PA N O R A M A Interaktion von Arzt und Patient Die personale Medizin wiederentdecken Der Begriff einer personalen Medizin wurde in der Neuzeit wohl zuerst von dem Schweizer Hausarzt Paul Tournier mit seinem 1940 erschienenen Werk „Medicine de la personne“ erwähnt. Die antike und auch die mittelalterliche Medizin war immer eine, die sich auf Personen bezog. Mit der Aufklärung und einer zunehmend naturwissenschaftlichen Betrachtung biologischer Vorgänge richtete sich der Blick dann mehr auf immer detailliertere Einzelvorgänge und deren Beeinflussbarkeit. Eine reduktionistische Verengung auf die analysierbare Körperlichkeit war die Folge. Auch der Arzt als Person droht in einem industrialisierten Gesundheitsbetrieb unterzugehen. Ein neuer Blick auf die ganze Person, sowohl die des Patienten als auch die des Arztes, erscheint unabweisbar. Wer als Hausarzt seinen Arbeitsalltag kritisch beobachtet und auf sein Fühlen achtet, wird auf ein merkwürdiges Phänomen stoßen: Im Laufe der Erarbeitung der Vorgeschichte und der Erhebung von Befunden löst sich das Kranksein vom Patienten ab und wird in ein anerkanntes Raster von Krankheiten eingeordnet. Menschen suchen die Sprechstunde mit einem persönlichen Anliegen auf. Schmerzen, Schwäche, Müdigkeit, beunruhigende Beobachtungen im Zusammenhang mit ihrer Körperlichkeit, starke Affekte wie Enttäuschung, Wut oder Trauer oder die Wahrnehmung von Rückzug und Vereinsamung können Anlässe zum Arztbesuch bieten. Der Arzt hört sich die Beschwerden an und beginnt gleichzeitig schon zu untersuchen. Er bemerkt Tonfall und Stimmlage, Körperhaltung und Affekte des Patienten, er nimmt das Hautkolorit wahr, sieht ein feines Zittern der Hände, bemerkt Gerüche und – bei der ersten Berührung des Patienten – seine Haut- 60 Der Allgemeinarzt 10/2012 temperatur, Feuchtigkeit oder Trockenheit der Haut. Weitere Untersuchungen führen zu einer Ausweitung seiner „Befunde“. Von der Diagnose zur Prognose Schon vom ersten Moment an beginnt auf einer objektivierenden Ebene der Assoziation der Versuch, den Bericht über die Symptome und die sich mehrenden Befunde in ein vom Arzt gelerntes Raster von Krankheiten einzusortieren. Die sinnliche Wahrnehmung des Arztes muss oft durch morphologische, biochemische und physikalische Zusatzuntersuchungen ergänzt werden. Ziel des Vorgehens ist die Diagnose, das erkennende Durchdringen des Krankheitsbildes. Das ist dadurch gekennzeichnet, dass die Ursache und der Ablauf des Krankwerdens erkannt werden. Auf der Ebene der Objektivierung lässt sich eine gesicherte und bewährte Therapie ableiten und der Arzt kann dem Patienten mitteilen, was auf ihn zukommen wird, die Prognose. Nun hat sich aber – vielleicht unbemerkt – der eingangs beschriebene Prozess vollzogen: Das Kranksein löste sich vom Kranken und bewegte sich auf eine Abstraktionsebene des Regelablaufes einer Krankheit zu. Der Arzt ist gedanklich in der Krankheitslehre, der Nosologie, angekommen. Hier gilt es, aus einer Vielzahl von Krankheitsverläufen das Regelhafte abzuleiten, von Komplikationen zu wissen, vielleicht Unterabteilungen der Krankheit zu kennen, sie von Ähnlichem abzugrenzen, Unachtsamkeit zu vermeiden. Schon ist man dann auch bei der Erkenntnis über diagnostische Prozeduren und wirksame und gesicherte Therapien, der externen Evidenz, angekommen und bei deren systematischer Aufarbeitung in Leitlinien. Die beteiligten Personen im Blick behalten Jetzt fällt auf, dass die Person Patient und die Person Arzt irgendwie verloren gegangen sind. Gerade im hausärztlichen Handeln lassen sich Beschwerden oft nicht Krankheiten zuordnen. Viele Beratungsanlässe gehören dem Bereich der Lebensführung an. Sorgen und Not mit dem Partner, mit den Kindern, am Arbeitsplatz äußern sich in Herzklopfen oder Bluthochdruck oder führen zu Fehlernährung, zum Konsum von Alkohol oder anderen Rauschmitteln. In der klassischen griechischen Medizin waren solche Lebensführungsfragen unter dem Begriff der Diätetik subsumiert. Sie waren damals und werden heute wieder zentraler Gegenstand ärztlichen Handelns: 2008 wurde das International College of Person Centered Medicine etabliert (www. personcenteredmedicine.org). Der Arzt erlebt sich jetzt nicht mehr als unbeteiligter Beobachter, sondern er und sein Patient werden füreinander Lebenswelt. Nach Jacob und Thure von Uexküll kann ein Lebewesen nur in einer „passenden“ Umwelt (über-)leben. Arzt und Patient sind miteinander in „Situationskreisen“ verknüpft, der Arzt wird zum Teilnehmer des Patientenlebens. Diese Verknüpfung kommt besonders in der hausärztlichen Medizin zum Tragen. Oft verbindet ein historisches Gewordensein den Patienten und sein soziales Umfeld mit der jeweiligen hausärztlichen Praxis. Aus der Plazeboforschung wissen wir, dass die gesamte Umgebung, die Zuversicht, die Haltung, Zuwendung, Verlässlichkeit und Wahrhaftigkeit, ein Miteinander in Resonanz sich günstig oder ungünstig auf die Wirksamkeit einer ärztlichen Intervention auswirken. Diese wieder kann in einer Berührung, einem chirurgischen Eingriff, einem Gespräch oder einem Medikament bestehen. Interventionen aus dem Bereich der komplementären, alternativen Medizin können hier in ihrer Wirkung verstanden werden. „Innerhalb“ des Systems „Patient“ verändern die Interventionen das In-der-Welt-Sein (M. Heidegger) oder Bei-den-Menschen-Sein (H.G. Gadamer) des Lebewesens bis „hinunter“ auf molekulare Signal-Transduktionssysteme und bis „hinauf“ zum sozialen Miteinander (vertikale Kybernetiken). www.allgemeinarzt-online.de PA N O R A M A Mikroszenenprotokolle beschreiben ArztPatienten-Beziehung Eine Systematisierung dieser Beobachtungen würde ein neues Set von Abstraktionen schaffen, das nun nicht mehr auf einem naturwissenschaftlichen Paradigma beruht, sondern die beteiligten Personen und ihr Handeln zum Gegenstand hat. Ihr historisches Gewordensein und ihre Absichten und Ziele, ihre Intentionalität, wären zu studieren. Methodisch sind dafür Anleihen aus der Geisteswissenschaft, der Psychotherapieforschung, der Hermeneutik und der Philosophie allgemein nötig. Letzteres u. a. deswegen, weil der Medizinethiker Giovanni Maio feststellt: „Handeln am Menschen setzt moralische Urteile voraus.“ [2] Den Menschen ins Zentrum rücken Diese neue Art der Beobachtung, die allerdings tradierte Arztbilder der Medizingeschichte wiederentdeckt, bietet einen umfassenderen Blick auf das Fach Allgemeinmedizin. Nicht mehr nur das Behandeln von Krankheiten, sondern der Umgang mit dem Kranken steht im Mittelpunkt. www.allgemeinarzt-online.de Ein krankheitszentriertes ärztliches Konzept wird durch ein menschenzentriertes erweitert. So bieten sich Chancen, besonders Menschen mit chronischen Erkrankungen zur Seite stehen zu können. Der Aspekt der Salutogenese hebt dann darauf ab, wie sie darin unterstützt werden können, ihr Leben mit und trotz Krankheit ihren Wünschen und Bedürfnissen folgend zu gestalten. Konflikte mit einer risikozentrierten ärztlichen Haltung sind dabei wohl unvermeidlich und bedürfen des Dialoges mit dem Patienten. Doch nicht nur die Patienten profitieren von dieser neuen Wahrnehmung des Hausarztes als des „chronischen Arztes“ [3]. Die bisherigen HAMLET-Kolloquien zeigen, dass der beschriebene personale Ansatz mit einer hohen Berufszufriedenheit der Ärzte verbunden ist. Eine Allgemeinmedizin, die in dieser Weise über die Behandlung von Krankheiten hinausreicht und sich einer personalen Begleitung des Patienten verschreibt, wo diese nachgefragt wird, könnte für Studierende und junge Ärzte ein attraktives berufliches Lebensziel darstellen. Dr. med. Gernot Rüter Facharzt für Allgemeinmedizin 71726 Benningen Gewidmet meinem Vater, Dr. med. Bodo Rüter († 2006), zum 100. Geburtstag. 1. Gisela Volck, Vera Kalitzkus: Passung im Minutentakt – die Komplexität einer Hausarztpraxis. Z Allg Med 2012; 88(3) 105–11 2. Giovanni Maio: „Mittelpunkt Mensch“, Schattauer-Verlag 2012 3. Klaus Dörner: „Der gute Arzt“, Schattauer-Verlag 2001 Der Allgemeinarzt 10/2012 Mauritius Kybernetiken „zweiter Ordnung“ entstehen, wenn der Arzt sich selbst als Person in Beziehung mit der Person Patient beobachtet und sein Handeln und dessen Wirkungen kritisch analysiert. Für die hausärztliche Praxis wurde dafür neuerdings das Instrument des „Mikroszenenprotokolls“ beschrieben: Dabei handelt es sich um eine zeitnahe Dokumentation der vielfältigen Interaktionsmuster unter Einbeziehung vorhandener Vorinformationen, die kleine Begegnungen in der Sprechstunde so ablaufen lassen, wie sie ablaufen. Mikroszenen beschreiben zum Beispiel Sequenzen aus einem Sprechstundenzeitraum, oder es können fortlaufend Begegnungen in der Tätigkeit registriert werden, die unter einem vorgewählten Thema stehen [1]. Die Mikroszenenmethodik wurde auch in einem Selbstreflexionsprojekt mit der Bezeichnung HAMLET aufgegriffen (Hausarztmedizin als lebenseffektive Therapie). 61
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