Bildung und Sport PI-Symposium „Spuren hinterlassen...“, 27. & 28.10.2015 Schriftliche Workshopdokumentation Workshop Nr.: 2 Thema: Lernen in Beziehung: zwischen Freiheit und Begrenzung Referierende: Dr. Herbert Renz-Polster Diese Dokumentation ist im Rahmen eines Kooperationsprojekts des Pädagogischen Instituts mit der KSFH München und der LMU München entstanden. Die nachfolgenden Aufzeichnungen geben den Eindruck der AutorInnen wieder und sind nicht mit den Referierenden der Workshops abgestimmt. AutorInnen: Martina Baur Pädagogisches Institut • Symposium 2015 • Dokumentation • Workshop: Lernen in Beziehung 1. Wissenschaftlicher Hintergrund zum Workshop Thematisiert wird von Dr. Renz-Polster Erziehung als eine gesellschaftliche Machtfrage, die in der kritischen Erziehungswissenschaft eine bedeutsame Rolle spielt. Hierbei handelt es sich um die Ermittlung von Widersprüchen und Zwängen im Feld der Erziehung und um die Frage nach den gesellschaftlichen Reproduktionsbedingungen, in denen pädagogische Beziehungen und Prozesse stattfinden. Behandelt wird die Frage nach Erziehung im Kontext von Gesellschaft, Macht und Herrschaft unter anderem von Miriam Gebhard (2009) in ihrem Buch „Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen: eine Geschichte der Erziehung im 20. Jahrhundert“. Sie nimmt die Perspektive elterlichen Erziehungsverhaltens zwischen Nähe und Distanz, zwischen Liebe und Norm in einem historischen Abriss ein. Der Einfluss des kulturellen Kontexts auf Erziehung und die damit verbundene Diversität von Erziehungsvorstellungen gewinnt in Folge an Bedeutung. Mit Rekurs auf die Arbeiten von Heidi Keller (z.B. 2011) eröffnet sich eine kulturübergreifende Perspektive auf die kindliche Persönlichkeitsentwicklung. Die Autorin beschreibt aus einer entwicklungspsychologischen Perspektive die erzieherische Praxis im Hinblick auf Kultur, Erziehung, Bildung und die Unterschiedlichkeit von Werten, Normen und Lebensstilen von Menschen. Kulturunabhängig steht jedes Individuum vor der Herausforderung, sich als kompetentes, handlungsfähiges und eigenständiges Wesen zu entwickeln. Welcher übergeordneter Kompetenzen, Metakompetenzen oder „Fundamentalkompetenzen“ bedürfen Kinder, um ein solides Fundament für ihre Entwicklung aufzubauen? Renz-Polster spricht in diesem Zusammenhang von individuellen Entwicklungskompetenzen mit dem Fokus auf die Ausbildung einer Persönlichkeit und einer eigenständigen Identität. Die Kernmetapher des Workshops lautete: „Jedes Kind baut sich im Laufe seiner Entwicklung sein Haus, in dem es sein Leben gestalten kann und vor dessen Herausforderungen es geschützt ist. Jede Kultur und jede Generation wird dabei unterschiedliche architektonische Vorstellungen darüber haben, wie ein Haus aussehen mag. Allen noch so unterschiedlichen Varianten von Häusern ist eines gemeinsam: sie erfüllen ihren Sinn und Zweck nur, wenn sie auf einem soliden Fundament stehen“. Das Fundament als Voraussetzung für Selbstständigkeit, Erfolg und Lebenslanges Lernen weist im Wesentlichen vier Säulen kindlicher Entwicklung auf: (1) Der Begriff Resilienz bezeichnet allgemein die Fähigkeit, erfolgreich mit belastenden Lebenssituationen umzugehen. (2) Der Aufbau exekutiver Kontrolle umfasst unter anderem Selbstregulation und Selbstwirksamkeit. (3) Soziale Kompetenz umfasst Bindungskompetenz, Beziehungsfähigkeit, Empathiefähigkeit, Subjektive Theorien usw. Soziale Kompetenz geht zunächst vom Individuum aus. Hier lassen sich Meilensteine der kindlichen Entwicklung skizzieren, welche unter anderem anhand der Arbeit von Jan Piaget beispielhaft dargestellt werden. Begrifflichkeiten wie Egozentrismus, Objektpermanenz und die Theorie des Geistes werden hierdurch erfahrbar. (4) Kreativität als Wesensmerkmal des Menschen. Das pädagogische Dilemma besteht darin, dass fundamentale Kompetenzen dem Kind nicht vermittelt werden können. „Man kann nicht einem Kind beibringen, wie es mit sich selber klar kommt beziehungsweise können wir Kinder tatsächlich stark machen oder stärken sich Kinder selbst?“ 2 Pädagogisches Institut • Symposium 2015 • Dokumentation • Workshop: Lernen in Beziehung Demzufolge thematisierte der Workshop Inhalte kindlichen Lernens in sozialen Beziehungen anhand Bindung und Exploration. Zunächst umschreibt Bindung die Beziehung zwischen Kind und Bezugsperson. Bowlby, der Gründungsvater der Bindungstheorie, definiert Bindung auch als ein „emotionales Band“ – „a child´s tie to his mother“ (Bowlby 1951, 1987 und 2003). Die differenziertesten Befunde zur Bindungstheorie stammen neben den Arbeiten von Bowlby von Mary Ainsworth, die sich umfassend mit der mütterlichen Feinfühligkeit befassen. Des Weiteren sind hier Untersuchungen aus der Hospitationsforschung von René Spitz und die Untersuchungen zur Eltern-Kind-Interaktion von Papousek und Papousek wegweisend. Zum Bindungssystem steht das Explorationsverhaltenssystem in Korrelation, welches das Bedürfnis des Kindes, Neues zu erkunden, Wissen über die Welt zu erlangen und sich als selbstwirksam zu erleben, umfasst. Demzufolge können Bindung und Exploration als psychologisches Grundbedürfnis und phylogenetisch angelegtes Verhaltenssystem verstanden werden, die sich komplementär zueinander verhalten. Bindung und Exploration sind somit die Basis kindlichen Lernens. An dieser Stelle gewinnt das kindliche Spiel an Bedeutung. Hierzu bietet Brown Stuard (2010) einen wissenschaftlich fundierten Überblick. Anschlussfähig ist auch Gabriele Pohl (2014). Zuletzt sei an dieser Stelle Gerd Schäfer (2008) und seine Publikation zum Thema „Lernen im Lebenslauf. Formale, non-formale und informelle Bildung in früher und mittlerer Kindheit“ genannt. 2. Wesentliche Thesen und Ergebnisse des Workshops • • • • Kindheit ist die Lebensphase, in der es ausschließlich um den fundamentalen Aufbau einer Persönlichkeit geht und Erziehung nur dann einen kindgerechten Rahmen erhält, wenn Kinder dazu befähigt werden, Kreativität, exekutive Selbstkontrolle, soziale Kompetenz und Resilienz entwickeln zu können. Sichere Bindung und Exploration fungieren als Motor kindlicher Entwicklung. Je größer das Vertrauen des Kindes in die Zuverlässigkeit des Fürsorgesystems ist, desto stärker ist das Explorationsverhalten, welches sich u.a. in Spielfreude oder dem Neugierverhalten des Kindes zeigt. Kindorientierte Lernorte sollten keinen pädagogischen Kunstweltcharakter implizieren. Vielmehr geht es darum, Lernwelten zu eröffnen, in denen Kindern selbstwirksam, lebenspraktisch und im Alltag einbezogen sich „Neuem“ zuwenden können. Kinder widmen sich dabei intuitiv neuen Phänomenen. Das „Kinderspiel“ ist ein wesentlicher Bestandteil kindlichen Lernens. Im Allgemeinen weisen die Workshopinhalte Parallelen zur kindlichen Sozialisation aus Sicht der evolutionären Verhaltensforschung auf (vgl. Renz-Polster 2015; Blaffer 2010). 3. Erlebte Wirksamkeitsfaktoren im Workshop Ein Kernelement des Workshops stellte der Erfahrungsaustausch der Teilnehmer_innen dar. Sowohl im Plenum, als auch in Kleingruppenaktivitäten wurden ausgehend von den jeweiligen Aufgabenfeldern (Schule, Kindertagesbetreuung usw.) Räume für Gespräche gewährleistet, woraus sich interessante Diskurse eröffneten. Dadurch wurde eine wirksame Plattform für das Anknüpfen an bereits vorhandene Erfahrungs- und Wissensbereiche geschaffen und Impulse für neue Lerninhalte gegeben. Anschlussfähig an das „Erfahrungslernen“ ist ebenso die Moderation des Workshops durch Dr. Herbert Renz-Polster. Zunächst im Allgemeinen durch die wissenschaftlich fundierte, sprachliche Aufbereitung des Inputs und der visuellen Darstellung vereinzelter Flipcharts und darüber hinaus im Besonderen durch Metaphern, die den Vortrag sehr anschaulich und verständlich machten. Durch die Metaphern wurden Phänomene aus ihren ursprünglichen Zusammenhängen herausgenommen und in pädagogischen Kontexten verwendet. Hierdurch entstanden assoziative Vergleiche, welche analogieähnlich Dinge in ungewohnte Beziehungen zueinander setzten. Dies eröffnete wiederum die individuelle und konstruktivistische Möglichkeit, in Austausch zu treten und neue mit bereits vorhandenen Erfahrungen zu 3 Pädagogisches Institut • Symposium 2015 • Dokumentation • Workshop: Lernen in Beziehung verknüpfen. Die Arbeit mit Metaphern eröffnete im sozialkonstruktivistischen Sinne einen Raum, gemeinsam ein Verständnis von „Lernen in Beziehung: zwischen Freiheit und Begrenzung“ zu konstruieren. Die grundsätzliche Frage der kindlichen Entwicklung und wirksamen Unterstützungsfaktoren hierfür hat eine Basis dafür geschaffen, jede_n Einzelne_n dazu anzuregen, die Thematik auf die individuelle berufliche und alltägliche Lebenssituation zu übertragen. Renz-Polsters Ausführungen im Workshop erfolgten aus der Perspektive der evolutionären Verhaltensforschung. Diese löste Irritationen beziehungsweise kognitive Dissonanzen der Teilnehmer_innen insofern aus, als dass die Pädagog_innen ihr eigenes pädagogisches Handlungsfeld hinsichtlich induktiven und konstruktiven Lern- und Bildungsarrangements hinterfragten und kritisch beleuchteten. Hier seien beispielsweise Programme zur Sprachförderung in der frühen Bildung genannt. Die im Fokus gestandene Lebensphase „Kindheit“ und die daran orientierten Workshopinhalte haben ein Fundament dafür geschaffen, auch andere pädagogische Handlungsfelder hinsichtlich des Lernens in Beziehungen und den damit verbundenen Freiheiten und Grenzen zu eruieren und kritisch zu hinterfragen. 4. Offene Fragen Das Kinderspiel als bedeutsames Element kindlicher Entwicklung wirft die Frage auf, welche Spielbedingungen es bedarf, um Kindern ein entwicklungsförderliches Spielverhalten zu gewähren. Da der Workshop „Lernen in Beziehung: Zwischen Freiheit und Begrenzung“ auf pädagogische Beziehungen verweist, stellen sich zudem die folgenden Fragen: Welche Rolle nehmen einzelne Akteure in Lern- und Bildungspartnerschaften ein? Worin werden Freiheiten und Begrenzungen hinsichtlich der Beziehungsgestaltung gesehen? Worin liegen wesentliche Gemeinsamkeiten und Unterschiede bezüglich Lernbeziehungen in unterschiedlichen Lern- und Bildungsarrangements (im Kontext frühkindlicher Bildung, Schulbildung, Erwachsenenbildung)? 5. Weiterführende Literatur Blaffer Hardy, S. (2010): Mütter und Andere: Wie die Evolution uns zu sozialen Wesen gemacht hat. Berlin: Berlin Verlag. Brown, S. (2010): Play. How it Shapes the Brain, Opens the Imagination, and Invigorates the Soul. New York: Avery Trade. Grossmann, K.E.; Grossmann K. (2003): Bindung und menschliche Entwicklung: John Bowlby, Mary Ainsworth und die Grundlagen der Bindungstheorie. Stuttgart: Klett Cotta Gebhardt, M.(2009): Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen: Eine Geschichte der Erziehung im 20. Jahrhundert. Stuttgart: Deutsche Verlags Anstalt. Keller, H. (2011): Kinderalltag – Kulturen der Kindheit und ihre Bedeutung für Bindung, Bildung und Erziehung. Berlin/Heidelberg: Springer Verlag. Pohl, G. (2014): Kindheit – aufs Spiel gesetzt: Vom Wert des Spielens für die Entwicklung des Kindes. 4. Aufl. Berlin/Heidelberg: Springer Verlag. Renz-Polster, H.; Hüther, G. (2013): Wie Kinder heute wachsen. Natur als Entwicklungsraum. Ein neuer Blick auf das kindliche Lernen, Denken und Fühlen. Weinheim/Basel: Beltz Verlag Renz-Polster, H. (2015): Kinder verstehen. Born to be wild – wie die Evolution unsere Kinder prägt. München: Kösel-Verlag. 4 Pädagogisches Institut • Symposium 2015 • Dokumentation • Workshop: Lernen in Beziehung Schäfer, G.E. (2008): Lernen im Lebenslauf. Formale, non-formale und informelle Bildung in früher und mittlerer Kindheit. Expertise für die Enquetekommission »Chancen für Kinder – Rahmenbedingungen und Steuerungsmöglichkeiten für ein optimales Betreuungs- und Bildungsangebot in Nordrhein-Westfalen« des Landtags von Nordrhein-Westfalen. Köln. Online: www.hf.uni-koeln.de/data/eso/File/Schaefer/LernenImLebenslauf2008.pdf (Stand: 18.12.2015). 5
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