1. Kapitel: Schlangentrunk & Gruselkürbis Taschi hörte auf zu schaben. Sie lauschte. »Habt ihr das gehört? Ich glaube, da war was.« Sie warf den Löffel in den Kürbiskopf und stürzte zum Fenster. Taschi drückte sich die Nase an der Scheibe platt. Doch nichts. »Och Mensch, verflixte Kiste. Wann kommt Benni denn nun endlich?!!«, fluchte sie und setzte sich wieder hin. Aber nur, um kurze Zeit später wieder aufzuspringen und zum Fenster zu rennen. Seit einer halben Stunde ging das nun alle fünf Minuten so. »Benni müsste doch eigentlich schon lange da sein. Wo bleibt er nur?« »Soll ich nicht schon mal den Schlangentrunk fertig machen?!!«, schlug Ine nun auch schon mindestens zum zehnten Mal vor und raschelte mit der Schlangentüte. Naddel, die Älteste, die still am Tisch saß und ihren Pappmascheekürbis bemalte, stöhnte auf. »Könnt ihr nicht mal aufhören? Mama und Papa sind doch gerade erst losgefahren. Es dauert mindestens noch eine Stunde, bis sie mit Benni zurück sind.« 7 Taschi fuhr fort, ihren Kürbis auszuhöhlen. Neben ihr stand eine riesige Plastikschüssel, gefüllt mit dem Kürbisfleisch. Sie musste sich beeilen. Denn eigentlich sollte die Kürbislaterne zu Bennis Empfang vor der Eingangstür leuchten. »So, das reicht jetzt«, beschloss Taschi, obwohl der Kürbis erst zur Hälfte ausgehöhlt war. Taschi wollte jetzt endlich eine fiese Fratze hineinschneiden. »Meinst du«, fragte Taschi ihre große Schwester Naddel, während sie mit einem Brotmesser versuchte ein Auge in den Kürbis zu schneiden, »Benni findet es langweilig bei uns? Bestimmt ist Halloween bei ihm in der großen Stadt viel spannender als in so einem kleinen Dorf wie Cismar … Oh, Mist … nein!«, fluchte Taschi da. Sie war mit dem Messer abgerutscht und der Kürbis war ihr weggeglitscht. Glücklicherweise hatte sie sich nicht geschnitten. Doch der Kürbis hatte die Plastikschüssel und Naddels Glas mit orangefarbenem Tuschwasser umgestoßen. Der gesamte Küchenboden war bedeckt mit Kürbisfleisch und oranger Farbe. Zu alledem rutschte nun auch noch Ine darauf aus. Die Schlangentüte fiel ihr aus der Hand und überall zwischen den Kürbisstücken ringelten sich grüne und rote Weingummischlangen. Ausgerechnet in diesem Moment musste natürlich ihr großer Bruder Hein in die Küche kommen. »Na, das ist ja mal wieder typisch die Najas!«, sagte er, als er die Bescherung auf dem Küchenboden sah. 8 Hein nannte seine jüngeren Schwestern immer nur die Najas. Er hatte mal herausgefunden, dass Naja ein grönländisches Wort ist und übersetzt kleine Schwester heißt. Und da Naddel, Taschi und Ine meist zu dritt unterwegs waren, wurden sie auch im ganzen Dorf nur die Najas genannt. »Was soll denn das werden? Eine Überraschung für Benni?«, fragte er sie und grinste. »Nein, wir basteln«, erklärte Ine ihm. Hein guckte auf die halb fertige Kürbislaterne und das Brotmesser. »So geht das auch nicht! Mit so einem Messer kann das ja gar nicht funktionieren! Soll ich das mal machen?« Hein holte sich ein kleines Küchenmesser aus der Schublade. Während Naddel, die sich neues Wasser geholt hatte, weiter an ihrem Pappmascheekopf malte und Ine damit beschäftigt war, Kürbisreste von den Glibberschlangen zu entfernen, versuchte Hein eine möglichst fiese Fratze in Taschis Kürbiskopf zu schneiden. Doch irgendwie wollte ihm das nicht so recht gelingen. Zwei Zähne brachen ihm ab. Am Ende schielte der Kürbis zwar ein bisschen, hatte ansonsten aber ein zahnloses, freundlich grinsendes Gesicht. Taschi fluchte. So hätte sie das auch hinbekommen. Hein verteidigte sich. »Nun streitet euch doch nicht schon wieder«, sagte Naddel. »Guckt mal, ein Monster!«, rief Ine da. 9 Durchs Küchenfenster starrte sie etwas mit riesigen grünen Augen und gefletschten Zähnen an. Einen Moment lang verschlug es Taschi die Sprache. Dann schrie sie: »Das kann nur Benni sein! Yippiieh, Benni ist wieder da! Endlich passiert hier mal wieder was!!!« Und tatsächlich: Es war Benni mit der Monstermaske! Alle stürzten hinaus, um ihn zu begrüßen. Während die Eltern Bennis Gepäck und die Einkäufe aus dem Auto holten, tanzten die Najas wild begeistert um Benni herum und schleppten ihn ins Haus. Nachdem Benni mit seinen Eltern in Hamburg telefoniert und die Mutter der Najas die Reste der Kürbisschweinerei aufgewischt hatte, saßen alle um den Küchentisch herum. Benni musste von der Fahrt erzählen und Ine durfte endlich ihren Schlangentrunk servieren. In jedes Glas tat sie drei Weingummischlangen, Mineralwasser und einen Strohhalm. In einigen Gläsern schwammen noch Fasern von Kürbisfleisch. Das war zwar nicht beabsichtigt gewesen, aber Benni dachte, es sollte so sein. Die Eltern lehnten den Schlangentrunk ab und behaupteten, lieber Tee trinken zu wollen. »Toll eklig!«, sagte Benni begeistert, und als er Naddels Pappmascheekürbis auf dem Küchenschrank stehen sah: »Wow, wem gehört denn der super Gruselkürbis?« »Das ist meiner«, sagte Naddel leise und mit hörbarem Stolz in der Stimme. »Ich gehe nämlich als Gruselkürbis.« Taschi, die noch immer knaddelig darüber war, was 10 Hein aus ihrer Kürbislaterne gemacht hatte, und nun überhaupt nichts Gruseliges hatte, mit dem sie Benni überraschen konnte, guckte genervt auf Naddels Gruselkürbis. Was wollte Naddel überhaupt damit?!! Lotte Hopps war es doch gewesen, die Naddel auf die blödsinnige Idee gebracht hatte, sich als Gruselkürbis zu verkleiden. Ausgerechnet Naddel! »Aber Naddel, bei dir merkt man doch auf tausend Meter Entfernung, dass du nicht einmal ein Kaninchen erschrecken kannst. Da nützt dir auch ein Gruselkürbis nichts«, hatte Taschi immer wieder gesagt. Aber seltsamerweise fand Naddel die Idee von Lotte Hopps gut. Naddel war plötzlich sogar dafür, dass sich zu Halloween alle unbedingt so gruselig wie möglich anziehen. Taschi glaubte nicht recht zu hören, als Naddel sie nun sogar fragte: »Taschi, du willst doch nicht ernsthaft als Prinzessin gehen, oder?!!« 11 Taschi guckte Naddel erstaunt an. Bis vorhin hatte Naddel überhaupt nichts gegen ihr Prinzessinnenkostüm einzuwenden gehabt. Im Gegenteil. Bis zu dem Zeitpunkt, als Lotte Hopps sie zu dem Gruselkürbis überredet hatte, wäre Naddel selber noch gern als Prinzessin gegangen. »Was, Taschi will als Prinzessin gehen?«, fragte Benni und schaute Taschi ungläubig an. Und plötzlich fielen alle über Taschi her. Taschi wusste gar nicht, wie ihr geschah. Alle behaupteten mit einem Mal, dass Taschi unmöglich an Halloween als Prinzessin gehen könne. Sogar Hein mischte sich ein und sagte: »Ja, das meint mein Freund Hinnerk auch.« »Was meint Hinnerk?«, fragte Taschi und ihr Herz klopfte. 12 »Hinnerk meint, eine Prinzessin mit einer Zahnlücke hätte er noch nie gesehen. Und außerdem fluchst du. Nie im Leben kannst du Prinzessin sein. Prinzessinnen fluchen nicht.« »Dumme Suppe«, fluchte Taschi, »klar kann ich Prinzessin sein. Das werdet ihr schon sehen!« Insgeheim beschloss sie, dass sie ab sofort nicht mehr in Hinnerk verliebt sein wollte. Taschi beugte sich tief über ihren Schlangentrunk. Sie tat so, als wäre sie nur noch am Angeln von Weingummischlangen interessiert und stopfte sich eine Weingummischlange nach der anderen in den Mund. »Kind, du kannst draußen auch nicht in so einem dünnen Kleid herumlaufen«, fing nun auch noch die Mutter an und machte eine sorgenvolle Faltenstirn. Der Vater nickte zustimmend. »Du wirst dich zu Tode frieren. Schließlich haben wir fast November!« »Mir egal«, entgegnete Taschi nuschelnd mit vollem Schlangenmund. »Aber Taschi, an Halloween geht man als Gespenst, als Gruselkürbis oder als Monstermaske«, sagte Naddel zu ihrer Schwester in einem Tonfall, als würde sie mit ihrem kranken Hamster sprechen. »Kein Mensch geht an Halloween als Prinzessin im weißen Kleid.« Naddel stieß Benni an, der neben ihr saß. »Was meinst du, Benni? Sag doch auch mal was!« »Genau!«, trötete Benni und nickte zustimmend. »Und als was gehst du morgen, Ine?«, fragte er Ine. 13 »Sie will ihren Schlafanzug anziehen!«, sagte Naddel und verdrehte die Augen. »Ja«, sagte Ine und nickte, »ich ziehe meinen Bärenschlafanzug an und bin ein Bär. Und meine Katze Suleika kommt auch mit.« Benni stöhnte. »Oh Menno, wenn ihr euch alle so ungruselig verkleidet, dann spiel ich nicht mit.« »Aber ich will mich gar nicht gruselig verkleiden«, murmelte Ine. Sie war damit beschäftigt, neuen Schlangentrunk zuzubereiten. »Warum muss man das denn überhaupt?«, wollte sie wissen und guckte die anderen fragend an. Benni druckste herum, es war offensichtlich, dass er es auch nicht so recht wusste. »Das muss eben so sein«, behauptete er. »An Halloween macht man ordentlich Krach und erschrickt andere Leute und dafür bekommt man dann Süßigkeiten geschenkt.« »Aber warum ist das so?« Ine ließ nicht locker. Naddel wusste es natürlich mal wieder genau. Das war kein Wunder, denn sie hatten das Thema Halloween letzte Woche in der Schule durchgenommen. »Jedes Jahr am 31. Oktober ist Halloween«, begann Naddel. Das klang so, als würde sie einen Text aus einem Buch ablesen. »Halloween heißt eigentlich All Hallows Eve. Eve wie evening.« »Das kenne ich«, wurde sie von Benni unterbrochen. »Good evening! Das ist Englisch und heißt Guten Abend.« 14 »Richtig«, bestätigte Naddel. »All Hallows Eve heißt also übersetzt: Aller Heiligen Abend und ist der Vorabend von Allerheiligen. Da denkt man an alle Heiligen. Einen Tag später ist dann Allerseelen. Und was machen wir an dem Tag?« Insgeheim bewunderte Taschi ihre große Schwester, dass sie endlos Sachen auswendig wusste. Aber musste sie deshalb immer gleich Schule spielen?!! Ine schien das nichts auszumachen. Sie meldete sich sogar und schnippte mit dem Finger. »Da denken wir an Opa Kattenberg und zünden ihm eine Kerze an«, sagte sie. »Aber ich verstehe immer noch nicht, warum man sich denn nun gruselig verkleiden muss.« Naddel kam leicht ins Stottern und schien den Faden verloren zu haben. »Das versuche ich doch gerade zu erklären.« Ganz, ganz früher, vor über tausend Jahren, es 15 könnten auch zweitausend Jahre gewesen sein, so genau wusste Naddel es nicht mehr, da hätten die Menschen geglaubt, dass jedes Jahr in der Nacht vom 31. Oktober die Seelen der Verstorbenen zurückkommen. »Und um die Geister dann zu verschrecken, haben sie sich fiese Masken aufgesetzt und ganz viel Feuer und Krach gemacht.« »Warum haben sie denn Angst gehabt?«, fragte Ine erstaunt. »Also, vor Opa Kattenberg hätte ich keine Angst. Und er soll auch keine Angst vor mir haben. Nein, ich ziehe nichts Gruseliges an. Sonst erschrickt Opa Kattenberg sich doch!« »Aber ich, ich will Geister erschrecken«, nuschelte Benni. Er hatte sich heimlich sein Vampirgebiss in den Mund gesteckt und schaute nun alle mit einem fiesen Vampirgrinsen an. »Ich will Geister erschrecken. Und haufenweise Süßigkeiten!« »Woher dieser Brauch mit den Süßigkeiten stammt, darüber ist man sich übrigens nicht ganz einig«, sagte 16
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