KULTUR www.morgenweb.de Montag 15. JUNI 2015 / Seite 28 Klassik: Trio Catch spielt lauter allerneueste Musik Extrem zerbrechlich Ihre Hörer wollen sie sich förmlich krallen, die drei Klarinette, Cello und Klavier spielenden jungen Frauen. Folgerichtig nennen sie sich Trio Catch. Und diese offensive Ausrichtung empfiehlt sich auch, will man die zeitgenössische Musik aus ihrer relativen Ghetto-Existenz herausführen. Dazu gehören neue Formen der Musikvermittlung, etwa an den Schulen. Doch im Kerngeschäft, dem öffentlichen Auftritt, bleibt das Trio auf das Wesentliche konzentriert, und „Contenance“, das erste Stück im Waldeck-Saal der REM, ist Programm. Geschrieben hat es der aus Heidelberg stammende junge Komponist Benjamin Helmer. Jeden falschen Überschwang vermeidet es beflissen, es kennt eher punktuelle Klangereignisse. Viel Pizzicato und Staccato. Pianistin Sun-Young Nam steht meistens, weil sie ihrem Flügel in die Eingeweide greifen muss. Unendlichkeit der Möglichkeiten Auch „Sanh“, ein Werk des früh verstorbenen Christophe Bertrand, steckt voller kunstvoll abgezirkelter Musik. Wiewohl sie expressiver und dynamischer als die von Helmer ist. Und „Rajzok“ („Zeichnungen“), Teil III, von Márton Illés gibt sich ebenfalls sehr hellhörig, mit feinen Klanglegierungen eines mit Hilfe eines EPianos minimal verfremdeten, gewissermaßen „schielenden“ Klaviers, wie Illés schreibt und sagt. Er ist in Mannheim anwesend, genau wie sein Kollege Helmer. Denn auch das hat man erkannt: Der Kommunikationsprozess wird immer wichtiger, mit kryptischen Programmheftkommentaren ist es in der zeitgenössischen Musik nicht mehr getan. So unterhält sich Moderator Sidney Corbett auch mit seinem alten Mitstudenten Manfred Stahnke, aus dem längst ein Hamburger Musikhochschulprofessor wurde. Stahnke ist geradezu euphorisch, schwärmt von der Unendlichkeit der Möglichkeiten auf dem Feld der (Mikro-) Töne. Auch wenn das im Stück „Der Vogel ist sterblich“ trotz beschwörenden Gedichttitels nur eingeschränkt zum Ausdruck kommt. HGF Helene Grass bei der Lesung. Der Zeuge einer Verschwörung Von unserem Mitarbeiter Gebhard Hölzl Erinnerungen an Alan J. Pakulas „Trilogie der Paranoia“, besonders an „Die Unbestechlichen“ aus dem Jahr 1976, in dem Dustin Hoffman und Robert Redford als „Washington Post“-Reporter Carl Bernstein und Bob Woodward im „Watergate“Skandal ermitteln und schließlich Präsident Richard Nixon zu Fall bringen, werden bei „Die Lügen der Sieger“ wach. Ebenfalls im Zeitungsmilieu spielt das Politdrama von Christoph Hochhäusler („Falscher Bekenner“), der ein aktuelles Thema aufgreift: die Auseinandersetzung mit Macht, Lobbyismus und die Manipulation von Medien. Um gezielte Indiskretionen, lancierte Halbwahrheiten und die Jagd nach der großen Enthüllungsstory geht es. Einen Blick auf die Akteure jenseits der öffentlichen Bühne wirft der Regisseur und Co-Autor und offenbart, wie sie im Hintergrund Strippen ziehen, politische und journalistische Prozesse beeinflussen und steuern. Ziemlich schonungslos Für Helene Grass ist es ein sichtlich schwerer Auftritt, bei dem die Schauspielerin ihre Gefühle nicht zeigen will. Ganz in Schwarz steht die 40Jährige gestern in Göttingen auf der Bühne des Deutschen Theaters und liest am Stehpult erstmals öffentlich aus dem letzten Buch ihres im April gestorbenen Vaters, des Literaturnobelpreisträgers Günter Grass. Das Buch „Vonne Endlichkait“ soll im August erscheinen. Nach der Lesung als Kernstück der Matinee „Federleicht vogelfrei sein“ antwortet sie auf die Frage, wie schwer ihr dies gefallen sei: „Das ist mir zu persönlich.“ Für den Germanisten Heinrich Detering ist das letzte Werk „ein Buch aus einem Guss“. Es gehe „ziemlich schonungslos um das Sterben und um das Leben davor, also auch um Sinnfragen, um das Nichts und die Frage nach Gott – aber immer im ganz konkreten physischen, leiblichen, sinnlichen Hier und Jetzt. dpa Künstler haben eine Petition wegen „anti-demokratischer Schritte“ gegen die neue Kulturministerin Miri Regev unterzeichnet. Regev gehört zum rechten Rand der konservativen Regierungspartei Likud. Sie hatte mit Kürzungen der Budgets von Kultureinrichtungen gedroht, sollten diese Israel in schlechtem Licht darstellen. Die Likud-Partei wurde im März stärkste Kraft im Parlament. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu bildete danach eine rechts-religiöse Koalition. dpa Richtfest ist die Baustelle des Berliner Schlosses am Wochenende für Neugierige geöffnet gewesen. Zwei Tage lang tummelten sich Besucher im Rohbau an der Prachtstraße Unter den Linden in Berlin-Mitte. Sie wurden über das Kunst- und Kulturzentrum Humboldt Forum informiert, das bis Ende 2019 dort entstehen soll. Zudem gab es ein Musikprogramm und für zehn Euro als Andenken eine Rosenart namens „Berliner Schloss“. dpa Petri: Theater ist anstrengend BAD HERSFELD. Schauspielerin Nina Sie suchen „Die Lügen der Sieger“: Lilith Stangenberg (Praktikantin Nadja Koltes), Florian David Fitz (Fabian Groys). Florian David Fitz – vielseitig begabter Familienmensch : Populär machten Florian David Fitz seine Parts in den Serien „Doctor Martin“ und „Doctor’s Diary“. Den Durchbruch schaffte er 2010, mit dem Deutschen Filmpreis ausgezeichnet, im Roadmovie „Vincent will Meer“, dessen Drehbuch er auch schrieb. : Geboren 1974 in München, ging Hauptdarsteller“ hatte er da schon für seine Leistung in „Meine verrückte türkische Hochzeit“ (2007) gewonnen. Fitz nach dem Abitur nach Boston und studierte Schauspiel und Musik. Nach dem Diplom spielte er ab 1998 in New York. Ein Theaterengagement brachte ihn zurück an die Isar, wo er 1999 in seinem ersten TV-Film „Das Psycho-Girl“ besetzt wurde. Auch spielte er in „Die Vermessung der Welt“. Der erklärte Familienmensch lebt mit seinem Hund Würschtl in München. geh Damen in schmucken, sündteuren Kostümen. Groys selbst fährt Porsche, ein schickes Retro-Modell, das er zwischendurch versetzt, um das beim Glücksspiel verlorene Geld termingerecht an seinen (noch nicht einmal unfreundlichen) Kredithai zurückzuzahlen. Dem Thema Investmentbanking hat sich der Filmemacher in „Unter dir die Stadt“ gewidmet, ein mindestens ebenso undurchsichtiges Geschäft wie die Vermittlung von (Un-) Wahrheiten. Verschachtelt sind die Bilder, hinter spiegelnden Glasfassaden und poliertem Stahl agieren die Protagonisten. Man sieht – und doch nicht. Oft weiß man nicht genau, wo die Kamera „hinschaut“ – und zu hören sind häufig nur Sprachfetzen. Von einer „musikalischen Montage“ spricht Hochhäusler, das Geschehen wird nicht mehr nur abgebildet, sondern gleich „kommentiert“, die Zeit manchmal gerafft, Bild- und Tonebene driften ausei- : Einen Grimme-Preis als „Bester BILD: VERLEIH nander. Michelangelo Antonionis Tennisszene aus „Blow Up“, bei der ohne Ball „gespielt“ wird, mag als stilbildende Grundidee gedient haben. Nichts mehr von der spröden „Berliner Schule“, der man den Filmemacher gerne zurechnet, ist zu spüren. Alle Genre-relevanten Elemente sind vorhanden, lustvoll werden sie durcheinandergewirbelt. Mit Florian David Fitz kann man sich gut identifizieren, souverän ist er, sympathisch und gleichzeitig von Selbstzweifeln geplagt. Ein normaler Mann, der sich auf eine Affäre mit seiner leicht naiven Mitarbeiterin einlässt und dann erstaunt feststellt, dass er sich in sie verliebt hat. Cleverer „human touch“ in einem spannenden, formal großartig umgesetzten Thriller, der mit einer pessimistischen Coda schließt: „Geschichte wird gemacht aus den Lügen der Sieger. Aber man würde es nicht erkennen an den Titeln der Bücher“. w Mehr Kino und Videos: morgenweb.de/kino Straßenmusiker nuckelt am Joint Es werden Klischees bedient: Der Müllmann heißt Mustafa (Felix Schultze) und ist türkischer Abstammung. Die feine Lotte (Bettina Robl) hat ihren Gatten Günther (Andreas Nußbeck) fest im Griff und dominiert zudem ihren schüchternen rothaarigen Sohn Lars (Alexander Schweiß). Und die bayrischen Touristen mit Namen Seppl (Michael Knapp) und Rosi (Rosi Dengel) scheinen etwas „deppert“, latschen bekleidet mit Lederhose und Dirndl über die Reeperbahn und lassen sich am Ende auch noch ihren Fotoapparat stibitzen. In St. Pauli spielt das Musical „Heiße Ecke“, das jetzt auf der Mannheimer Freilichtbühne Premiere hatte und mit dem die diesjährige Sommersaison eröffnet wurde. 2003 wurde das Stück in „Schmidts TIVOLI“ in der Hansestadt uraufgeführt und ist seitdem dort ein Dauerbrenner. Regisseur und musikalischer Leiter JERUSALEM. Mehr als 2000 israelische BERLIN. Gleich im Anschluss an das Schauspiel: Bei der bejubelten Premiere der Komödie „Heiße Ecke“ an der Freilichtbühne Mannheim gehen die Songs zu Herzen Von unserer Mitarbeiterin Bettina Henkelmann Ärger um Kulturministerin Berliner stürmen auf Baustelle Fakt mischt sich mit Fiktion Fabian Groys (Florian David Fitz) heißt der Held, er ist ein renommierter Journalist in der Hauptstadtredaktion eines Nachrichtenmagazins, das wohl nicht von ungefähr an „Spiegel“ und „Stern“ erinnert. Gemeinsam mit Nadja (Lilith Stangenberg), einer ihm gegen seinen Willen zugeteilten, ebenso begabten wie ehrgeizigen Praktikantin, recherchiert er über die zweifelhafte Invalidenpolitik der Bundeswehr. Als sie ihm wegbricht, weil sein Informant unerwartet nicht liefert, wendet sich Groys einem Giftmüllskandal zu. Und dann mehren sich die Anzeichen, dass die beiden Geschichten irgendwie zusammenhängen, und die Story nimmt richtig Fahrt auf. . . Der Whistleblower Edward Snowden, der Hackerangriff auf die Sony-Studios, die NSA-Abhöraffäre . . . Zig reale „Vorbilder“ lassen sich für Hochhäuslers Arbeit finden – wie auch für seinen (Kino-)Helden. Ein diesbezüglich direkter Verweis läuft auf einem Fernseher. Zu sehen ist ein Clip aus Richard Brooks’ „Die Maske runter“. Journalist Humphrey Bogart äußert den berühmten Satz: „That’s the press, baby, the press, and there’s nothing you can do about it, nothing“ – verkürzt: „die Presse kann tun, was sie will.“ Und das ist durchaus doppeldeutig gemeint. Fakt mischt sich spielerisch mit Fiktion. Keine finsteren, narbigen Bösewichte agieren hier, nur elegant gewandete Herren und MORGEN UMSCHAU Der neue Film: Florian David Fitz spielt im brillanten Paranoia-Thriller „Die Lügen der Sieger“ einen Enthüllungsjournalisten BILD: DPA Literatur: Grass-Tochter liest auf dem letzten Buch ihres Vaters MANNHEIMER Thomas Nauwartat-Schultze holte nun den Kiez mit seinen halbseidenen Mädchen, schweren Jungs, wehmütigen Liebespaaren, Touristen und Junggesellen vor die aufwendig gestaltete Kulisse der Amateurbühne und setzte ihn gekonnt in Szene. Schräge Typen Dreh- und Angelpunkt ist die Imbissbude „Heiße Ecke“, die von Hannelore (Stefanie Klein) und Margot (Simone Eisen) mit Herz und Schnauze gemanagt wird. Hier gibt es nicht nur Bier und Pommes, sondern auch den einen oder anderen guten Rat. Die Charaktere nehmen kein Blatt vor den Mund, die Dialoge sind zuweilen derb und frivol, aber doch erfrischend ehrlich. Die Zuschauer werden mit auf die Reise genommen auf eine Meile, die mit ihren schrägen Typen niemals zur Ruhe kommt. Zu ihnen gehören etwa Prostituierte wie die Ukrainerin Natascha (Astrid Nortmeyer), die mit knallroter Perücke und Schwesterntracht ihren Kunden zu Diensten ist und dabei Mit Herz und Schnauze gemanagt: die Imbissbude „Heiße Ecke“. BILD: FREILICHTBÜHNE Russisch radebrecht. Zu ihnen gehören der Transvestit Gloria (Michael Mendes), der seinem rumänischen Lover nachheult, und die scheinbar akkuraten Versicherungsvertreter Werner (Michael Knapp) und Didi (Felix Schultze). Nicht zuletzt auch Straßenmusiker Jimmy (Marco Hullmann), der genüsslich am Joint nuckelt, sowie die Obdachlose Kurti (Sigrid Schönfelder), die ihre Habseligkeiten im Einkaufswagen hütet. Mitreißend und manchmal auch zu Herzen gehend sind die Songs, die Nauwartat-Schultze seinen 32 Schauspielern zugeordnet hat. Dabei überzeugen besonders Sascha Pittori in seiner Doppelrolle als Spieler Knud und Zuhälter Manni sowie Claudia Bendig als Prostituierte Martina. Das Publikum in der bis auf den letzten Platz besetzten Freilichtbühne bedankte sich am Ende mit langanhaltendem Beifall. i 20./27.6; 3./4./10./11./18./25./ 30./31.7; 1./7.8. (0621/7628100). Petri hat am Wochenende ihr Debüt bei den Bad Hersfelder Festspielen gegeben. „Das war wie ein ApolloFlug zum Mond. Man kannte seinen Text, aber fragte sich: Wird das alles klappen?“, verriet die 51-Jährige nach der dennoch gelungenen Premiere des Lustspiels „Der zerbrochne Krug“. „Wir haben bis zum letzten Moment geprobt und Dinge verändert. Das war ein irrsinniger Prozess. Wir sind alle total erschöpft.“ dpa DAS KURIOSUM Umgerechnet rund 222 000 Euro sollten sie bringen, letztlich fand sich gar kein Käufer: Sechs Briefe der „Wer die Nachtigall stört“Autorin Harper Lee sind in New York auf dem Auktionsblock liegengeblieben. Das Auktionshaus Christie’s bestätigte, es habe keine Gebote gegeben, die zum Verkauf hätten führen können. Schauspielerin Lewis tot LOS ANGELES. Im Alter von 93 Jahren ist die US-Schauspielerin und Sängerin Monica Lewis gestorben. Nach Angaben von „Variety“ vom Samstag starb die Amerikanerin am Freitag in ihrer Wohnung bei Los Angeles gestorben. Lewis war als Jazzsängerin bekanntgeworden, vor allem bei Auftritten mit der Musiklegende Benny Goodman. Die Tochter einer musikalischen Familie wurde auch als Schauspielerin bekannt. Zum Star wurde sie trotz zahlreicher Auftritte in Katastrophenfilmen („Erdbeben“, „Airport 80“) aber nie. dpa i HÖREN Keine karge Kost Ihre Karriere ist schon respektabel, und es könnte eine ganz Große werden: Christiane Karg. Mit ihrer neuen CD „Scene!“ besingt sie Frauenschicksale. Auf seltsame Weise tun ihnen die bösen Männer weh; aber nur deshalb, damit Beethoven, Mozart, Haydn und Mendelssohn dieser Sopranistin gefühlvolle Arien in die Kehle schreiben. Das ist keine karge Kost, im Gegenteil, mehr Schmerz, Empfindung und sängerische Geste, ja Grandezza gehen kaum. Samtene Mittellagen korrespondieren mit explosiven Ausbrüchen, die stets von kunstvoller Kultiviertheit gebändigt werden. Diese Sängerin hat ihre wunderschöne Stimme immer bestens im Griff. Jonathan Cohen gibt ihr mit dem Arcangelo-Ensemble die instrumentale Grundlage. BE Christiane Karg Scene. Arien von Beethoven, Haydn, Mendelssohn, Mozart (Berlin Classics).
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