Gibt es Geschlechtsunterschiede?

SCHL AGLICHTER 2015
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Neurochirurgie
Schmerzempfinden und Lebensqualität bei Wirbelsäulenpathologie:
Gibt es Geschlechtsunterschiede?
Oliver P. Gautschi a , Martin N. Stienen a , Gerhard Hildebrandt b , Karl Schaller a
a
b
Service de Neurochirurgie, Hôpitaux Universitaires de Genève
Klinik für Neurochirurgie, Kantonsspital St. Gallen
Die aktuelle Literatur zeigt unverkennbare geschlechts­
Einschränkungen (Oswestry Disability Index) und eine
spezifische Unterschiede in Bezug auf die allgemeine
erniedrigte Lebensqualität (EuroQol 5D und Short­Form
Schmerzempfindung. Der zugrundeliegende Pathome­
12) [3].
chanismus ist noch nicht eindeutig geklärt. Neben ge­
Interessanterweise zeigten unsere Daten jedoch kei­
netischen und biologischen Faktoren scheinen auch
nen Unterschied bei der präoperativen Testung mit
psychologische, bildungserzieherische, kulturelle und
dem Timed­up­and­go­(TUG­)Test, einem objektiven
motivationsbedingte Gründe eine Rolle zu spielen. Man
Test für Schmerz und funktionelle Restriktion. Zudem
erhält zuweilen den Eindruck, Männer seien «wehleidi­
existierten subjektive geschlechtsspezifische Unter­
ger» in alltäglichen Situationen, die mit Krankheit
und/oder Schmerz einhergehen. Experimentelle
Studien haben jedoch gezeigt, dass Frauen eine er­
niedrigte Schwelle gegenüber schmerzhaften Sti­
Interessanterweise zeigten die Daten keinen
Unterschied bei der präoperativen Testung
mit dem objektiven Timed-up-and-go-Test
muli und eine unterschiedliche Schmerztoleranz haben.
schiede nur in der Patientengruppe, nicht aber in der
Zudem sollen Frauen anfälliger sein, gewisse chroni­
gesunden Kontrollgruppe. Es könnte also sein, dass
sche Schmerzsyndrome zu entwickeln.
subjektive Skalen zur Einschätzung von Patienten einem
Geschlechtsspezifische Unterschiede wurden jedoch
«gender bias» unterliegen. Des Weiteren scheint es Ein­
nicht nur im Labor und in der Normalbevölkerung,
flussfaktoren zu geben, die für die subjektiven Unter­
sondern auch für Patienten mit lumbalen Wirbelsäulen­
schiede in der «erkrankten» Bevölkerung, nicht aber in
pathologien beschrieben. Eine 2008 publizierte Analyse
einer gesunden Kontrollgruppe verantwortlich sind.
eines schwedischen Registers mit 301 Bandscheiben­
Die vorliegenden Daten lassen keine Identifizierung
patienten ergab signifikant mehr Rückenschmerzen
ursächlicher Faktoren zu, zeigen aber generell eine ver­
bei weiblichen Patienten [1]. Die gleiche Autorengruppe
stärkte subjektive funktionelle Einschränkung bei
präsentierte letztes Jahr eine Auswertung von über
weiblichen Patienten mit lumbalen Pathologien.
15 631 Bandscheibenoperationen [2]. Auch diese Analyse
ergab signifikant stärkere Rücken­ und Beinschmerzen
bei weiblichen Patienten. Ähnliche Ergebnisse wurden
Oliver P. Gautschi
Keine Unterschiede postoperativ
auch bei Patienten mit lumbalen Spinalkanalstenosen
Die Arbeit wirft natürlich einige Fragen auf – etwa:
gefunden. Geschlechtsspezifische Unterschiede wur­
Führt der Geschlechtsunterschied zu einem «schlech­
den nicht nur für die Schmerzempfindung beschrieben,
teren Outcome» bei Frauen? Eine vorläufige Auswer­
sondern auch in Bezug auf funktionelle Einschränkun­
tung eines erweiterten Patientenkollektivs zeigte be­
gen und Lebensqualität von Patienten mit lumbalen
reits in der ersten postoperativen Nachkontrolle nach
Pathologien.
sechs Wochen keine Unterschiede mehr zwischen
Trifft diese Erkenntnis aus Schweden jedoch auch auf
weiblichen und männlichen Patienten. Zusätzlich war
Schweizer Patienten zu? Eigene Untersuchungen an
eine Tendenz erkennbar, dass sich weibliche Patienten
305 Patienten mit degenerativen Erkrankungen der
in allen subjektiven Ergebnissen, inklusive Schmerz­
lumbalen Wirbelsäule (und einer Kontrollgruppe mit
empfinden, funktioneller Einschränkung und Lebens­
110 gesunden Personen) bestätigen diese Erkenntnisse –
qualität, absolut gesehen sogar mehr verbessert haben.
zumindest für die subjektive Einschätzung: Weibliche
Auch hier gibt es in der Literatur widersprüchliche
Patienten hatten präoperativ signifikant stärkere Rü­
Erkenntnisse. Der Grossteil der publizierten Literatur
cken­ und Beinschmerzen, ausgeprägtere funktionelle
beschreibt auch im kurz­, mittel­ und langfristigen
SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM
2016;16(1):17–18
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Weiblicher und männlicher Patient nach lumbalem Wirbelsäuleneingriff.
postoperativen Verlauf geschlechtsspezifische Unter­
zu sein. Objektivere Messmethoden, wie z.B. der TUG­
schiede in Bezug auf Schmerzintensität, funktionelle
Test, könnten in Zukunft helfen, Patienten ohne den
Einschränkung und Lebensqualität, mit nachteiligeren
bekannten «gender bias» zu beurteilen [5].
Ergebnissen für das weibliche Geschlecht. Es gibt jedoch
neuere Studien, die keine Unterschiede im postopera­
tiven Ergebnis beschreiben [4].
Informed consent
Die Publikation des Fotos erfolgt im Einverständnis der Patienten.
Disclosure statement
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen
im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Fazit
Es gibt Unterschiede in der subjektiven Beurteilung
von Schmerz, funktioneller Einschränkung und Lebens­
qualität bei weiblichen und männlichen Patienten mit
lumbalen Pathologien. Die Beurteilung der objektiven
Funktionsfähigkeit in dieser Patientenkohorte fällt hin­
Literatur
1
2
gegen gleich aus. Zudem bestätigen sich diese Beobach­
tungen nicht in einer Gruppe von gesunden Kontroll­
probanden. Alle präoperativ bestandenen nachteiligen
Korrespondenz:
Dr. med. Oliver P. Gautschi
Unterschiede für das weibliche Geschlecht egalisieren
Département des Neuro­
sich bei unserem Patientenkollektiv während des post­
sciences cliniques
operativen Verlaufs. Bezüglich der geschlechtsspezi­
Service de Neurochirurgie
Hôpitaux Universitaires
fischen Unterschiede verhalten sich erfolgreich be­
de Genève
handelte Patienten postoperativ ähnlich wie gesunde
Rue Gabrielle­Perret­Gentil 4
CH­1211 Genève 14
oliver.gautschi[at]hcuge.ch
3
Kontrollprobanden. Geschlechtsspezifische Unter­
schiede scheinen also eindeutig krankheitsabhängig
SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM
2016;16(1):17–18
4
5
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