AG I Termin 11 alic

Vorlesungsbegleitende Arbeitsgemeinschaft im Strafrecht für das 1. Semester (WS 10/11)
Wiss. Mit. Jürgen Telke
Die alic
War der Täter bei Vornahme der tatbestandsmäßigen Ausführungshandlung wegen
eines Rauschzustandes gem. § 20 StGB schuldlos, kann er wegen des begangenen
Deliktes nicht bestraft werden. Jedoch tritt keine völlige Straffreiheit ein. Aufgrund
des Vorwurfs, im schuldunfähigen Zustand eine Rauschtat begangen zu haben,
kommt hier vielmehr eine Strafbarkeit gem. § 323a StGB (Vollrausch) in Betracht, der
eine Bestrafung wegen einer entschuldigten Rauschtat mit bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe bedroht.
Diese Strafandrohung wird jedoch insbesondere bei Tötungsdelikten vielerseits als
zu niedrig empfunden wird, weswegen unter dem Stichwort actio libera in causa (alic)
eine „Ausnahme“ vom Eintritt der Schuldunfähigkeit nach § 20 StGB diskutiert.
Unter der alic versteht man solche Fallgestaltungen, in denen der Täter sich selbst
(vorsätzlich oder fahrlässig) in den Zustand der Schuldunfähigkeit versetzt, um in den
Genuss der Straffreiheit wegen Schuldausschlusses gem. § 20 StGB zu gelangen.
Bsp.: Berufsboxer B will seine Ehefrau H töten, hat jedoch Hemmungen, die Tat auszuführen.
Daher trinkt er sich vorher Mut an, bis er eine BAK von 3,5‰ aufweist. In diesem enthemmten
Zustand erschießt er schließlich H.
Zwar hat der Täter hier eine tatbestandsmäßige und rechtswidrige Tötung begangen,
zum Zeitpunkt der Tat wies er allerdings eine BAK von 3,5‰ auf, weswegen eine
Strafbarkeit grds. an mangelnder Schuld gem. § 20 StGB scheitert, denn nach dem
Koinzidenzprinzip müssen Schuld und Tat gleichzeitig vorliegen (§ 20 StGB: „…bei
Begehung der Tat“).1 Jedoch wird in einem solchen Fall mit verschiedenen Begründungsmodellen versucht, den Schuldausschluss zu vermeiden, da der Täter im noch
schuldfähigen Zustand eine Ursache gesetzt, sich selbstverschuldet in den Zustand
der Schuldlosigkeit begeben hat und daher die Straffreiheit nicht verdiene. Eine nicht
geringe Gegenansicht lehnt jedoch mit guten Gründen ein solches Vorgehen ab und
verweist auf die allein eintretende Strafbarkeit nach § 323a StGB. Diese Ansichten
sollen hier nun gegenübergestellt werden:2
1. Das Ausnahmemodell
1
Natürlich erfasst die alic jede Art von Rauschtat. Da die alkoholbedingte Rauschtat jedoch mit Abstand am
relevantesten ist, beschränkt sich die folgende Darstellung auch auf sie.
2
Die folgende Darstellung beschränkt sich auf die Wiedergabe der wichtigsten Ansichten zu diesem Problem
(welche in der Klausur ausreichend ist). Im Detail Hillenkamp, 13. AT-Problem; Rönnau, JA 1997, 707.
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Diese Theorie geht davon aus, dass die alic eine wirkliche Ausnahme von der
Vorschrift des § 20 StGB darstellt. Zwar falle der Täter aufgrund seines Rausches
grds. unter die Regelung des § 20 StGB, jedoch sei hier eine gesetzlich nicht
ausdrücklich geregelte, sondern lediglich gewohnheitsrechtlich anerkannte Ausnahme vom Koinzidenzprinzip in Form einer teleologischen Reduktion anzunehmen. Es sei daher hinsichtlich der Beurteilung der Schuldfähigkeit nicht auf den
Zeitpunkt der Begehung der Tat abzustellen, sondern auf denjenigen, in dem der
Täter sich in den Zustand der Schuldunfähigkeit versetzt habe. 3
Die Vertreter dieser Theorie argumentieren vor allem mit dem Gedanken des
Rechtsmissbrauchs: Wenn sich der Täter aus der Erwägung, unter dem Deckmantel seiner Schuldunfähigkeit straflos Straftaten begehen zu können, diesen
Deckmantel übersteife, indem er sich vorwerfbar um seine Schuldfähigkeit bringt,
dürfe § 20 StGB ausnahmsweise nicht gelten. Diese rechtsmissbräuchliche Taktik
müsse durchkreuzt werden. Es sei daher legitim, den Täter für die Rauschtat zu
bestrafen, da er bereits im defektfreien Zustand einen Deliktsverwirklichungswillen aufwies. Zusätzlich wird angeführt, dass die Rechtsfigur der alic durch eine
lange Tradition in der Rspr. bereits gewohnheitsrechtlich anerkannt und akzeptiert
sei. Dem Vorwurf, durch die Anerkennung von Gewohnheitsrecht zur Strafbegründung gegen Art. 103 II GG zu verstoßen (nullum crimen sine lege), wird entgegengehalten, dieses Verbot wirke nur im Rahmen der Tatbestände, nicht jedoch im Bereich des AT.
Bezogen auf den obigen Fall wäre B gem. § 212 StGB zu bestrafen. Zwar wies er zum Zeitpunkt
der Abgabe des Schusses eine BAK von 3,5 ‰ auf und war damit gem. § 20 StGB schuldunfähig, dies ist jedoch aufgrund der Tatsache, dass er sich betrank, um die Tat im Zustand der
Schuldunfähigkeit zu begehen, ausnahmsweise unbeachtlich.
2. Das Tatbestands- oder Vorverlagerungsmodell
Eine verbreitete Ansicht lehnt zwar ebenfalls das Ausnahme- sowie das Ausdehnungsmodell ab, nimmt aber das Tatbestands- oder Vorverlagerungsmodell an,
indem sie mittels der Rechtsfigur der alic den Schuldvorwurf auf den Zeitpunkt
des Handelns im schuldfähigen Zustand – hier das Sichbetrinken – vorverlagert.4
Hiernach stellt also schon das Sich-Betrinken die tatbestandliche Ausführungshandlung dar, die damit den strafrechtlichen Anknüpfungspunkt bildet. Nach einer
v.a. von Roxin vertretenen Unteransicht (sog. Werkzeugtheorie) dieses Modells
3
4
Hruschka, JuS 1968, 554; Otto, AT, 13/24 ff.; Wessels/Beulke, Rn. 415.
Baumann/Weber/Mitsch, § 19, Rn. 35.
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macht der sich betrinkende Täter sich selbst zu seinem (späteren) schuldlosen
Werkzeug, weshalb die alic einen Sonderfall mittelbarer Täterschaft darstelle.5
Da der strafrechtliche Anknüpfungspunkt hier das Sich-Betrinken ist, der Täter also noch schuldfähig ist, kann dieser Theorie nicht der Vorwurf gemacht werden,
gegen das Koinzidenzprinzip und damit Art. 103 II GG zu verstoßen. Eine TatzeitSchuld-Koinzidenz liegt hier vielmehr vor.
Im obigen Fall wäre B daher wegen § 212 StGB zu bestrafen. Er war zwar zum Zeitpunkt der
Abgabe des Schusses schuldunfähig, die Tathandlung war hier jedoch bereits das SichBetrinken. Demnach wäre B, der zu diesem Zeitpunkt noch schuldfähig war, auch gem. § 212
StGB zu bestrafen.
3. Die Unvereinbarkeitstheorie
Die Unvereinbarkeitslehre schließlich hält die Rechtsfigur der alic mit dem geltenden Recht für nicht vereinbar. Solange keine entsprechende Normierung der
Strafbarkeit trotz Schuldunfähigkeit in den jeweiligen Fällen erfolge, müsse man
sich mit dem Auffangtatbestand des § 323a StGB begnügen.
Stellungnahme:
Gegen das Ausnahmemodell bestehen folgende Bedenken:
Ihm ist zwar zuzugeben, dass der Täter sich rechtsmissbräuchlich in den Zustand der
Schuldunfähigkeit gebracht hat (vgl. die Wertung des § 17 S. 2 StGB sowie des § 35
I S. 2 StGB). Jedoch verstößt es gegen den klaren Wortlaut des § 20 StGB sowie
das Koinzidenzprinzip und stellt eine verbotene Analogie zulasten des Täters dar.6
Der Begriff „bei Begehung der Tat“ wird in den §§ 16, 17 und 20 StGB unterschiedslos verwendet, für eine Andersbehandlung i.R.d. § 20 StGB sind keine Gründe erkennbar. „Begehung der Tat“ kann also nur die unmittelbare Tatbestandsverwirklichung und nicht eine beliebige vorgelagerte Handlung des Täters sein. Daher ist der
h.M. zu folgen und das Ausnahmemodell abzulehnen.
Gegen das Tatbestandsmodell bestehen indes folgende Bedenken:
- Das Sichbetrinken stellt nur dann bereits den Versuch der entsprechenden Tat dar,
wenn es zum eigentlichen unmittelbaren Ansetzen im schuldunfähigen Zustand gekommen ist. Wie aber die Tatbestandsmäßigkeit eines Verhaltens davon abhängig
sein soll, dass später irgendwelche Ereignisse eintreten, ist nicht ersichtlich. Für den
Versuchsbeginn ist vielmehr auf die allgemeinen Kriterien abzustellen, nach denen
5
Roxin, § 20, Rn. 58; Jakobs 17/64; Hirsch, NStZ 1997, 230. Damit wird dem Vorwurf entgegengewirkt, die Handlung sei
hier lediglich als straflose Vorbereitungshandlung anzusehen.
6
Vgl. BGHSt 42, 235 = NStZ 1997, 228, 229, nach dem das Analogieverbot auch im AT Anwendung findet.
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es insbesondere darauf ankommt, ob der Täter sich vorstellt, dass das anzugreifende
Rechtsgut bereits konkret gefährdet ist, keine wesentlichen Zwischenschritte mehr
bis zur Tatbestandsverwirklichung erforderlich sind sowie eine zeitliche und räumliche Nähe zur Tatbestandsverwirklichung besteht. Dies alles ist aber im Zeitpunkt des
Sichbetrinkens noch nicht anzunehmen, so dass der Täter nach den allgemeinen
Kriterien noch nicht unmittelbar zum Versuch ansetzt, wenn er sich betrinkt.7
- Gegen die Unteransicht der sog. Werkzeugtheorie spricht, dass § 25 I Var. 2 StGB
die Begehung der Tat „durch einen anderen“ verlangt und es eine Fiktion darstellt,
eine und dieselbe natürliche Person gewissermaßen normativ zu „spalten“.
- § 316 StGB beispielsweise ist nach einhelliger Auffassung ein eigenhändiges Delikt8, d.h. gerade bei § 316 StGB ist mittelbare Täterschaft ausgeschlossen. Aus diesem Grunde hat auch der BGH für § 316 StGB als eigenhändiges Delikt entschieden,
dass die Figur der alic hier nicht anwendbar ist.9
- Die Tathandlung des „Sichbetrinkens“ ist jedoch nicht nur nicht mit dem „Fahrzeugführen“ aus § 316 StGB zu identifizieren (ein „Fahrzeugführen“ durch „Sichbetrinken“
etwa ist kaum vorstellbar), auch bei anderen gesetzlich normierten Tathandlungen ist
dies der Fall. So ist das „Sichbetrinken“ auch schlecht mit dem tatbestandlich geforderten „Wegnehmen“ iSd § 242 StGB oder mit dem „Töten“ iSd § 212 StGB gleichzusetzen.
Unabhängig davon, dass der BGH die Rechtsfigur der alic für vorsätzliche reine Erfolgsverursachungsdelikte (noch) nicht ausdrücklich verworfen hat, erscheint dies
jedoch dogmatisch zwingend.
Es ist jedoch zu beachten, dass der soeben dargestellte Streitstand zur alic nur
dann relevant wird, wenn der Täter bereits im Zeitpunkt des Sichbetrinkens Vorsatz
hinsichtlich der im Zeitpunkt der Schuldunfähigkeit begangenen Tat aufweist.
7
Vgl. Rönnau, JA 1997, 707, 709 m.w.N.
BGHSt 36, 343; Joecks, § 316 Rn. 2, 16.
9
BGHSt 42, 235 = NStZ 1997, 228. In dieser Entscheidung hat der BGH auch festgestellt, dass es bei Fahrlässigkeitsdelikten
des Rückgriffs auf die Rechtsfigur der alic nicht bedarf. Dies soll allerdings nur für verhaltensneutrale Fahrlässigkeitsdelikte gelten und stellt daher vorliegend kein Argument dar.
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