Abschiedspredigt am Sonntag Septuagesimae (24. Januar 2016) I. „Dient einander, ein jeder mit der Begabung, die er empfangen hat – als die guten Verwalter der bunten Gnade Gottes.“ (1. Petrus 4,10) Wenn man einen Weg gegangen und an eine Abzweigung gekommen ist, schaut man auch zurück und fragt sich, ob dies ein guter Weg war. Man erinnert sich an die Ideen, Absichten und Hoffnungen des Anfangs, und man überlegt, was sich davon als sinnvoll erwiesen hat oder auch nicht. Das möchte ich an einem Beispiel tun. Als wir damals – nicht nur ich, sondern eine Gruppe jüngerer Generationsvertreter – unsere Arbeit aufnahmen, wollten wir uns von alten Amtlichkeiten und Dienstvorstellungen befreien. Das Offiziöse, Gravitätische, Autoritäre war nicht nach unserem Geschmack. Auch meinten wir, dass es die Arbeit eher behinderte, als beförderte. Mit bloßer Amtsautorität klärt man heute keinen Konflikt mehr. Mit Klerikalgewese bringt man heute keinem den christlichen Glauben näher. Offizialnarzismus verhindert die Begegnung von Mensch zu Mensch, von Mensch zu Gott. Ebenso wenig wollten wir die traditionelle kirchliche Dienstideologie fortschreiben, diesen Pflichtenrigorismus. Sie kennen das Modell „Selbst- und Fremdüberforderung durch moralischen Überdruck“, dieses altprotestantische „Herb zu anderen, brutal gegen sich selbst“. Das erschien uns als kaum noch motivationsfördernd. Wir wollten freier und persönlicher agieren. Denn das Amt wirkt nur, wenn die Person es in Besitz genommen hat – und nicht umgekehrt das Amt von der Person Besitz ergriffen hat. So meinten wir ehrlicher und offener den christlichen Glauben vertreten und kirchlich handeln zu können. Das meine ich immer noch. Zugleich aber frage ich mich, ob das nicht einseitig und unrealistisch war. Es ist ja Arbeit und nicht Freizeit. Es ist der Dienst, der im Vordergrund steht, und nicht die Selbstentfaltung. Und vielleicht darin sogar ein guter Sinn. II. „Dient einander, ein jeder mit der Begabung, die er empfangen hat – als die guten Verwalter der bunten Gnade Gottes.“ Was heißt es, zu dienen, und welche Gnade liegt darin? Zunächst muss man einsehen, dass es keine direkte Selbstentfaltung gibt. Zu mir selbst komme ich über einen Umweg. Indem ich von mir weggehe – in die Welt, zu anderen Menschen, in Aufgaben – gelange ich zu mir. Ich wüsste gar nicht, wer ich bin, wozu ich fähig bin – ohne diesen Umweg. Wer sein Leben für sich bewahren will, wird es verlieren. Wer sein Leben in einen Dienst stellt, wird es gewinnen. Vor zwölf Jahren, als ich meinen Dienst antrat, habe ich nicht geahnt, wie viel ich lernen würde. Reformprozesse und Fusionen, Haushaltsführung und Verwaltung, Gremienleitung und interne Kommunikation, Denkmalschutz und Baurecht, Kindergartenarbeit und Kirchenmusik, Politik und Öffentlichkeitsarbeit, Personalverantwortung und IT-Technologie, Fundraising und soziale Arbeit, strategische Planung und plötzliches Konfliktmanagement. In keinem dieser Felder habe ich es weit gebracht. Aber ich bin vielen Menschen begegnet, von denen ich lernen durfte. Durch sie habe ich viel über die Wirklichkeit erfahren, in der ich lebe. Dabei habe ich Respekt vor dem Wort „Funktionär“ gewonnen: ein Funktionär ist einer, der dafür sorgt, dass es funktioniert. Für einen verlässlichen, guten Alltag zu sorgen in einer Gemeinde, einem Gemeinwesen – das ist eine sensationelle Leistung. Durch den gemeinsamen Dienst mit anderen haupt- und ehrenamtlichen Funktionären hat sich mein Denken, Fühlen, Predigen und Schreiben verändert. Ich habe heute ein klareres Bewusstsein für Komplexität: Es gibt keine einfachen Lösungen, nirgends. Ich sehe heute deutlicher die Grenzen unseres Handelns: Probleme werden weniger gelöst, als durch neue Probleme abgelöst. Da braucht es viel Nachdenken, gemeinsame Beratung und dann Mut, um Entscheidungen zu treffen und durchzuhalten. Viel habe ich gelernt, viele habe ich kennengelernt. Das Glück meines Dienstes sind die Menschen, die mir ihre Kollegialität geschenkt haben, die mir so zum Segen geworden sind: Sie und Ihr! Man kommt eben nicht zu sich selbst, wenn man für sich bleibt, sondern indem man miteinander dient. Und wie viel kann man doch schaffen, welche Berge von Aufgaben überwinden, welche Belastungen überstehen, wenn denn Kollegialität gelingt! Das gehört zu jedem Dienst: Belastung und Druck. Damit meine ich nicht die Menge der Arbeit, sondern die Konflikte. Hier muss man die nötigen von den unnötigen unterscheiden: es gibt gute, interessante, zukunftsweisende, heilsame Konflikte, und es gibt – na ja – die anderen. Da gehört es zum Dienst, dass man sich berät, Rollen verteilt und – das haben wir ausgiebig getan – miteinander lacht. Gemeinsames Lachen hilft. Während ihrer ersten Präsidentschaftskandidatur wurde Hillary Clinton gefragt, wie sie diese ständigen Anfeindungen aushielte, worauf sie nur trocken zurückfragte: „Waren Sie schon einmal in einem Kirchenvorstand?“ Na, so schlimm war es für mich nicht. Aber zu meinem Dienst gehörte es auch, Konflikte zu bearbeiten und dabei einigen wenigen als Feindbild zu dienen. Es ist gut, dies als Teil des Dienstes abzubuchen, nicht persönlich zu nehmen und es dann wie die vielen anderen Vorgänge zu vergessen: zdA – zu den Akten. Aber mancher wird zu Recht an mir Anstoß genommen haben. Deshalb bitte alle, denen ich Unrecht getan habe, die ich nicht gesehen habe, denen ich nicht gerecht geworden bin, um Verzeihung. Der pastorale Dienst lebt von der Nähe, aber zu ihr sollte eine Portion Distanz gehören. Nicht alles persönlich nehmen, Distanz wahren, auch das gehört zum Dienst. Nähe ist gut, aber nur, wenn sie mit Distanz verbunden ist. Im kirchlichen Dienst geht es darum, anderen Freiheit zu eröffnen, sie nicht persönlich abhängig zu machen. Nicht selten eröffnet eine gewisse Distanz mehr offene Begegnung als eine besonders feste Umarmung. Es liegt eine Verheißung im Dienst, wenn man ihn so ausübt: einander dienen – in der Wechselseitigkeit guter Kollegialität; jeder mit seiner Begabung – und jeder hat eine, die es manchmal erst zu entdecken gilt; als gute Verwalter (im griechischen Original heißt es: Ökonomen) – nicht als narzisstische Charismatiker, sondern als Verantwortungsfunktionäre, nüchtern und besonnen; als Verwalter der bunten (so heißt es im Original) Gnade Gottes – denn Gottes Gnade ist vielfältig, vielfarbig wie ein Regenbogen, der weit über uns aufgespannt ist. III. „Dient einander, ein jeder mit der Begabung, die er empfangen hat – als die guten Verwalter der bunten Gnade Gottes.“ Über diesen Umweg kommen wir zu uns selbst. In meinem Dienst im Kirchenkreis und in St. Nikolai hat sich mein Leben entfaltet und erfüllt – nicht mein ganzes Leben, nein das gibt es noch anderes (Familie und Freunde, Musik und Bücher, Sport), also nicht mein ganzes Leben, aber ein sehr großer Teil davon. Dafür bin ich sehr dankbar – Ihnen und Euch. Ich erlebe das als eine Gnade, die mir zuteilwurde. Einige werden sich jetzt fragen: Ja, warum geht er denn, wenn der Dienst so schön ist? Da gibt es mehrere Gründe. Es war auch anstrengend. Das sieht man mir ja an. Wichtiger aber ist, dass der Dienst auch Wechsel braucht. Ein Diener sollte regelmäßig etwas Neues probieren. Auch für die Einrichtung, der er dient, ist es gut, wenn regelmäßig andere kommen und es anders machen. So gehört zu einem guten Dienst eben auch, dass andere ihn übernehmen können, weil man als Diener ersetzbar. Nun nehme ich Abschied mit Vorfreude, Wehmut, Dankbarkeit. Ich nehme Abschied von Ihnen und Euch in der Gewissheit, dass wir einander verbunden bleiben – nun nicht mehr dienstlich, dafür persönlich und in der bunten Gnade Gottes. So ziehe ich meine Straße durchaus auch fröhlich. Eines aber bringt mich nahe an die Verzweiflungsgrenze: Ich verliere zwei schöne Titel, bin gleich kein Haupt-, sondern nur noch Pastor. Wie mag das werden? Zum Glück gibt es Rettung. Als ich vor kurzem die Kinderbischöfe aus ihrem Amt verabschiedet habe, ernannten mich Ella, Ronja und Ricky zum „Ehrenkinderbischof auf Lebenszeit“. Das beweist diese Urkunde hier. Wie sich dies auf meine Pensionsansprüche auswirkt, wird im Landeskirchenamt noch geprüft. Wichtiger aber als dieses dienstrechtliche Detail ist, dass drei Mönchskinder aus dem Kinderbischofsgefolge mich gesegnet und beschenkt haben: mit dieser Mitra und diesem Stab. Beide sind wunderschön gearbeitet. Wenn ich also an Titelentzugserscheinungen leide sollte, werde ich diesen Stab nehmen und mir diese Mitra aufsetzen – und dabei an Sie und Euch denken. Und alles ist wieder gut. Also: „Dient einander, ein jeder mit der Begabung, die er empfangen hat – als die guten Verwalter der bunten Gnade Gottes.“
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