis würde nicht funktionieren. Dann ginge etwas verloren und das spüren auch die Leute, die in erster Linie hierher kommen, um ein Wochenende Fun zu haben und vielleicht jemanden abzuschleppen. Auch die hätten dann irgendwie das Gefühl, dass dem Ganzen die Seele fehlt. Alltagswelten – Expertenwelten Band 14 | www.schwules-netzwerk.de 52 | Christopher Street Day | Interviews Interviews Interview mit Tomasz Baczkowski, Februar 2007 Wie ist der CSD in Polen entstanden? Einen CSD gibt es bei uns seit inzwischen sechs Jahren. Die ersten Versuche waren spontane, politische Demos. Bei der ersten im Jahr 2000 gab es sechs Teilnehmer. Die standen mit verdecktem Gesicht auf dem Marktplatz in Warschau und hatten Zettel in der Hand auf denen beispielsweise stand: „Ich bin Lehrer und trotzdem schwul.“ Die zweite Demo war mit 300 Leuten schon sehr viel größer und die dritte mit etwa 1.000 Menschen ein richtiger Erfolg. Aber dann hat sich die politische Landschaft in Polen verändert und Homophobie wurde zur offiziellen, staatlichen Politik. Das haben wir zum Anlass genommen, uns besser zu organisieren und mehr Lobby-Arbeit zu machen. Die Stiftung für Gleichberechtigung, die den CSD in Warschau organisiert, ist entstanden, weil den beiden schwul-lesbischen Organisationen in Polen logistische oder finanzielle Kompetenz fehlte. Ich habe in Deutschland studiert und war hier jahrelang in der Schwulenbewegung aktiv. Aber als Pole zieht es mich nach Polen und ich wollte meine Erfahrungen hier nutzen. Ich habe dann die anderen Organisationen überzeugen können, gemeinsam einen Dachverband zu formen. Das hat geklappt. Vor drei Jahren wurde unsere Stiftung gegründet. Jetzt sind wir sieben Leute, die das hauptberuflich machen und etwa 30 bis 40 Freiwillige. Wie läuft der CSD in Warschau ab? 2006 hat der CSD am 10. Juni stattgefunden. Wir melden die Parade als politische Demonstration an, was viel komplizierter ist als in Deutschland. Eine Demonstration kann man erst einen Monat vorher anmelden. Das ist sehr knapp. Eine mögliche Absage kann, ganz legal, auch erst einen Tag vorher kommen. Die Demo vor zwei Jahren wurde ganz verboten, wir haben sie aber trotzdem durchgeführt. Wegen der kurzen Fristen haben wir im letzten Jahr beim Obersten Verwaltungsgericht geklagt und Recht bekommen. Auch eine zweite Klage beim Verfassungsgericht zur Frage, ob man grundsätzlich eine solche Demo verbieten kann, haben wir gewonnen. Ein drittes Verfahren beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, in dem es um das Verbot von 2005 geht, läuft noch. Da sind wir guter Hoffnung. Auch die Route können wir nicht selbst bestimmen, wir können lediglich einen Vorschlag machen und dann verhandeln. Am liebsten würde man uns irgendwo an den Stadtrand schicken, darum ist die Paradenstrecke immer ein Kompromiss. Ich weiß noch nicht, wo wir in diesem Jahr lang gehen werden. Im letzten Jahr haben wir außerdem keine Erlaubnis für eine Rednerbühne bekommen. Wir haben dann improvisiert und einfach einen der Wagen als Bühne genutzt. Nach zehn Minuten kam dann allerdings ein Polizeihubschrauber, der so tief geflogen ist, dass niemand mehr etwas verstehen konnte. Das sind die Methoden, die gegen uns eingesetzt werden. Organisatorisch war das eine Katastrophe. Nicht, weil wir das nicht konnten, sondern weil wir Steine in den Weg gelegt bekommen haben. In den vergangenen Jahren wurden wir von katholisch-rechts-konservativen Organisationen attackiert und mit Steinen und Eiern beworfen. Dazu kommt noch der politische Druck vom heutigen Staatspräsidenten und dem Premierminister. Es gibt in Polen sehr wenig Organisationen oder Institutionen, die uns gezielt unterstützen. Die linken Parteien, die nicht im Parlament vertreten sind, geben uns moralische oder verbale Unterstützung. Ich hoffe, dass die Politik in Polen kapiert hat, dass die Lesben und Schwulen ein großes Wählerpotential sind, das man nicht so einfach links liegen lassen sollte. Auch das ökonomische Potential muss erst noch entdeckt werden. Bislang hat es in Polen keine kommerziellen Sponsoren bei den CSD-Veranstaltungen gegeben. Auch das liegt an der politischen Lage. Die meisten Firmen wollen sich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen. Sogar die Hersteller von Kondomen wollen bei uns keine Werbung machen. Wie sieht es aus mit Unterstützung? Viele Journalisten betrachten den CSD als politische Demonstration gegen die Kaczynski-Brüder, die schwul-lesbischen Themen sind ihnen eher egal. Künstler und Künstlerinnen nehmen kaum teil. Christopher Street Day | Interviews | 53 Nach zehn Minuten kam dann allerdings ein Polizeihubschrauber, der so tief geflogen ist, dass niemand mehr etwas verstehen konnte. Sie haben Angst, dass sie, wenn sie sich outen oder zu uns stehen, keine Aufträge mehr bekommen. Vor zwei Jahren gab es eine komische Geschichte. Die polnische Sängerin Alicja Majewska ist hier so etwas wie für Deutschland Hildegard Knef. Eine schwule Ikone. Sie ist bei uns aufgetreten, obwohl sie am selben Abend ein Konzert mit patriotischen Songs für Kaczynski gegeben hat. Direkt von diesem Konzert aus ist sie in ein Taxi gestiegen und zu uns gekommen, um bei uns drei Lieder zu singen. Die ausländische Beteiligung war im letzten Jahr sehr hoch. Wir schätzen, dass mindestens tausend Deutsche dabei waren. Am Anfang hatte ich Angst, dass unsere schwierige gemeinsame Geschichte wieder hochkommen würde, aber das war Gott sei Dank nicht der Fall. In Deutschland gibt es auch Kritik an der deutschen Beteiligung. Das bringt unglaublich viel. Viele polnische Schwulen und Lesben haben Angst teilzunehmen, weil sie die Bilder von fliegenden Steinen und Flaschen im Kopf haben. Deutsche Teilnehmer und Teilnehmerinnen sind eine gute Motivation für die polnische Polizei und die polnischen Behörden, internationale Skandale zu vermeiden. Egal wie schlecht diese Regierung ist, so was wissen die schon zu vermeiden. Vor zwei Jahren tauchte die damalige stellvertretende Premierministerin, die gleichzeitig auch Regierungsbeauftragte für Gleichstellung bei der Auftaktveranstaltung auf. Sie wusste, dass die Parade verboten worden war, aber sie wollte sich trotzdem der Form halber zeigen. Nach ein bisschen politischem Blabla wollte sie sofort wieder verschwinden. Ich habe damals zu Claudia Roth gesagt: „Du nimmst die jetzt unter den Arm und wir gehen spazieren.“ Weil Claudia sie nicht mehr losgelassen hat und weil die Kameras immer dabei waren, musste sie die ganze Route mitgehen. Das war für uns ein voller Erfolg. Das Interesse aus anderen Ländern war bislang sehr groß. Jetzt habe ich Angst, dass alle denken, dass es in Polen ja schon klappen würde und man sich deshalb auf andere Länder konzentrieren kann. Natürlich gibt es Länder, wo es noch schlimmer ist, wie beispielsweise in Russland oder im Baltikum. Aber auch für Polen sollten wir noch etwa zwei Jahre abwarten. Trotz der politischen Bedenken bin ich da optimistisch – in zwei Jahren haben wir vielleicht schon zwanzig- bis dreißigtausend Leute auf der Straße. Wie siehst Du die Zukunft der polnischen CSD? Ganz allgemein müssen wir Strategien entwickeln. Wir sind in Polen noch in der Phase, in der wir ums Überleben kämpfen. Ich sehe auch über die momentane politische Lage hinaus sehr viele Probleme. Niemand kümmert sich beispielsweise um ältere Schwule und Lesben. Die haben im Kommunismus gelebt und hatten überhaupt keine Kneipen. Und jetzt stehen sie am Rande, weil sie zu alt für Kneipe oder Disko sind und sitzen Zuhause. Die wollen wir auch nicht alleine lassen. Außerdem müssen wir die Jüngsten aktivieren. Es soll ja schließlich weitergehen. Ich hoffe, dass wir größer werden, aber meine größte Hoffnung ist eigentlich, dass das normaler wird. Unser Ziel ist, dass der CSD als ein buntes Fest gesehen wird, nicht mehr und nicht weniger. Alltagswelten – Expertenwelten Band 14 | www.schwules-netzwerk.de 54 | Christopher Street Day | Literatur Literatur zum Thema schwul-lesbische Szenen in Köln Kristof BALSER, Mario KRAMP, Jürgen MÜLLER, Joanna GOTZMANN (Hgg.): Himmel und Hölle. Das Leben der Kölner Homosexuellen 1945 – 1969. Köln 1994 Gerhard GRÜHN: Troubles in Paradise. 30 Jahre Schwulen- und Lesbenzentren in Köln. Ausstellungskatalog, Köln 2005 Christopher Street und Pride Paraden Martin DUBERMAN: Stonewall. New York 1993 Detlev GRUMBACH (Hg.): Over the Rainbow. Ein Lesebuch zum Christopher Street Day. Hamburg 2001 Richard K. HERREL: The Symbolic Strategies of Chicago’s Gay and Lesbian Pride Day Parade. In: Gilbert HERDT (Hg.): Gay Culture in America. Essays from the field. Boston 1992, S. 225-252 Lynda JOHNSTON: Queering Tourism : Paradoxical Performances at Gay Pride Parades. London 2005 Queer Theory Annamarie JAGOSE: Queer Theory – Eine Einführung. Berlin 2001 Andreas KRAß (Hg.): Queer Denken. Queer Studies. Frankfurt/Main 2003 Christopher Street Day | 55 Impressum Abbildungsverzeichnis Christopher Street Day – Der CSD im Spannungsfeld zwischen schwul-lesbischer Emanzi- Nicht aufgeführte Abbildungen: pation und kommerzieller Spaßkultur Dokumentation des CSD in Köln zwischen 1992-2005 Herausgeber Quelle: Viktor Vahlefeld und Volker Glasow, Schwules Netzwerk NRW e.V. vvg-koeln Fotodokumentationen, www. in Zusammenarbeit mit der vvg-koeln.de LAG Lesben in NRW e.V. Titelseite Mitte V.i.S.d.P. Picketing vor dem Weißen Haus, Alexander Popp Washington DC, 29. Mai 1965 Quelle: Martin Duberman: Autor Stonewall. New York 1993 Johannes Jakob Arens S. 4 Gestaltung und Produktion Erste gemeinsame Demonstration aller Kai Kullen deutschen Schwulengruppen, Münster design-distillery.de 1972 Quelle: Monika HINGST u. a. (Hgg.): gefördert aus Mitteln des Ministeriums für Goodbye to Berlin. 100 Jahre SchwulenGenerationen, Familie, Frauen und Integration bewegung. Ausstellungskatalog, des Landes Nordrhein Westfalen Berlin 1997, S. 279 Kontakt Schwules Netzwerk NRW e.V. Lindenstraße 20 50674 Köln [email protected] www.schwules-netzwerk.de LAG Lesben in NRW e.V. Ackerstraße 144 40233 Düsseldorf [email protected] www.lesben-nrw.de Stand Februar 2007 S. 5 Amsterdam Pride 2006, Prinsengracht, 6. August 2005 Quelle: Autor S. 7 Fred McDarrah: Stonewall Inn im Juni 1969 Quelle: http://www.villagevoice.com/ specials/0543,50th6675,69195,31.html S. 7 DVD-Hülle des Spielfilms von Nigel Finch Privatbesitz S. 8 Fred McDarrah: Stonewall Inn im Juni 1969 Quelle: http://www.villagevoice.com/ specials/0543,50th6675,69195,31.html S. 12 Besucherin der CSD-Parade, 3. Juli 2005 Quelle: Autor S. 11 Quelle: photocase.com S. 16 Erste gemeinsame Demonstration aller deutschen Schwulengruppen, Münster 1972 Quelle: Monika HINGST u. a. (Hgg.): Goodbye to Berlin. 100 Jahre Schwulenbewegung. Ausstellungskatalog, Berlin 1997, S. 279 S. 33 Plakat der Stadt Köln zum CSD 2006 Quelle: Autor S. 34 Schöckelgarde Köln Quelle: Brian Dinjus, Schöckelgarde S. 41 Kai Kullen S. 47 Quelle: Aidsstiftung Köln S. 52 CSD 2005 in Warschau Quelle: LSVD-Zeitschrift respekt! (2/2005) Foto: A. Zinn S. 46 Spontanes Straßenfest Ecke Schaafenstraße/Mauritiuswall, 14. Juli 2006 Quelle: Autor S. 9 Christopher Street Liberation Day, New York, 18. Juni 1970 Quelle: Martin Duberman: Stonewall. New York 1993 S. 10 Gay Freedom Day in Köln, 1984 Quelle: glf Köln Journal, Juni/Juli 1984 Alltagswelten – Expertenwelten Band 14 | www.schwules-netzwerk.de www.schwules-netzwerk.de
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