www.lehrerservice.at aktuell ONLINE das junge Magazin AUSGABE 24 l SEPTEMBER 2015 Das Foto, das diesem Grafiti zugrunde lag, erschütterte Europa Reuters, Archiv EUROPA SYRIEN Die Flüchtlings-Katastrophe Der angeschwollene Strom syrischer Flüchtlinge droht Europa zu spalten. D as Foto, das diesem Grafiti zugrunde lag, ging um die Welt. Es zeigt einen kleinen syrischen Buben, der seinem Vater bei der Flucht aus den Händen geglitten war und nun tot am Strand lag. Und ein wenig hat es die Welt verändert: Englands Premierminister David Cameron, der ursprünglich gar keine Flüchtlinge ins Land lassen wollte, will in den nächsten fünf Jahren 20.000 syrische Flüchtlinge aufnehmen. In Österreich und Deutschland folgte das Foto einem Ereignis, das die Menschen schon zuvor zutiefst aufgewühlt hatte: Auf der Autobahn im Burgenland wurde ein Lastwagen mit 71 verwesenden Leichen aufgefunden. Durchwegs Menschen, die „Schleppern“ viel Geld dafür bezahlt hatten, sie über die österreichische Grenze zu bringen, und die erstickt waren, weil der Laderaum keine Luft hereinließ. Als dann im Fernsehen noch gezeigt wurde, wie in Mazedonien Abertausende Flüchtlinge die Grenze ins EULand Ungarn stürmten, obwohl die Polizei sie aufzuhalten wollte, und wie viele zu Fuß weiter nach Österreich marschierten, war klar: Es herrscht Notstand. Nicht anders als nach einem Erdbeben oder einer Überschwem- mung. Der Krieg in Syrien ist so mörderisch, dass Millionen die Flucht ergriffen haben. Europa steht vor einer der größten Herausforderungen seit dem Zweiten Weltkrieg: Es muss mit diesem Flüchtlingsstrom fertigwerden, denn er wird nicht abreißen. LIBANON IST AM ÄRMSTEN Dabei kommen die meisten Flüchtlinge gar nicht bis in die EU: Mindestens 1,2 Millionen wurden vom kleinen Libanon aufgenommen; mindestens 600.000 von Jordanien; mindestens 1,5 Millionen von der Türkei. Gemessen an einem kleinen und ar- < TOPICaktuell ONLINE – ab sofort auf www.lehrerservice.at AUSGABE 24 men Land wie dem Libanon erscheint die Aufgabe der EU zumindest nicht unlösbar. Aber man war nicht darauf vorbereitet. Theoretisch – so wollen es die Regeln, die sich die EU gegeben hat – sollten die Flüchtlinge dort um Aufnahme ansuchen, wo die meisten von ihnen ankommen: in Italien oder Spanien, wenn sie in Booten übers Meer geflohen sind, in Griechenland, wenn sie den Landweg gewählt haben. Aber vor allem das arme Griechenland ist mit dieser Aufgabe völlig überfordert. Die Behörden können nicht einmal, wie es vorgeschrieben ist, die Namen der Flüchtlinge und ihre Fingerabdrücke festhalten. DIE GELOBTEN LÄNDER Denn bleiben wollen die Flüchtlinge in Griechenland oder Italien sowieso nicht. Sie wollen nach Norden – nach Österreich, Deutschland oder Schweden. Vor allem Schweden hat, gemessen an seiner Bevölkerung, bisher die meisten Flüchtlinge aufgenommen: Sie bekommen einfache, aber sichere Unterkünfte, intensive Sprachkurse und haben gute Aussichten auf einen Job. Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel will eine ähnliche Politik betreiben. Denn Deutschlands Bevölkerung schrumpft bis 2050 von 84 auf 74 Millionen – die deutsche Wirtschaft kann Flüchtlinge als Arbeitskräfte brauchen. „Flüchtlinge sind in Deutschland willkommen“, hat Merkel daher gesagt. Damit hat sie freilich einen Sturm ausgelöst: Wer immer auf der Flucht aus Syrien war oder der Armut entkommen wollte, versuchte, Deutschland so schnell wie möglich zu erreichen. Als an einem einzigen Tag 20.000 Flüchtlinge in München ankamen, mussten die Zugverbindungen zwischen Österreich und Deutschland eingestellt und die Grenzen geschlossen werden. Es ist klar: Schweden, Deutschland und Österreich können die Flüchtlingskatastrophe unmöglich alleine bewältigen. Die anderen Länder Europas müssen mithelfen. SEPTEMBER 2015 l SEITE 2 Andererseits hat Deutschland, als es nach dem Krieg auch sehr arm war, Hunderttausende Vertriebene aus der damaligen Tschechoslowakei aufgenommen. Das damals noch ziemlich arme Österreich hat 1956 nach einem Aufstand in Ungarn 180.000 Ungarn über seine Grenze gelassen und Tausende sind geblieben. Ebenso 90.000 Tschechen, als 1969 russische Panzer in Prag einrückten. Westdeutschland hat Flüchtlingen aus kommunistischen Staaten automatisch die deutsche Staatsbürgerschaft verliehen. Das alles scheint man von Prag bis Budapest vergessen zu haben. Niemand fordert ja, dass diese Staaten so viele Flüchtlinge aufnehmen wie Deutschland oder Schweden – aber doch wenigstens ein paar Tausend. WAS KANN DIE EU? Die EU hat leider keine gesetzliche Möglichkeit, ihren Mitgliedern die Aufnahme von Flüchtlingen vorzuschreiben. Sie ist auf deren Hilfsbereitschaft angewiesen. Allerdings überweist sie den ärmeren Staaten jedes Jahr Geld zur Unterstützung ihrer Wirtschaft. Jetzt überlegt man an der Spitze der EU, wie weit man diese Zahlungen einstellen kann, wenn ein Staat sich weigert, Flüchtlinge aufzunehmen. Angela Merkel löste Überragend ist allereinen Ansturm aus SCHLECHTE dings auch die HilfsERINNERUNG bereitschaft so großer Leider geht diesbezüglich eine Spal- und wohlhabender Staaten wie Frantung durch die EU: Die ehemals kreich oder Großbritannien nicht: kommunistischen Länder – Est- Gemeinsam verbarrikadieren sie geland, Lettland, Litauen, Polen, Tsche- rade den französischen Eingang zum chien, die Slowakei und vor allem Tunnel, der den Ärmelkanal unterUngarn – weigern sich, Flüchtlinge quert. Denn immer wieder springen aufzunehmen. Bis zu einem gewis- verzweifelte Flüchtlinge auf fahrensen Grad ist das verständlich: Sie al- de Züge, um so nach England zu gele sind weit ärmer als Deutsch- langen. Zehn sind dabei schon umgeland, Österreich oder Schweden. kommen. < Picturedesk (2) Ein Flüchtlingsstrom durchquert Europa l AUSGABE 24 l SEPTEMBER 2015 l SEITE 3 Flüchtlinge auf dem Weg nach Österreich Picturedesk (2) TOPICaktuell ONLINE – ab sofort auf www.lehrerservice.at Das Menschenrecht auf Asyl Echte Flüchtlinge müssen aufgenommen werden. Die Frage ist nur, wo und von wem. D erzeit stöhnt Österreich unter dem Ansturm von Flüchtlingen. Doch andere Länder müssen im Verhältnis zu ihrer Bevölkerung noch mehr Anträge bewältigen, Schweden zum Beispiel. Kein Land kann sich frei aussuchen, ob es Flüchtlinge aufnimmt – aber manche suchen sich aus, ob sie sie überhaupt hereinlassen. Obwohl auch das dem Völkerrecht widerspricht. Denn alle zivilisierten Staaten haben die „Genfer Flüchtlings-Konvention“ unterzeichnet: einen völkerrechtlichen Vertrag, der verlangt, Flüchtlingen „Asyl“ – sichere Zuflucht und Hilfe – zu gewähren. Allerdings nur, nachdem geprüft wurde, ob es sich auch wirklich um Flüchtlinge im Sinne der Genfer Konvention handelt. Das sind sie nur dann, wenn ihnen in ihrer Heimat wegen ihrer Rasse, ihrer Religion oder ihrer politischen Einstellung Verfolgung oder gar der Tod droht. Dass jemand sein Land aus Armut verlässt, um anderswo ein besseres Leben zu finden, reicht nicht. Es verwirrt, dass man ihn dennoch meist einen „Wirtschaftsflüchtling“ nennt. Auch Krieg reicht nicht, wenn der Betreffende nicht nachweisen kann, dass er aus relegiösen, rassischen oder politischen Gründen verfolgt wird. In einem Bürgerkrieg, wie in Syrien ist das aber fast immer der Fall. man helfen, indem man die Wirtschaft ihrer Heimatländer durch Entwicklungshilfe stärkt. ALLE WOLLEN NACH NORDEN Um Asyl ansuchen – so wurde im irischen Dublin von der EU beschlossen – müssen Flüchtlinge eigentlich in dem Land, das sie zuerst betreten. Das ist meist Italien oder Griechenland (aber DER DOPPELTE ZUSTROM auch Spanien, Zypern oder Malta), Im Moment gibt es leider unendlich wenn sie übers Mittelmeer kommen. viele echte FlüchtUnd es ist vor allem linge: In den Kriegen Griechenland, wenn sie in Syrien, im Irak und auf dem Landweg komin Afghanistan ist so men. (Immer öfter komgut wie jeder aus irmen allerdings jetzt gendeinem Grund beauch Flüchtlinge aus der droht. Gleichzeitig gibt Ukraine nach Polen.) es viele WirtschaftsGriechenland mit seiflüchtlinge – sei es nen großen wirtschaftaus armen afrikalichen Problemen nischen Ländern, sei muss also mit Abstand es aus Pakistan oder Sebastian Kurz kämpft in der die meisten Flüchtdem Kosovo. Alle die- EU für eine faire Aufteilung linge in Empfang nehder Flüchtlinge se Menschen wollen men. Obwohl die EU gleichermaßen in die EU, weil es hier das in Zukunft mit zusätzlichen Milsowohl Frieden als auch Chancen auf lionen unterstützen will, ist fraglich, ein besseres Leben gibt. Man muss ob es weiter so funktionieren kann. den echten Flüchtlingen aber derzeit Es ist sowieso absurd, dass die Küszweifellos Vorrang vor Wirtschafts- tenländer des Mittelmeeres theoflüchtlingen einräumen. Denen sollte retisch alle Flüchtlinge aufnehmen < TOPICaktuell ONLINE – ab sofort auf www.lehrerservice.at AUSGABE 24 seit Langem Aufnahmezentren an den Außengrenzen zur EU, in Syrien und seinen Nachbarländern. Dort sollte geprüft werden, wer wirklich Anspruch auf Asyl hat – dann sollte er auf gesetzlichem Weg in die EU einreisen dürfen. DIE WIDERSPENSTIGEN Die überforderten Griechen winken die Flüchtlinge durch müssten, sollten sich keine anderen Länder zu ihrer Aufnahme bereitfinden. In der Praxis haben Italien und Griechenland die Flüchtlinge daher immer öfter nur „durchgewunken“ und in Griechenland oft nicht einmal mit Namen und Fingerabdruck registriert. Nicht zuletzt, weil die Flüchtlinge sowieso unbedingt nach Mittel- und Nordeuropa wollen, weil sie dort größere berufliche Chancen sehen und meist auch eher mit der Bewilligung ihres Asyl-Antrages rechnen können. Picturedesk PROBLEMATISCHE REGELN Vor allem Schweden und Deutschland, aber auch Norwegen und Österreich haben tatsächlich vielen von ihnen Asyl gewährt und kaum welche zurückgeschickt. (Denn das dürften sie, weil eben primär das Land für den Flüchtling zuständig ist, das er zuerst betreten hat.) Diese paar Länder können aber unmöglich weiterhin zwei Drittel aller Flüchtlinge aufnehmen. Es muss endlich eine Regel für ihre faire Aufteilung auf alle Länder Europas beschlossen werden: Jedes Land, so fordert Außenminister Sebastian Kurz bei jeder Tagung der EU, muss einen bestimmten Anteil – eine bestimmte „Quote“ – der gemeinsamen Aufgabe erfüllen. Auch die bestehende Regel, dass primär das Land für Flüchtlinge zuständig ist, das sie zuerst betreten, ist höchst problematisch: Sie erzeugt „Schlepper“, die bereit sind, die Flüchtlinge für Geld im Auto in ihr Wunschland zu schmuggeln. Innenministerin Johanna Mikl-Leitner fordert daher Aber vorerst gibt es weder die „Quoten“ noch die Aufnahmezentren. Vor allem die ehemals kommunistischen Staaten der EU wollen von Quoten nichts wissen – obwohl gerade Österreich und Deutschland seinerzeit besonders viele ungarische oder tschechische Flüchtlinge aufgenommen haben, die der kommunistischen Diktatur entkommen wollten. Sie führen ins Treffen, dass sie selbst noch große Probleme haben – und sicher müsste man ihre geringere wirtschaftliche Leistungsfähigkeit bei einer fairen Quotenregelung berücksichtigen. Das bietet die EU auch an – aber bisher sind alle Bemühungen fehlgeschlagen. Denn leider sind auch große, wohlhabende Länder wie Großbritannien oder Frankreich bei der Aufnahme von Flüchtlingen nicht nur zur Aufnahme von erstaunlich wenigen Flüchtlingen bereit (siehe Kasten). l SEPTEMBER 2015 l SEITE 4 InfoiBox Eine faire Quotenregelung sollte zweifellos die wirtschaftliche Stärke eines Landes (das BIP pro Kopf) berücksichtigen. Nicht minder muss berücksichtigt werden, wie viele Asyl-Ansuchen auf tausend Einwohner kommen und wie viele davon bewilligt werden. Im Jahr 2014 stellte laut der Statistikbehörde Eurostat einer von drei Asylbewerbern, der nach Europa kam, seinen AsylAntrag in Deutschland. Das ergab für die Bundesrepublik mit ihren 84 Millionen Einwohnern 202.645 Anträge. Nach Griechenland kamen zwar 43.500 Flüchtlinge über das Mittelmeer, es wurden aber nur etwa 9.430 Asyl-Anträge gestellt, weil das dort einfach nicht funktioniert. Deutschland nahm 2014 in absoluten Zahlen die meisten Flüchtlinge auf, bezogen auf die Einwohnerzahl aber keineswegs. Da kamen 2014 nur 2,5 Asylwerber auf 1.000 Einwohner. In Österreich waren es mit 3,3 Anträgen pro 1.000 Einwohner deutlich mehr. 2015 dürfte Deutschland allerdings die größte Steigerung der Antrags-Zahl erleben. Dass ein Antrag gestellt wurde, heißt übrigens noch keineswegs, dass er bewilligt wird, wohl aber, dass man mit den eingereisten Menschen etwas tun muss. Ungarn z. B. bewilligt nur sieben Prozent der Anträge und schickt die Leute möglichst weiter. Die wollen sowieso am liebsten nach Schweden. Aber auch nach Deutschland, das 2014 rund 26 Prozent, oder Österreich, das 29 Prozent der Anträge bewilligte. Peter M. Lingens | [email protected] Auf einen Einwohner kam 2014 das nachfolgende reale BIP.1 Und auf 1.000 Einwohner die nachfolgende Zahl von Asylanträgen SCHWEDEN: reales BIP/Kopf 40.400 € UNGARN: reales BIP/Kopf 10.500 € ÖSTERREICH: reales BIP/Kopf 36.000 € MALTA: reales BIP/Kopf 17.200 € SCHWEIZ: reales BIP/Kopf 56.900 € DÄNEMARK: reales BIP/Kopf 43.500 € DEUTSCHLAND: reales BIP/Kopf 33.200 € NORWEGEN: reales BIP/Kopf 67.300 € FRANKREICH: reales BIP/Kopf 31.100 € GROSSBRITANNIEN: reales BIP/Kopf 30.200 € TSCHECHIEN: reales BIP/Kopf 15.200 € 1 Das reale BIP berücksichtigt die Kaufkraft 7,8 Asylanträge auf 1.000 EW 4,2 Asylanträge/1.000 EW 3,3 Asylanträge/1.000 EW 3 Asylanträge/1.000 EW 2,7 Asylanträge/1.000 EW 2,6 Asylanträge/1.000 EW 2,5 Asylanträge/1.000 EW 2,5 Asylanträge/1.000 EW 0,9 Asylanträge/1.000 EW 0,5 Asylanträge/1.000 EW 0,09 Asylanträge/1.000 EW
© Copyright 2024 ExpyDoc