Was den Westen zusammenhält - Alfred Herrhausen Gesellschaft

Was den Westen zusammenhält
Von Heinrich August Winkler
I.
Zu den Schlagworten unserer Zeit gehören die „Werte Europas“ oder die „europäischen Werte“, auf
die wir uns nicht nur in feierlicher Rede so gern berufen. Doch der Begriff verdient es, hinterfragt zu
werden. Denn im geographischen Sinn hat Europa nie eine Wertegemeinschaft gebildet. Präziser ist
der Begriff „westliche Werte“. Den Unterschied mag ein Zitat des Wiener Historikers Gerald Stourzh
verdeutlichen: „Europa ist nicht (allein) der Westen. Der Westen geht über Europa hinaus. Aber
Europa geht auch über den Westen hinaus.“
Der Westen: das ist zunächst einmal jener Teil Europas, der im Mittelalter (und in manchen Ländern
lange darüber hinaus) sein geistliches Zentrum in Rom hatte, also zur Westkirche gehörte. Nur dieser
Teil Europas hatte die beiden vormodernen Formen der Gewaltenteilung, die ansatzweise Trennung
von geistlicher und weltlicher Gewalt sowie die von fürstlicher und ständischer Gewalt, erlebt, und nur
hier hatten, wenn auch nicht überall mit gleicher Intensität, die spätmittelalterlichen und
frühneuzeitlichen Emanzipationsprozesse der Renaissance und des Humanismus, der Reformation und
der Aufklärung stattgefunden. Im Bereich der Ostkirche, von Byzanz und später Moskau, gab es zwar
nicht das, was man „Cäsaropapismus“ genannt hat, eine personelle Einheit von geistlicher und
weltlicher Gewalt, wohl aber eine Unterordnung der ersten unter die letztere. Dem orthodoxen Osten
blieb fremd, was der Historiker Otto Hintze 1931 den „dualistischen Geist“ des Abendlands genannt
hat: eine Keimzelle des Individualismus und Pluralismus und damit der westlichen Freiheitstradition.
Die mittelalterlichen Gewaltenteilungen bildeten eine Vorstufe und Vorbedingung der modernen
Gewaltenteilung, der Trennung von gesetzgebender, vollziehender und rechtsprechender Gewalt: einer
Unterscheidung, die ihren klassischen Ausdruck 1748 in Montesquieus „Geist der Gesetze“ fand.
Knapp drei Jahrzehnte später, am 12. Juni 1776, drei Wochen vor der amerikanischen
Unabhängigkeitserklärung, wurde auf britischem Kolonialboden in Nordamerika, in Gestalt der
Virginia Declaration of Rights, die erste Menschenrechtserklärung verabschiedet.
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Von Amerika wanderte die Idee der unveräußerlichen Menschenrechte wenig später über den
Nordatlantik nach Europa. Der Marquis de Lafayette, der die Amerikaner in ihrem
Unabhängigkeitskampf unterstützt hatte, und der Sonderbotschafter der Vereinigten Staaten in
Frankreich, Thomas Jefferson, der spätere dritte Präsident der USA, ein Mitunterzeichner der Virginia
Declaration of Rights und der Verfasser der amerikanischen Declaration of Independence, hatten
wesentlichen Anteil an den Vorarbeiten zur Déclaration des droits de l’homme et du citoyen, die die
Nationalversammlung des revolutionären Frankreich am 26. August 1789 verabschiedete.
Die Ideen der unveräußerlichen Menschenrechte, der Gewaltenteilung, der Herrschaft des Rechts, der
Volkssouveränität und der repräsentativen Demokratie haben Wurzeln, die weit in die Geschichte
zurückreichen. Eine der wichtigsten Wurzeln, ja wohl die wichtigste überhaupt, war die
Unterscheidung zwischen göttlichen und menschlichen Gesetzen, die auf das Wort von Jesus
zurückgeht: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.“ Diese Antwort auf eine
Fangfrage der Abgesandten der Pharisäer schloß eine Absage an jede Art von Theokratie und
Priesterherrschaft in sich. Die Ausdifferenzierung von göttlicher und irdischer Herrschaft bedeutete
eine Begrenzung und Bestätigung der letzteren: eine Begrenzung, da ihr keine Verfügung über die
Sphäre des Religiösen zugestanden wird; eine Bestätigung, da der weltlichen Gewalt Eigenständigkeit
zukommt. Das war noch nicht die Trennung von geistlicher und weltlicher Gewalt. Aber die
dialektische Antwort von Jesus war doch die Verkündung eines Prinzips, in dessen Logik die
Trennung lag, und mit ihr die Säkularisierung der Welt und die Emanzipation des Menschen.
II.
Die Ideen der beiden atlantischen Revolutionen des späten 18. Jahrhunderts, der Amerikanischen
Revolution von 1776 und der Französischen Revolution von 1789, waren die politische Summe der
Aufklärung. Zusammengenommen bilden sie das, was ich das normative Projekt des Westens nenne.
Es war, salopp gesagt, eine transatlantische Koproduktion. Am Maßstab dieses Projekts mußten sich
fortan alle Staaten messen lassen, die sich zu diesen Ideen bekennen. Meine These ist, daß sich die
Geschichte des alten und des neuen, des europäischen und des überseeischen Westens (zu dem neben
den Vereinigten Staaten und Kanada auch Australien und Neuseeland gehören) zu einem guten Teil
als Geschichte von Kämpfen um die Aneignung oder Verwerfung dieses Projekts beschreiben läßt.
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Es gab europäische Länder, die kulturell zum Westen gehörten und sich doch lange gegen einige der
politischen Konsequenzen der Aufklärung wie die unveräußerlichen Menschenrechte, die
Volkssouveränität und die repräsentative Demokratie, wehrten. Eines dieser Länder war Deutschland,
das erst nach der totalen Niederlage im Zweiten Weltkrieg seine Vorbehalte gegen die politischen
Ideen des Westens aufgab. Auch Italien wurde erst nach 1945 eine parlamentarische Demokratie
westlicher Prägung, Portugal und Spanien erst nach der Überwindung ihrer nationalistischen und
autoritären Diktaturen Mitte der siebziger Jahre. Zu einem vorläufigen Abschluß kam das Ringen um
die Aneignung oder Verwerfung der politischen Ideen von 1776 und 1789 innerhalb des Westens erst
nach den friedlichen Revolutionen von 1989. Durch sie konnte sich jener Teil des alten Okzidents, der
1945 im Gefolge der Beschlüsse von Jalta der sowjetischen Herrschaftssphäre zugeschlagen worden
war, der politischen Kultur des Westens öffnen: eine tiefe Zäsur in der Geschichte Europas – eine der
tiefsten seit der Französischen Revolution 200 Jahre zuvor.
Zu keiner Zeit beschrieb das normative Projekt des Westens die Wirklichkeit des Westens. Zu den
Verfassern der ersten Menschenrechtserklärungen gehörten Sklavenbesitzer. Die aus Schwarzafrika
stammenden Sklaven gehörten wie die indianischen Ureinwohner zu den Gruppen, denen die
Menschenrechte vorenthalten wurden. Was die Bürgerrechte betraf, galt das bis zu einem gewissen
Grad auch für die Frauen und für die Arbeiter. Die Geschichte des Westens läßt sich also auch als eine
Geschichte von Verstößen gegen die eigenen Werte darstellen. Kolonialismus, Imperialismus und
Rassismus bilden einen wesentlichen Teil des westlichen „Sündenregisters“.
Doch die Menschenrechtserklärungen waren klüger als ihre vielfach in männlichen und rassischen
Vorurteilen befangenen Verfasser. Gruppen, die ganz oder teilweise von der Geltung der
Menschenrechte ausgeschlossen wurden, konnten sich auf sie berufen, und sie taten das langfristig mit
Erfolg. Die Geschichte des Westens ist also auch eine Geschichte von Lernprozessen, von
Selbstkorrekturen, von produktiver Selbstkritik. Aus dem normativen Projekt wurde, mit anderen
Worten, ein normativer Prozeß.
III.
Am 2. und 3. Dezember 1989, gut drei Wochen nach dem Fall der Berliner Mauer, fand auf Malta ein
amerikanisch-sowjetisches Gipfeltreffen statt. Als Präsident George H. W. Bush bei dieser
Gelegenheit forderte, „die Teilung Europas … auf der Grundlage westlicher Werte zu überwinden“,
entgegnete Gorbatschow, es gehe um universelle Werte. Die Einlassung von Außenminister James
Baker, die USA hätten im Zusammenhang mit der deutschen Vereinigung von „westlichen Werten“
gesprochen, um die Bedeutung von Offenheit und Pluralismus zu betonen, konterte der Kremlchef mit
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der Bemerkung: „Es sind auch unsere Werte.“ Bush warf ein, das sei nicht immer so gewesen. Von
Baker kam der Vorschlag, von „demokratischen Werten“ zu sprechen, womit Gorbatschow
einverstanden war. Der Kalte Krieg war dabei, Geschichte zu werden: Das war die Quintessenz der
amerikanisch-sowjetischen Wertedebatte von Malta Anfang Dezember 1989.
Ein knappes Jahr später, im November 1990, dem Monat nach der Wiedervereinigung Deutschlands,
tagte in Paris der Gipfel der Staats- und Regierungschefs der Konferenz über Sicherheit und
Zusammenarbeit in Europa. Den Höhepunkt bildete am 21. November die Unterzeichnung der Charta
von Paris. Darin verpflichteten sich alle 34 Mitgliedstaaten, „die Demokratie als einzige
Regierungsform unserer Nationen aufzubauen, zu festigen und zu stärken“. In einem Augenblick, da
„Europa am Beginn eines neuen Zeitalters“ stehe, bekannten sie sich zur wechselseitigen Achtung
ihrer nationalen Souveränität und territorialen Integrität sowie zur friedlichen Regelung von
Streitfällen. 15 Jahre nach der Unterzeichnung der Helsinki-Schlußakte der KSZE beschlossen die
Signatarstaaten, die Konsultationen auf allen Ebenen zu vertiefen. Zu diesem Zweck wurde ein Rat der
Außenminister gebildet, der mindestens einmal jährlich zusammentreten sollte. Wenn es ein
symbolisches Datum gibt, das das Ende der Nachkriegsepoche für ganz Europa markiert, war es der
21. November 1990.
IV.
Heute, 25 Jahre später, ist von den guten Absichten vom November 1990 nicht mehr viel übrig. Mit
der Annexion der Krim im März 2014 und seinem offensiven Vorgehen in der Ostukraine hat Putin de
facto die Unterschrift Gorbatschows unter die Charta von Paris annulliert. Die Erwartung von damals,
über kurz oder lang werde sich von Vancouver bis Wladiwostok ein trikontinentaler Friedensraum auf
der Grundlage der Demokratie und der Menschenrechte herausbilden, hat sich nicht erfüllt. Das Jahr
2014 dürfte als ein Jahr der Zäsuren, vielleicht als ein Epochenjahr in die Geschichte eingehen: als das
Jahr, in dem sich die westlichen Demokratien von der Hoffnung trennen mußten, ihr normatives
Projekt werde weit über den bisherigen Geltungsbereich hinaus Zuspruch finden.
Als ein Jahr der Zäsuren könnte sich 2014 aber auch aus anderen Gründen erweisen. Das Vordringen
einer islamistischen Terrorgruppe, des Islamischen Staates, in Syrien und im Irak hat schon jetzt
dramatische Verschiebungen der Konfliktfronten im Nahen und Mittleren Osten zur Folge. Im
Zeichen der Abwehr des sunnitischen Extremismus bahnt sich ein taktisches Zusammengehen zweier
ehemaliger „Erzfeinde“, des schiitischen Iran und der USA, an: eine Revolution in den
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zwischenstaatlichen Beziehungen in dieser Weltregion. Die fortschreitende Globalisierung des Terrors
wirft auch ein neues Licht auf die Anschläge in New York und Washington vom 11. September 2001:
Sie erscheinen verstärkt als Beginn eines Zeitalters der allgemeinen Unsicherheit, ja als der wahre
Beginn des 21. Jahrhunderts.
Zwischen dem offensiven Vorgehen Rußlands in der Ukraine und den Terrorakten islamistischer
Extremisten gibt es keine Gemeinsamkeiten außer der, daß es sich um gezielte Herausforderungen des
Westens und seiner Werte handelt. Der Außenwelt präsentiert sich dieser Westen als ein häufig
uneiniges Gebilde. Er streitet über Dinge, die zum Kern seiner politischen Kultur gehören. Die
Kontroversen wurzeln in unterschiedlichen Auslegungen der gemeinsamen Werte. Das gilt vom Streit
über die Todesstrafe wie von den Disputen über die soziale Verantwortung des Staates und das
Verhältnis von Politik und Religion. Seit dem „Krieg gegen den Terror“ sind verstärkt
unterschiedliche Auffassungen über das Verhältnis von nationaler Sicherheit und individueller Freiheit
hinzugekommen. Aus der Sicht vieler Europäer stellen die Vereinigten Staaten mit dem von ihnen
vertretenen Primat der Sicherheit die Werte in Frage, in deren Zeichen sie gegründet wurden und die
zum normativen Fundament des Westens insgesamt geworden sind. In den Augen vieler Amerikaner
sind
die
Europäer
(und
nicht
zuletzt
die
Deutschen)
eigennützige
Nutznießer
der
Sicherheitsanstrengungen der USA.
Im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts hat sich der transatlantische Dissens in einer Weise
verschärft, die die amerikanische Historikerin Mary Nolan bereits vom Ende des „transatlantischen
Jahrhunderts“ sprechen läßt – jenes „langen 20. Jahrhunderts“, das aus ihrer Sicht mit der markanten
Intensivierung der Beziehungen zwischen Europa und den Vereinigten Staaten im letzten Jahrzehnt
des 19. Jahrhunderts begann. Vielleicht ist die transatlantische Epoche aber doch noch nicht an ihr
Ende gelangt. Im Jahr 2014 sind sich die Demokratien beiderseits des Nordatlantiks wieder näher
gekommen, und das aus den Gründen, die dieses Jahr zu einem historischen Einschnitt machen: Die
russische Aggression in der Ukraine und die vom Nahen Osten ausgehende Globalisierung des
islamistischen Terrors haben dem Westen seine grundlegenden Gemeinsamkeiten in einer Deutlichkeit
vor Augen geführt, wie das kein anderes Ereignis seit „9/11“ zu tun vermocht hat.
V.
Ein Vierteljahrhundert nach der Epochenwende von 1989 ist die Welt weder bipolar wie zur Zeit des
Ost-West-Konflikts noch wie in den neunziger Jahren unipolar, durch die Vorherrschaft einer
Supermacht, der Vereinigten Staaten, geprägt. Sie ist wieder multipolar (oder, wie der amerikanische
Politikwissenschaftler Richard N. Haass meint, apolar) geworden. Die Volksrepublik China, der
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größte Gläubiger der USA, ist zugleich ihr stärkster weltpolitischer Kontrahent, der vor allem im
asiatisch-pazifischen Raum auch vor konfrontativer Machtpolitik nicht zurückschreckt. Aufstrebende
regionale Großmächte wie Indien und Brasilien betonen demonstrativ ihre Ebenbürtigkeit mit den
Weltmächten USA und China.
Unter den ganz oder teilweise asiatischen Verbündeten der Vereinigten Staaten tun sich zwei, Japan
und die Türkei, durch einen ausgeprägten Nationalismus hervor. Ein forcierter Nationalismus ist auch
ein Kennzeichen der russischen wie der chinesischen Politik. Ideologische Lagerbildung wie zur Zeit
des Kalten Krieges aber gibt es ebensowenig wie eine in sich geschlossene ideologische
Infragestellung der westlichen Demokratien, die dem Marxismus-Leninismus vergleichbar wäre. Für
den Westen ist diese Konstellation mit der Gefahr der intellektuellen Unterforderung verbunden.
VI.
Zusammengenommen mag der transatlantische Westen im frühen 21. Jahrhundert noch immer ein
imposantes wirtschaftliches Gebilde sein, die Welt beherrscht er schon lange nicht mehr. Vieles von
dem, was er hervorgebracht hat, ist von anderen Kulturen rezipiert worden: seine Moden, seine
Technik, seine Alltagskultur, der Massenkonsum, die kapitalistische Produktionsweise, das Internet,
die digitale Revolution und der Glaube an die Notwendigkeit eines immerwährenden
Wirtschaftswachstums, häufig auch ein wichtiges Element von Demokratie, die Ermittlung des
Mehrheitswillens in allgemeinen Wahlen, weniger oft das institutionelle Grundgerüst des politischen
Systems des Westens im Ganzen und noch seltener die Menschen- und Bürgerrechte als
verpflichtendes politisches Programm. Nelson Mandela, der Gründer des modernen Südafrika, gehört
in dieser Hinsicht zu den wenigen Ausnahmen.
Der Westen hat im Verlauf der Geschichte viel dazu getan, die Glaubwürdigkeit seines Bekenntnisses
zu den unveräußerlichen Menschenrechten zu erschüttern. Doch sein Projekt zu widerlegen hat die
Praxis des Westens bis heute nicht vermocht. Die korrigierende Kraft dieses Projekts hat sich in der
ständigen Ausweitung der Bürgerrechte, in immer neuen Anläufen zur Minderung der sozialen
Ungleichheit, zur Zähmung des Kapitalismus und eines die natürliche Umwelt zerstörenden
Wachtumsfetischismus bewährt, aber noch längst nicht erschöpft: Auf allen diesen Gebieten bleibt der
Korrekturbedarf groß.
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Unvollendet ist das Projekt des Westens auch im Hinblick auf die Universalität der Menschenrechte.
Sowenig der Westen nichtwestliche Gesellschaften davon abhalten kann, seine Fehler zur
wiederholen, sowenig kann und darf er seine Werte anderen aufzwingen. Das Beste, was er für sie tun
kann, ist, sich selbst an sie zu halten und seine Abweichungen von den eigenen Werten rückhaltlos zu
kritisieren.
Die westlichen Demokratien sollten sich aber auch an der Maxime orientieren, dass man nicht mehr
versprechen darf, als man halten kann. Weder die Europäische Union noch die Vereinigten Staaten
können auf ihren Territorien die Probleme der Länder lösen, aus denen die Menschen in hellen
Scharen flüchten. Aus den Menschenrechten ergibt sich aber die Forderung, politisch Verfolgten Asyl
zu gewähren und Flüchtlinge menschenwürdig zu behandeln. Die westlichen Demokratien müssen
versuchen, diesen Erwartungen im Rahmen des Möglichen, also nach besten Kräften, gerecht zu
werden, wenn sie sich nicht dem Vorwurf aussetzen wollen, ihr Bekenntnis zu den Menschenrechten
sei zur bloßen Rhetorik verkommen. Dasselbe gilt für den Anspruch der Europäischen Union, eine
Wertegemeinschaft zu sein.
Die Anziehungskraft, die von den Ideen von 1776 und 1789 und ihrer „globalisierten“ Fassung, der
von der Vollversammlung der Vereinigten Nationen im Dezember 1948 beschlossenen Allgemeinen
Erklärung der Menschenrechte, ausgeht, ist weltweit ungebrochen. Die chinesische „Charta 08“,
wesentlich mitverfaßt vom Friedensnobelpreisträger des Jahres 2010, Liu Xiaobo, und unterzeichnet
von über 5000 Künstlern und Intellektuellen, ist wie die Menschenrechtserklärungen des späten 18.
Jahrhunderts ein Manifest aus dem Geist der Aufklärung und ein Text von historischem Rang. Nichts
spricht für die verbreitete Meinung, bestimmte Kulturen, etwa die konfuzianisch geprägten, seien für
die Idee der Menschenrechte strukturell unempfänglich.
Amartya Sen, der aus Indien stammende Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, hat denn
auch in seiner Kritik an Samuel Huntingtons „Clash of Civilizations“ mit Recht davor gewarnt,
Kulturen als ein Gefängnis zu betrachten, aus dem es kein Entkommen gibt. Es ist in der Tat
unwahrscheinlich, daß ostasiatische Intellektuelle sich auf Dauer mit den eng beschränkten
Freiheitsspielräumen begnügen werden, die ihnen die sogennanten „asiatischen Werte“ im Sinne des
langjährigen und kürzlich verstorbenen Ministerpräsidenten von Singapur, Lee Kuan Yew, Werte wie
soziale Harmonie, kollektives Wohlergehen, Loyalität gegenüber Autoritäten, oder das jeweilige
Programm der Kommunistischen Partei Chinas zugestehen.
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Im Mai 1852, drei Jahre nach dem Scheitern der Revolution von 1848/49, setzte Karl Marx im
„Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte“ seine Hoffnung darauf, daß die Revolution, die er
erstrebte, ihr subversives Werk, wenn auch mitunter auf Umwegen, beharrlich weiter verrichten
werde, so daß ihr Europa eines Tages anerkennend zurufen könne: „Brav gewühlt, alter Maulwurf!“
Der Traum von Marx ging bekanntlich nicht in Erfüllung. Die Wühlarbeit des normativen Projekts des
Westens aber, der Ideen der unveräußerlichen Menschenrechte, der Herrschaft des Rechts, der
Gewaltenteilung, der Volkssouveränität und der repräsentativen Demokratie, ist noch lange nicht zu
Ende. Wenn der Westen sich bewußt macht, was ihn im Innersten zusammenhält, wird er sich auch in
einer Welt behaupten können, in der er sich zwar durch viele Gegner, aber nicht mehr durch den
theoretisch anspruchsvollen Gegenentwurf einer radikal anderen Gesellschaftsordnung herausgefordert
sieht.
Keynote gehalten am 18. September 2015, anlässlich der siebten Denk ich an Deutschland-Konferenz
in Berlin.
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