Wirte prellen den Staat um Millionen

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Datum: 18.01.2016
Wirte prellen den Staat um Millionen
Erstmals zeigen Branchenzahlen das Ausmass der Mehrwertsteuer-Betrügereien. Auch das Baugewerbe
trickst massiv
Bern Die Pizzeria in Basel läuft gut. So gut, dass auch die Mehrwertsteuerlast wächst. Irgendwann beginnen
der Geschäftsführer und sein Stellvertreter Umsätze zu unterschlagen. Mit einem simplen Trick: Für die Kasse
verwenden sie statt des regulären Abrechnungsschlüssels einen sogenannten Trainingsschlüssel, der nur für
Schulungen des Personals bestimmt ist. Tippen sie über diesen Trainingsschlüssel eine Bestellung ein, fliesst
der Betrag nicht automatisch in die Buchhaltung. Erkennbar ist der Betrug nur noch am Beleg für den Gast;
die Coupon-Nummer lautet nämlich immer gleich: 999999.
Während zweier Jahre nutzen die Steuerbetrüger den Trainingsschlüssel für tatsächlich erzielte Umsätze der
Pizzeria – sie unterschlagen so fast 600 000 Franken. Sie prellen ihren Arbeitgeber, eine AG, und sie prellen
den Staat, denn auf die 600 000 Franken zahlen sie keinen Rappen Mehrwertsteuer. Das System sei «
raffiniert ausgestaltet» gewesen und nur zufällig ans Licht gekommen, schreibt das Appellationsgericht Basel
im Urteil.
In einigen Fällen steckt «kriminelle Energie» dahinter
Solche Betrügereien und Tricks mit der Mehrwertsteuer gibt es im Gastgewerbe oft. Das zeigen jetzt erstmals
nach Branchen aufgeschlüsselte Zahlen der Eidgenössischen Steuerverwaltung (ESTV), welche die
SonntagsZeitung, gestützt auf das Öffentlichkeitsgesetz, erhalten hat. Wirte und Hoteliers gehören zu den
grössten Manipulatoren bei der Mehrwertsteuer: So sprach der Staat 2013 fast 900 Bussen gegen
Gastrobetriebe und Hotels aus – das ist, gemessen an der Branchengrösse, ein absoluter Rekordwert.
Gleichzeitig mussten die Kontrolleure steuerliche Einschätzungen von fast 45 Millionen Franken vornehmen.
Grund: Die Wirte und Hoteliers reichen gar keine oder eine falsche Abrechnung ein.
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«Ich bin überrascht vom Ausmass», sagt Niklaus Honauer, Partner und Mehrwertsteuer-Experte beim
Wirtschaftsprüfer PWC. Er vermutet, dass es in der Gastronomie viele kleine Betriebe gibt, die ihre
Abrechnung überhaupt nicht einreichen. Das kann aus Schlamperei passieren – oder bewusst. In einigen
Fällen stecke auch «kriminelle Energie» dahinter, sagt Honauer. Barbara Henzen, Leiterin Mehrwertsteuer
beim Wirtschaftsprüfer EY, bezeichnet die Mehrwertsteuer grundsätzlich als «betrugsanfällig» – gerade weil
die Steuerpflichtigen die geschuldete Steuer in einem Formular eigenhändig angeben können.
Der Staat will sich die Manipulationen nicht mehr weiter gefallen lassen und nun härter gegen Betrüger und
Trickser vorgehen. Gemäss gut unterrichteten Quellen wurde der erst vor wenigen Jahren gegründete
Strafdienst der Mehrwertsteuerabteilung vor kurzem bereits ausgebaut. Das zumindest erzählen
Bundesbeamte an Steuerseminaren. Der Dienst ist spezialisiert auf Steuerhinterziehung und Abgabebetrug.
Ein Sprecher der Steuerverwaltung bestätigt den Ausbau, zu dessen Umfang sagt er jedoch nichts.
Taxifahrer und Coiffeure schummeln ebenfalls
Aus Angst, die Betriebe könnten sich wappnen, äussert sich die Steuerverwaltung auch nicht im Detail zu den
Kontrollen. Die Betriebe werden in der Regel nach dem Zufallsprinzip unter die Lupe genommen, in einigen
Branchen ist die Frequenz höher; das dürfte bei «risikoanfälligen» Wirtschaftszweigen der Fall sein. Laut der
Steuerverwaltung gehören dazu Branchen, «in welchen häufig mit Bargeld bezahlt wird», etwa das
Baugewerbe.
Gerade in Letzterem sind die Verfehlungen massiv, wie die neuen Zahlen zeigen. So gab es 2013 mit über
100 Millionen Franken eine Rekordsumme bei den Betreibungen – und dies, obwohl es gemessen an den
Steuerpflichtigen grössere Branchen gibt.
Auch Taxifahrer und Coiffeure tricksen munter den Staat aus: Ein häufiger Kniff sind laut EY-Steuerexpertin
Henzen «künstliche Konstrukte». Damit werden Umsätze «auf mehrere Träger verteilt, sodass alle unter der
Steuerpflicht auslösenden Grenze von 100 000 Franken bleiben».
Wie gross die Ausfälle bei der Mehrwertsteuer sind, lässt sich nur schätzen. Eine Studie der Steuerverwaltung
kam 2013 zu einem Maximalwert von 8,6 Prozent. Bei Mehrwertsteuer-Einnahmen von über 20 Milliarden
Franken verlöre der Staat demnach jedes Jahr fast 2 Milliarden Franken.
Das scheint die Vertreter der Problembranchen kaum zu kümmern. «Wir gehen davon aus, dass sich die
Steuerdisziplin im Baugewerbe nicht von vergleichbaren Branchen unterscheidet», sagt Silvan Müggler vom
Schweizerischen Baumeisterverband. Gastrosuisse-Direktor Remo Fehlmann erachtet Vergleiche zwischen
den Wirtschaftszweigen als «nicht zulässig».
Dominik Balmer
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