weiter

Er schob die Erkenntnis, dass er gerade eine Fremde küsste bei Seite. Stattdessen
wollte er sich lieber an den Moment klammern, ihn einfrieren und erst dann wieder
auftauen, wenn all die Probleme sich aufgelöst hätten, er seinen Job zurück hätte
und ihr Herz wieder ganz wäre. Das hier war bei weitem das sulzigste, was er je
erlebt hatte, wie sie hier auf diesem Hügel im Gras saßen, über diese ganze
verkorkste Stadt blickten und er die paar wenigen Prinzipien, die er besaß einfach so
an einem Abend über Bord warf.
Es war so schrecklich kitschig, dass er manchmal das Bedürfnis hatte, sich in die
Faust zu beißen, doch er wollte diese Lippen, die nach Tequila und gebrannten
Mandeln schmeckten auf seinen Spüren, wollte das hier nicht loslassen, egal wie
sehr er sich wie in einen von diesen amerikanischen Liebesfilmen fühlte. Eigentlich
war es total skurril. Er kannte diese frau seit ungefähr viereinhalb Stunden, doch es
fühlte sich an, als wären es Jahre. War das wirklich heute Abend gewesen, als sie
völlig aufgelöst in diese schmuddelige bar geschwebt kam und ihn bezirzte, ihn wie
eine Nixe in ihren Bann zog?
Viereinhalb Stunden vorher betrat die achtzehnjährige Emma Chevalier die Bar, in
die sie sich geschworen hatte, nie hineinzugehen. Sie setzte sich, drehte den Kopf
und entdeckte den Mann, der neben ihr saß. Er hatte dunkle, leicht struppige kurze
Haare und einen Dreitagebart, der irgendwie harmonierte mit seinen blauen Augen.
Er war so gar nicht Emmas typ, doch irgendetwas hatte er an sich, das sie
faszinierte.
"Starren sie schon länger Löcher in die Luft?" Sofort blickte sie weg, als sie
bemerkte, dass sie ihn gerade tatsächlich angesprochen hatte, angesprochen auf
sein "starren". Er hingegen konnte es kaum wahrnehmen. Die frau neben ihm konnte
man als die Schönheit in Person bezeichnen, fast wie aus Porzellan wirkte sie mit
ihren langen dunkelblonden welligen Haaren, die über einen bordeauxroten Schal
fielen, den ausgeprägten Wangenknochen und den vollen Lippen. Doch ihr trauriger
Blick entging ihm nicht. Obwohl sie lächelte, ihre Augen blieben verschleiert und
trübe. Er runzelte die Stirn. Hatte diese Frau ihn tatsächlich gerade auf sein
armseliges Rumsitzen angesprochen? Und warum fühlte es sich so erfrischend gut
an? Wie ein Eiswürfel, der auf einen Kratzer gelegt wurde. Es brannte bitter, doch
man wollte dieses Gefühl unter keinen Umständen unterbrechen. Genauso war es
mit den Worten dieser jungen frau, dieses Mädchens. Jeder der ihn störte würde er
am liebsten verprügeln, doch diese Worte, die aus den vollen, dunklen Lippen dieses
Mädchens gekommen waren, waren wie Balsam für die Seele. Während sie sich also
schämte, sich fragte, wieso sie nicht einfach die Klappe halten konnte, drehte er den
Blick und erwiderte: "ich habe keine Ahnung. Im Moment frage ich mich aber
hauptsächlich was jemand wie du, an einem Ort wie diesem hier um diese Zeit
macht."
"Um ehrlich zu sein, ich weiß es selbst nicht." Emma senkte den blick, starrte auf ihre
Finger und den kleinen Fingernagel, der länger war, als die anderen, während sie
irgendeinen nicht vorhandenen Kloss versuchte runterzuschlucken. "Du siehst traurig
aus." Waren die Worte, die den Kloss vorhanden machten und ihn steckenblieben
ließen, irgendwo genau in der Mitte der Luftröhre. "Traurig?" Stickig und brüchig
bröckelten die Worte aus Emmas Mund, versuchten vergebens ein echtes lächeln
einzuleiten und machten klar, dass das Fragezeichen hinter diesem "traurig" völlig
fehl am Platz war. Es war eine Tatsache. Emma war totunglücklich. diese für ihn
geheimnisvolle junge frau hatte eine last mit sich rumzutragen, sie wollte darüber
reden, doch die Worte steckten fest, weil die Angst sie blockierten. Ohne ein weiteres
Wort hängte er an: "erzähl. Ich hab 7,5 Stunden Zeit." Emma sah in verwundert an,
überlegte kurz, ob sie nun wirklich ihre jämmerliche Geschichte einem Fremden vor
die Füße legen sollte, doch da sprudelten sie auch schon raus, die Worte, die sie all
die Zeit verdrängt hatte und die Frage, warum sie all dies irgendeinem Typen, den
sie noch nie zuvor gesehen hatte, erzählte, schob sie ganz nach hinten. Es war nicht
wichtig. Es interessierte ihn. Er wollte es wissen, er wollte alles wissen über sie. Und
er konnte es sich nicht erklären, da ihn sonst Menschen tendenziell langweilten, mit
ihren plumpen Geschichten, doch dieser Mensch schien schon nur in seiner Art,
Dinge zu erzählen, speziell zu sein. Niemand sonst war so, wie sie. Niemand sonst
erzählte mit einer solchen Energie und mit so viel Herz Geschichten. Niemand sonst
war mehr Kunst in seinen Augen.
Sie redete und redete, während sich ein Gefühl in ihr breitmachte, dass sich anfühlte,
wie eine Grippe, die langsam verschwand. Es fühlte sich an, als würde sie einen Teil
abschütteln, einen Teil des Schmerzes, einen Teil von Rico, der Typ, der ihr mit
seinem skrupellosen fremdgehen mit dieser frau mit dem blonden Bob, das Herz
rausgerissen und ihr Leben in eine dauer-taschentücher-kaufende Tortur verwandelt
und für die längsten schlaflosen Nächte gesorgt hatte.
Und plötzlich redeten sie beide, er hatte irgendwo eingestimmt, als Emma ihn gefragt
hatte, ob er denn auch einen Fetisch für rote Kleider, wie sie die blonde Betrügerin
immer getragen hatte, habe. Er antwortete, dass er natürlich kein Problem mit
Kleidern, er aber auch nichts gegen Frauen habe, die gelegentlich auch mal Hosen
tragen konnten und nicht restlos im 17. Jahrhundert lebten. Er erzählte ihr von seinen
gescheiterten Versuchen als Maler letztes Jahr, seinem kläglichen und eigentlich gar
nicht vorhandenen Liebesleben und Emma fragte sich wieso, eigentlich sah er doch
wirklich nicht schlecht aus. Doch er war speziell, auf seine eigene Art und Weise,
hatte etwas an sich, dass sie wie magisch anzuziehen schien. Er erzählte nicht viel
über die Frau, die ihn verlassen hatte, nur dass ihr Pony angeblich zu kurz war, sie
zu viele gepunktete Sachen getragen und sie ihn kurz nach seinem karriere-fiasko
samt Bettdecke und Kissen aus der Wohnung geschmissen hatte.
"Gibt es etwas, dass jeder Mensch tut, aber du hast es noch nie getan?" Fragte er
schließlich, nachdem sie wusste, dass er allergisch gegen Katzen war, Streifenpullis
nicht ausstehen konnte, Angst hatte vor Menschen, die flüsterten, sich Gitarre selbst
beigebracht, einmal als Bäcker gearbeitet und sich drei Jahre an Kung-Fu
ausprobiert hatte und dass er immer einen kleinen Rest im Teller übrig ließ. Und sie
wusste, dass in ein paar Stunden sein Flugzeug flog, nach Australien. Dass ihn hier
nichts mehr halte, waren seine Worte, doch als er sie aussprach, klang es mehr wie
eine frage, als eine Aussage, worüber er selbst überrascht war.
„Ich war noch nie auf einem Riesenrad oder nachts im Meer, und ich will unbedingt le
Lavandou von oben sehen, nur bin ich alleine immer zu faul, um da nach oben zu
klettern." antwortete Emma und lachte. Sie lachte. Zum ersten Mal seit langem tat sie
nicht nur so, nein, es war ein echtes, lachendes lachen. Er erzählte, er hätte noch nie
chinesisch gegessen, was Emma noch mehr amüsierte. "Dann wird es höchste Zeit."
Sagte sie und zog ihn an der großen Hand nach oben. Das erste Mal standen sie
voreinander, er war grösser als sie, ein kleines bisschen und sie sahen sich kurz an,
verließen die bar und dann waren sie plötzlich auf dem Riesenrad, auf dem riesigen
Riesenrad, dass Emma ihre Höhenangst vergessen ließ. Wie kleine glitzernde
punkte klebten die Lichter und wie Miniaturfiguren bewegten sich die Menschen unter
ihnen. Sie gingen an den Strand und sprangen ins Wasser, sprangen einfach hinein
mit den Kleidern und Emma dachte nicht eine Sekunde darüber nach, wie ihre Haare
nachher aussehen würden, wie sie das sonst immer tat. Sie dachte sowieso wenig
an diesem Abend. Ihr Herz setzte sich durch gegen den Kopf und als sie schließlich,
tropfend nass beim Chinesen ankamen, sie die würzige Sauce einsog und die
kleinen Grübchen auf seinen Wangen entdeckte, konnte man fast sagen sie war zum
ersten Mal seit langem wieder glücklich. Mit den Nudeln in der Hand kletterten sie
schließlich, alle Probleme vom Meer weggeschwemmt, nach oben, auf den höchsten
Punkt des Städtchens und als sie oben ankamen und Emma erschöpft ausatmete,
packte er plötzlich ihr Kinn und küsste sie. Und sie wollte sich nicht wehren, wollte
nicht denken, wollte nur den Moment genießen. Ja, das war es, was diese beiden
Menschen in den letzten viereinhalb Stunden erlebt hatten und das waren diese
beiden sich doch eigentlich Fremden, die sich jetzt küssten. Das war Emma
Chevalier, die ihm jetzt in seine kleine Wohnung in den 7. Stock an der Rue de la
Rigourette folgte und dort eingewickelt in ihren bordeauxroten schal einschlief. Das
war die Frau, in die er sich verliebt hatte.
Einige Stunden später aber, als er seine Augen öffnete und sich zu ihr drehen wollte,
war Emma verschwunden. Kurz fragte er sich, ob er das nur geträumt hatte, es war
doch sowieso viel zu gut gewesen, um wahr zu sein, doch da entdeckte er den schal,
wie er alleine über der Heizung hing und offensichtlich das einzige war, was diese
frau, die sein Leben in ein paar wenigen Stunden auf den Kopf gestellt hatte,
zurückgelassen hatte. Er wusste weder, wo sie wohnte, noch wusste er, was er mit
dem Flug, der in einer halben Stunde ging, anfangen sollte. Das einzige was er sah,
war der schal. Der schal, der eine einzige, schwere frage in den Raum warf, die
drohte, ihn zu erschlagen. Würde er sie wiedersehen?