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SEPTEMBER 2015
Das Foto, das diesem Grafiti zugrunde
lag, erschütterte Europa
Reuters, Archiv
EUROPA
SYRIEN
Die Flüchtlings-Katastrophe
Der angeschwollene Strom syrischer Flüchtlinge droht Europa zu spalten.
D
as Foto, das diesem Grafiti zugrunde lag, ging um die
Welt. Es zeigt einen kleinen
syrischen Buben, der seinem
Vater bei der Flucht aus den Händen
geglitten war und nun tot am Strand
lag. Und ein wenig hat es die Welt verändert: Englands Premierminister David Cameron, der ursprünglich gar keine Flüchtlinge ins Land lassen wollte,
will in den nächsten fünf Jahren 20.000
syrische Flüchtlinge aufnehmen.
In Österreich und Deutschland
folgte das Foto einem Ereignis, das die
Menschen schon zuvor zutiefst aufgewühlt hatte: Auf der Autobahn im
Burgenland wurde ein Lastwagen mit
71 verwesenden Leichen aufgefunden.
Durchwegs Menschen, die „Schleppern“ viel Geld dafür bezahlt hatten,
sie über die österreichische Grenze zu
bringen, und die erstickt waren, weil
der Laderaum keine Luft hereinließ.
Als dann im Fernsehen noch gezeigt
wurde, wie in Mazedonien Abertausende Flüchtlinge die Grenze ins EULand Ungarn stürmten, obwohl die
Polizei sie aufzuhalten wollte, und wie
viele zu Fuß weiter nach Österreich
marschierten, war klar: Es herrscht
Notstand. Nicht anders als nach einem
Erdbeben oder einer Überschwem-
mung. Der Krieg in Syrien ist so mörderisch, dass Millionen die Flucht ergriffen haben. Europa steht vor einer
der größten Herausforderungen seit
dem Zweiten Weltkrieg: Es muss mit
diesem Flüchtlingsstrom fertigwerden, denn er wird nicht abreißen.
LIBANON IST AM ÄRMSTEN
Dabei kommen die meisten Flüchtlinge gar nicht bis in die EU: Mindestens 1,2 Millionen wurden vom
kleinen Libanon aufgenommen; mindestens 600.000 von Jordanien; mindestens 1,5 Millionen von der Türkei.
Gemessen an einem kleinen und ar-
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men Land wie dem Libanon erscheint
die Aufgabe der EU zumindest nicht
unlösbar. Aber man war nicht darauf
vorbereitet.
Theoretisch – so wollen es die Regeln, die sich die EU gegeben hat –
sollten die Flüchtlinge dort um Aufnahme ansuchen, wo die meisten von
ihnen ankommen: in Italien oder Spanien, wenn sie in Booten übers Meer
geflohen sind, in Griechenland, wenn
sie den Landweg gewählt haben.
Aber vor allem das arme Griechenland ist mit dieser Aufgabe völlig
überfordert. Die Behörden können
nicht einmal, wie es vorgeschrieben
ist, die Namen der Flüchtlinge und ihre Fingerabdrücke festhalten.
DIE GELOBTEN LÄNDER
Denn bleiben wollen die Flüchtlinge in
Griechenland oder Italien sowieso nicht.
Sie wollen nach Norden – nach Österreich, Deutschland oder Schweden.
Vor allem Schweden hat, gemessen an seiner Bevölkerung, bisher die
meisten Flüchtlinge aufgenommen:
Sie bekommen einfache, aber sichere
Unterkünfte, intensive Sprachkurse
und haben gute Aussichten auf einen Job. Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel will eine ähnliche Politik
betreiben. Denn Deutschlands Bevölkerung schrumpft bis 2050 von 84
auf 74 Millionen – die deutsche Wirtschaft kann Flüchtlinge als Arbeitskräfte brauchen. „Flüchtlinge sind in
Deutschland willkommen“, hat Merkel daher gesagt.
Damit hat sie freilich einen Sturm
ausgelöst: Wer immer auf der Flucht
aus Syrien war oder der Armut entkommen wollte, versuchte, Deutschland so schnell wie möglich zu erreichen. Als an einem einzigen Tag
20.000 Flüchtlinge in München ankamen, mussten die Zugverbindungen
zwischen
Österreich
und Deutschland
eingestellt und die
Grenzen geschlossen werden. Es ist
klar:
Schweden,
Deutschland und
Österreich können
die Flüchtlingskatastrophe unmöglich
alleine bewältigen.
Die anderen Länder Europas müssen
mithelfen.
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Andererseits hat Deutschland, als es
nach dem Krieg auch sehr arm war,
Hunderttausende Vertriebene aus der
damaligen Tschechoslowakei aufgenommen. Das damals noch ziemlich
arme Österreich hat 1956 nach einem
Aufstand in Ungarn 180.000 Ungarn
über seine Grenze gelassen und Tausende sind geblieben. Ebenso 90.000
Tschechen, als 1969 russische Panzer
in Prag einrückten. Westdeutschland
hat Flüchtlingen aus kommunistischen Staaten automatisch die deutsche Staatsbürgerschaft verliehen.
Das alles scheint man von Prag
bis Budapest vergessen zu haben.
Niemand fordert ja, dass diese Staaten so viele Flüchtlinge aufnehmen wie Deutschland oder Schweden – aber doch wenigstens ein paar
Tausend.
WAS KANN DIE EU?
Die EU hat leider keine gesetzliche
Möglichkeit, ihren Mitgliedern die
Aufnahme von Flüchtlingen vorzuschreiben. Sie ist auf deren Hilfsbereitschaft angewiesen.
Allerdings überweist
sie den ärmeren Staaten jedes Jahr Geld
zur Unterstützung
ihrer
Wirtschaft.
Jetzt überlegt man
an der Spitze der EU,
wie weit man diese
Zahlungen einstellen
kann, wenn ein Staat
sich weigert, Flüchtlinge aufzunehmen.
Angela Merkel löste
Überragend ist allereinen Ansturm aus
SCHLECHTE
dings auch die HilfsERINNERUNG
bereitschaft so großer
Leider geht diesbezüglich eine Spal- und wohlhabender Staaten wie Frantung durch die EU: Die ehemals kreich oder Großbritannien nicht:
kommunistischen Länder – Est- Gemeinsam verbarrikadieren sie geland, Lettland, Litauen, Polen, Tsche- rade den französischen Eingang zum
chien, die Slowakei und vor allem Tunnel, der den Ärmelkanal unterUngarn – weigern sich, Flüchtlinge quert. Denn immer wieder springen
aufzunehmen. Bis zu einem gewis- verzweifelte Flüchtlinge auf fahrensen Grad ist das verständlich: Sie al- de Züge, um so nach England zu gele sind weit ärmer als Deutsch- langen. Zehn sind dabei schon umgeland, Österreich oder Schweden. kommen.
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Ein Flüchtlingsstrom durchquert Europa
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Flüchtlinge auf dem Weg nach Österreich
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Das Menschenrecht auf Asyl
Echte Flüchtlinge müssen aufgenommen
werden. Die Frage ist nur, wo und von wem.
D
erzeit stöhnt Österreich unter dem Ansturm von Flüchtlingen. Doch andere Länder
müssen im Verhältnis zu ihrer Bevölkerung noch mehr Anträge
bewältigen, Schweden zum Beispiel.
Kein Land kann sich frei aussuchen,
ob es Flüchtlinge aufnimmt – aber
manche suchen sich aus, ob sie sie
überhaupt hereinlassen. Obwohl auch
das dem Völkerrecht widerspricht.
Denn alle zivilisierten Staaten haben
die „Genfer Flüchtlings-Konvention“
unterzeichnet: einen völkerrechtlichen
Vertrag, der verlangt, Flüchtlingen
„Asyl“ – sichere Zuflucht und Hilfe – zu
gewähren. Allerdings nur, nachdem geprüft wurde, ob es sich auch wirklich
um Flüchtlinge im Sinne der Genfer
Konvention handelt. Das sind sie nur
dann, wenn ihnen in ihrer Heimat wegen ihrer Rasse, ihrer Religion oder ihrer politischen Einstellung Verfolgung
oder gar der Tod droht.
Dass jemand sein Land aus Armut
verlässt, um anderswo ein besseres Leben zu finden, reicht nicht. Es verwirrt,
dass man ihn dennoch meist einen
„Wirtschaftsflüchtling“ nennt. Auch
Krieg reicht nicht, wenn der Betreffende nicht nachweisen kann, dass er aus
relegiösen, rassischen oder politischen
Gründen verfolgt wird. In einem Bürgerkrieg, wie in Syrien ist das aber fast
immer der Fall.
man helfen, indem man die Wirtschaft
ihrer Heimatländer durch Entwicklungshilfe stärkt.
ALLE WOLLEN NACH NORDEN
Um Asyl ansuchen – so wurde im irischen Dublin von der EU beschlossen –
müssen Flüchtlinge eigentlich in dem
Land, das sie zuerst betreten. Das ist
meist Italien oder Griechenland (aber
DER DOPPELTE ZUSTROM
auch Spanien, Zypern oder Malta),
Im Moment gibt es leider unendlich wenn sie übers Mittelmeer kommen.
viele echte FlüchtUnd es ist vor allem
linge: In den Kriegen
Griechenland, wenn sie
in Syrien, im Irak und
auf dem Landweg komin Afghanistan ist so
men. (Immer öfter komgut wie jeder aus irmen allerdings jetzt
gendeinem Grund beauch Flüchtlinge aus der
droht. Gleichzeitig gibt
Ukraine nach Polen.)
es viele WirtschaftsGriechenland mit seiflüchtlinge – sei es
nen großen wirtschaftaus armen afrikalichen
Problemen
nischen Ländern, sei
muss also mit Abstand
es aus Pakistan oder Sebastian Kurz kämpft in der
die meisten Flüchtdem Kosovo. Alle die- EU für eine faire Aufteilung
linge in Empfang nehder
Flüchtlinge
se Menschen wollen
men. Obwohl die EU
gleichermaßen in die EU, weil es hier das in Zukunft mit zusätzlichen Milsowohl Frieden als auch Chancen auf lionen unterstützen will, ist fraglich,
ein besseres Leben gibt. Man muss ob es weiter so funktionieren kann.
den echten Flüchtlingen aber derzeit
Es ist sowieso absurd, dass die Küszweifellos Vorrang vor Wirtschafts- tenländer des Mittelmeeres theoflüchtlingen einräumen. Denen sollte retisch alle Flüchtlinge aufnehmen
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seit Langem Aufnahmezentren
an den Außengrenzen zur EU, in
Syrien und seinen Nachbarländern. Dort sollte geprüft werden, wer wirklich Anspruch auf
Asyl hat – dann sollte er auf gesetzlichem Weg in die EU einreisen dürfen.
DIE WIDERSPENSTIGEN
Die überforderten Griechen
winken die Flüchtlinge durch
müssten, sollten sich keine anderen
Länder zu ihrer Aufnahme bereitfinden. In der Praxis haben Italien und
Griechenland die Flüchtlinge daher immer öfter nur „durchgewunken“ und
in Griechenland oft nicht einmal mit
Namen und Fingerabdruck registriert.
Nicht zuletzt, weil die Flüchtlinge
sowieso unbedingt nach Mittel- und
Nordeuropa wollen, weil sie dort größere berufliche Chancen sehen und
meist auch eher mit der Bewilligung
ihres Asyl-Antrages rechnen können.
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PROBLEMATISCHE REGELN
Vor allem Schweden und Deutschland, aber auch Norwegen und Österreich haben tatsächlich vielen von ihnen Asyl gewährt und kaum welche
zurückgeschickt. (Denn das dürften
sie, weil eben primär das Land für den
Flüchtling zuständig ist, das er zuerst
betreten hat.) Diese paar Länder können aber unmöglich weiterhin zwei
Drittel aller Flüchtlinge aufnehmen.
Es muss endlich eine Regel für ihre
faire Aufteilung auf alle Länder Europas beschlossen werden: Jedes Land, so
fordert Außenminister Sebastian Kurz
bei jeder Tagung der EU, muss einen
bestimmten Anteil – eine bestimmte
„Quote“ – der gemeinsamen Aufgabe
erfüllen. Auch die bestehende Regel,
dass primär das Land für Flüchtlinge
zuständig ist, das sie zuerst betreten,
ist höchst problematisch: Sie erzeugt
„Schlepper“, die bereit sind, die Flüchtlinge für Geld im Auto in ihr Wunschland zu schmuggeln. Innenministerin
Johanna Mikl-Leitner fordert daher
Aber vorerst gibt es weder die
„Quoten“ noch die Aufnahmezentren. Vor allem die ehemals
kommunistischen Staaten der
EU wollen von Quoten nichts
wissen – obwohl gerade Österreich und Deutschland seinerzeit besonders viele ungarische
oder tschechische Flüchtlinge
aufgenommen haben, die der
kommunistischen Diktatur entkommen wollten. Sie führen
ins Treffen, dass sie selbst noch
große Probleme haben – und sicher müsste man ihre geringere
wirtschaftliche Leistungsfähigkeit bei einer fairen Quotenregelung berücksichtigen. Das
bietet die EU auch an – aber bisher sind alle Bemühungen fehlgeschlagen. Denn leider sind
auch große, wohlhabende Länder wie Großbritannien oder
Frankreich bei der Aufnahme
von Flüchtlingen nicht nur zur
Aufnahme von erstaunlich wenigen Flüchtlingen bereit (siehe
Kasten).
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InfoiBox
Eine faire Quotenregelung
sollte zweifellos die wirtschaftliche Stärke
eines Landes (das BIP pro Kopf) berücksichtigen. Nicht minder muss berücksichtigt werden, wie viele Asyl-Ansuchen auf
tausend Einwohner kommen und wie viele
davon bewilligt werden.
Im Jahr 2014 stellte laut der Statistikbehörde Eurostat einer von drei Asylbewerbern, der nach Europa kam, seinen AsylAntrag in Deutschland. Das ergab für die
Bundesrepublik mit ihren 84 Millionen Einwohnern 202.645 Anträge. Nach Griechenland kamen zwar 43.500 Flüchtlinge über
das Mittelmeer, es wurden aber nur etwa
9.430 Asyl-Anträge gestellt, weil das dort
einfach nicht funktioniert.
Deutschland nahm 2014 in absoluten Zahlen die meisten Flüchtlinge auf, bezogen auf
die Einwohnerzahl aber keineswegs. Da kamen 2014 nur 2,5 Asylwerber auf 1.000 Einwohner. In Österreich waren es mit 3,3 Anträgen pro 1.000 Einwohner deutlich mehr.
2015 dürfte Deutschland allerdings die größte Steigerung der Antrags-Zahl erleben.
Dass ein Antrag gestellt wurde, heißt übrigens noch keineswegs, dass er bewilligt
wird, wohl aber, dass man mit den eingereisten Menschen etwas tun muss. Ungarn z. B.
bewilligt nur sieben Prozent der Anträge
und schickt die Leute möglichst weiter. Die
wollen sowieso am liebsten nach Schweden.
Aber auch nach Deutschland, das 2014 rund
26 Prozent, oder Österreich, das 29 Prozent
der Anträge bewilligte.
Peter M. Lingens | [email protected]
Auf einen Einwohner kam 2014 das nachfolgende reale BIP.1
Und auf 1.000 Einwohner die nachfolgende Zahl von Asylanträgen
SCHWEDEN: reales BIP/Kopf 40.400 €
UNGARN: reales BIP/Kopf 10.500 €
ÖSTERREICH: reales BIP/Kopf 36.000 €
MALTA: reales BIP/Kopf 17.200 €
SCHWEIZ: reales BIP/Kopf 56.900 €
DÄNEMARK: reales BIP/Kopf 43.500 €
DEUTSCHLAND: reales BIP/Kopf 33.200 €
NORWEGEN: reales BIP/Kopf 67.300 €
FRANKREICH: reales BIP/Kopf 31.100 €
GROSSBRITANNIEN: reales BIP/Kopf 30.200 €
TSCHECHIEN: reales BIP/Kopf 15.200 €
1
Das reale BIP berücksichtigt die Kaufkraft
7,8 Asylanträge auf 1.000 EW
4,2 Asylanträge/1.000 EW
3,3 Asylanträge/1.000 EW
3 Asylanträge/1.000 EW
2,7 Asylanträge/1.000 EW
2,6 Asylanträge/1.000 EW
2,5 Asylanträge/1.000 EW
2,5 Asylanträge/1.000 EW
0,9 Asylanträge/1.000 EW
0,5 Asylanträge/1.000 EW
0,09 Asylanträge/1.000 EW