Arbeitsgemeinschaft Strafrecht BT Sommersemester 2015 Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Freiburg Matthias Noll Institut für Kriminologie und Wirtschaftsstrafrecht Tötung auf Verlangen, § 216 StGB Die Vorschrift bringt zum Ausdruck, dass die Achtung fremden Lebens ein unantastbares Prinzip des Strafrechtsschutzes darstellt und das Rechtsgut Leben grundsätzlich unverfügbar ist. Daher kann sich der Täter auch dann strafbar machen, wenn das Opfer seine Tötung verlangt hat. § 216 StGB trägt aber auch dem Umstand Rechnung, dass sich der Täter von einem suizidähnlichen Verlangen des Opfers leiten lässt und demzufolge sowohl das Unrecht der Tat als auch die Schuld des Täters gemindert sind. Folglich ist der Strafrahmen gegenüber dem Totschlag auf eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren deutlich reduziert. Gegenüber § 211 stellt § 216 eine Privilegierung dar, die eine gleichzeitige Bestrafung aus § 211 ausschließt (Sperrwirkung). In einer Klausur kann man zunächst § 216 prüfen. Im Anschluss sollte gleichwohl (kurz) § 211 geprüft werden, wobei auf die Sperrwirkung hinzuweisen ist. Prüft man zunächst § 211 muss im Anschluss an die Prüfung von § 216 ebenfalls auf die Sperrwirkung eingegangen werden. I. Tatbestand 1. Objektiver Tatbestand a) Tötung eines anderen Menschen Voraussetzung ist zunächst die täterschaftliche Tötung eines anderen. Wird lediglich Beihilfe zum Suizid geleistet, so scheidet § 216 StGB bereits tatbestandlich aus. Begründung: Die eigenverantwortliche1 Selbsttötung und deren Versuch sind nach einhelliger Auffassung straflos. Dafür spricht die systematische Auslegung der höchstpersönlichen Rechtsgüter, die nur vor Angriffen Dritter geschützt werden sollen. 1 Die Betonung der Eigenverantwortlichkeit in diesem Zusammenhang (vgl. etwa Rengier BT II § 8 Rn. 2 ff.) hat folgenden Hintergrund: Fehlt es an dieser, sind in aller Regel die Voraussetzungen für eine mittelbare Täterschaft gegeben. Der Maßstab der Freiverantwortlichkeit ist str. (e.A.: Exkulpationslösung, a.A.: Einwilligungslösung), vgl. dazu Rengier BT II § 8 Rn. 4 f. Arbeitsgemeinschaft Strafrecht BT Sommersemester 2015 Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Freiburg Matthias Noll Institut für Kriminologie und Wirtschaftsstrafrecht Mangels vorsätzlicher, rechtswidriger Haupttat ist folglich ist auch die Teilnahme an einem eigenverantwortlichen Suizid nicht strafbar. Problem: Wie ist die Tötung auf Verlangen von der Beihilfe zum Suizid abzugrenzen? Die Abgrenzung erfolgt nach den Grundsätzen der Teilnahmelehre. Demnach kommt es auf die Tatherrschaft über den unmittelbar lebensbeendenden Akt an. Liegt sie beim Suizidenten, handelt es sich mangels Haupttat um straflose Beihilfe des Dritten. Hat der Dritte die Tatherrschaft, ist ein Fall des § 212 StGB bzw. § 216 StGB gegeben. b) ausdrückliches und ernstliches Verlangen des Getöteten Definition: Das Opfer verlangt die Tötung, wenn es derart auf den Täter eingewirkt, dass dieser die Tat vornimmt. Ein Tötungsverlangen setzt daher mehr voraus als lediglich ein Einverständnis oder eine Duldung der Tat durch das Opfer. Das Opfer muss sich vielmehr wünschen, der Tod gerade von der Hand des Täters zu empfangen. Definition: Ausdrücklich ist das Tötungsverlangen, wenn es in eindeutiger und unmissverständlicher Weise geäußert wird. Das Verlangen des Opfers kann auch durch unzweideutige Gesten oder in Form einer Frage zum Ausdruck gebracht werden (vgl. BGH NStZ 1987, 365). Definition: Das Tötungsverlangen ist ernstlich, wenn es einem freiverantwortlichen Entschluss des Opfers entspringt und auf einer fehlerfreien Willensbildung beruht. Der Lebensmüde muss nach der natürliche Einsichts- und Urteilsfähigkeit im Stande sein, die Tragweite seines Handelns zu erkennen (vgl. BGH NJW 1981, 932). Arbeitsgemeinschaft Strafrecht BT Sommersemester 2015 Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Freiburg Matthias Noll Institut für Kriminologie und Wirtschaftsstrafrecht Abgesehen von der (fehlenden) Dispositionsbefugnis über das Rechtsgut müssen die Voraussetzungen einer Einwilligung vorliegen. Ein wesentliches Abweichen von der gewünschten Tötungsart und vom Opfer an die Tötung geknüpfte Bedingungen ist von § 216 StGB nicht gedeckt. c) wodurch der Täter zur Tötung bestimmt wurde Definition: Ein Bestimmen zur Tötung liegt vor, wenn das Opfer beim Täter den Tatentschluss hervorgerufen hat, diesen also zu der Tat i.S.d. § 26 StGB bestimmt hat. An dieser Voraussetzung fehlt es etwa, wenn o der Täter ohnehin bereits fest zur Tötung entschlossen war, o das Tötungsverlangen des Opfers lediglich innerhalb eines Motivbündels des Täters eine untergeordnete Bedeutung erlangt,2 o der Täter ein tatsächlich vorliegendes Tötungsverlangen nicht kannte. Andererseits scheidet § 216 StGB nicht bereits deshalb aus, wenn dem Täter Vorteile aus der Tat erwachsen, soweit diese Umstände nicht das Tötungsverlangen als bestimmenden Tatantrieb verdrängen. 2. Subjektiver Tatbestand In subjektiver Hinsicht muss der Täter mit Vorsatz handeln (dolus eventualis genügt). Dieser muss sich neben der Tötung auch auf das Vorliegen des Tötungsverlangens erstrecken. a) Tötungsvorsatz b) Vorsatz hinsichtlich des Verlangens Darüber hinaus muss sich der Vorsatz auch auf das Vorliegen eines ausdrücklichen und ernstlichen Tötungsverlangens beziehen. Nimmt der Täter irrtümlich ein solches Tötungsverlangen an, so gelangt die Privilegierung des § 216 StGB über § 16 Abs. 2 StGB zur Anwendung. II. Rechtswidrigkeit 2 Vgl. BGH NStZ 2005, 505, 506 f. („Kannibalen-Fall“). Arbeitsgemeinschaft Strafrecht BT Sommersemester 2015 Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Freiburg Matthias Noll Institut für Kriminologie und Wirtschaftsstrafrecht III. Schuld IV. Versuch: Grundsätzlich ergeben sich hier keine Besonderheiten. Jedoch ist bei einer möglichen anschließenden Prüfung der §§ 224, 226 StGB an eine Sperrwirkung zu denken.3 Nach h.M. ist § 226 StGB gesperrt, da selbst ein minder schwerer Fall im Strafmaß über dem Versuch des § 216 läge. Bei § 224 vertritt die (wohl) h.M., dass immer von einem minder schweren Fall auszugehen sei (a.A.: § 216 sperrt auch Rückgriff auf § 224 StGB).4 Sonderproblem: Sterbehilfe (Euthanasie) Klassischerweise unterscheidet man drei Formen der Sterbehilfe: Aktive Sterbehilfe hat die Lebensverkürzung zum Ziel und ist grundsätzlich strafbar (Wertung des § 216 StGB). Anders ist dies bei einer Teilnahme an einer Selbsttötung (mangels vorsätzlicher rechtswidriger Haupttat) und in den Fällen der Mitwirkung an einem einvernehmlichen Behandlungsabbruch (dazu später). Bei der indirekten Sterbehilfe wird eine Lebensverkürzung als mögliche oder unvermeidbare Folge der Schmerzlinderung in Kauf genommen. Es besteht wohl im Ergebnis Einigkeit darüber, dass die Verabreichung der schmerzstillenden Medikamente (mit – mutmaßlicher – Einwilligung des Betroffenen) im Ergebnis straflos ist. Allerdings gibt es dafür unterschiedliche dogmatische Begründungsansätze: Nach h.M. liegt ein rechtfertigender Notstand gemäß § 34 StGB vor, weil die Ermöglichung eines Todes in Würde und Schmerzfreiheit gemäß dem Patientenwillen ein höheres Rechtsgut sei „als die Aussicht, unter schwersten Schmerzen noch kurze Zeit leben zu müssen“ (vgl. dazu auch BGH NJW 2001, 1802). Eine a.A. setzt bereits auf der Tatbestandsebene an und greift auf die Grundsätze der objektiven Zurechnung zurück: Gemessen an dem Schutzzweck der Norm werde bereits kein rechtlich missbilligtes Risiko geschaffen.5 Schließlich gibt es auch Ansätze, die den Tötungsvorsatz verneinen bzw. eine Pflichtenkollision annehmen.6 3 Ist § 216 StGB vollendet, stellt sich die Frage der Sperrwirkung im Verhältnis zu den §§ 223 ff. StGB nicht, da die Körperverletzungsdelikte hinter § 216 StGB als subsidiär zurücktreten, Jäger, Examensrepetitorium BT, Rn. 21. 4 Vgl. zu diesem Problemkreis etwa Rengier BT II § 6 Rn. 11. 5 Vgl. etwa Gaede NJW 2010, 2925, 2927. 6 Vgl. dazu die Nachweise bei Jäger, Examensrepetitorium BT, Rn. 61. Arbeitsgemeinschaft Strafrecht BT Sommersemester 2015 Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Freiburg Matthias Noll Institut für Kriminologie und Wirtschaftsstrafrecht Passive Sterbehilfe7 umschreibt den Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen, die entweder gar nicht eingeleitet werden, oder nach ursprünglicher Einleitung abgebrochen werden. Mittlerweile besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass die Fälle des Behandlungsabbruchs – auch wenn diese durch ein positives Tun erfolgen – straflos sind, sofern die Sterbehilfe dem tatsächlichen oder mutmaßlichen Patientenwillen (§ 1901a BGB) entspricht und außerdem dazu dient, „einem ohne Behandlung zum Tode führenden Krankheitsprozess seinen Lauf zu lassen“, BGH NJW 2010, 2963 (1. Leitsatz). Früher wurde z.T. ein (phänomenologisch) aktives Tun – z.B. das Abschalten eines Beatmungsgerätes – wertungsmäßig als Unterlassen angesehen. Diese hatte den Vorteil, dass man eine Straflosigkeit durch eine Begrenzung der Garantenstellung8 begründen konnte und sich keine – im Hinblick auf die Wertung des § 216 StGB – schwierigen Rechtfertigungsprobleme stellen. Der BGH geht in seiner Grundsatzentscheidung NJW 2010, 2963 (= BGHSt 55, 191) davon aus, dass ein Behandlungsabbruch – sofern bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind 9 – zu einer Rechtfertigung (Einwilligung) führt. 10 In einem Gutachten sollten zuvor noch die Rechtfertigungsgründe der Notwehr (§ 32 StGB)11 in Form der Nothilfe und des Notstands (§ 34 StGB) 12 angesprochen werden, die aber im Ergebnis nach der h.M. abzulehnen sind.13 Vgl. insgesamt dazu auch die Falllösung bei Jäger, Examensrepetitorium BT, Rn. 335b f (auch mit kurzen Ausführungen zu § 221 StGB). 7 Vgl. insgesamt dazu Rengier BT II § 7 Rn. 5 ff.; Wessels/Hettinger Rn. 30 ff. Vgl. dazu Rengier BT II § 8 Rn. 14. 9 Vgl. zur Ermittlung des Patientenwillens BGH NJW 2010, 2967. 10 Krit. dazu etwa Walter ZIS 2011, 76, 78, der eine teleologische Reduktion von § 216 StGB befürwortet (dazu ZIS 2011, 81 f.). Ausführlich zum Meinungsstand MüKo/Schneider Vor. §§ 211 ff. Rn. 161 ff. 11 Anknüpfungspunkt ist, dass z.B. eine Zwangsernährung, die dem Willen des Patienten widerspricht, einen Angriff auf dessen Willensfreiheit bzw. körperliche Unversehrtheit darstellt (vgl. BGH NJW 2010, 2963, 2965 Rn. 19). 12 Auch diesbezüglich kann man von einer Gefahr für die Willensfreiheit und die körperliche Unversehrtheit des Patienten ausgehen. 13 Die Nothilfe scheitert daran, dass sich die Verteidigungshandlung nicht ausschließlich gegen Rechtsgüter des Angreifers (z.B. des Krankenpflegers) richtet, sondern auch gegen das Rechtsgut Leben des Patienten. Eine Rechtfertigung nach § 34 StGB scheitert daran, dass das durch die Notstandshandlung bewahrte Rechtsgut (Willensfreiheit und körperliche Integrität des Patienten) das durch die Handlung beeinträchtigte Rechtsgut (Leben des Patienten) nicht wesentlich überwiegt. Vgl. insgesamt BGH NJW 2010, 2963, 2965 Rn. 19 f. 8 Arbeitsgemeinschaft Strafrecht BT Sommersemester 2015 Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Freiburg Matthias Noll Institut für Kriminologie und Wirtschaftsstrafrecht Fahrlässige Tötung, § 222 StGB Wer den Tod eines anderen durch Fahrlässigkeit verursacht, macht sich gemäß § 222 StGB strafbar. I. Tatbestand 1. Handlung und Eintritt des tatbestandlichen Erfolges: Tod 2. Kausalität zwischen Handlung und Erfolg Die Kausalität bestimmt sich nach der Äquivalenztheorie (conditio sine qua non). 3. Objektive Sorgfaltspflichtverletzung Die objektive Sorgfaltspflichtverletzung liegt im Außerachtlassen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt. Dies ist nach objektiven Maßstäben zu bestimmen: Anforderungen, die an einen besonnenen und gewissenhaften Menschen in der konkreten Situation und der sozialen Lage des Täters zu stellen sind. Inhalt und Ausmaß der Sorgfaltspflichten ergeben sich oft bereits aus speziellen Rechtsvorschriften, z.B. StVO, StVZO. H.M.: Sonderkenntnisse und Sonderfähigkeiten des Täters sind zu berücksichtigen. 4. Objektive Vorhersehbarkeit des Erfolges Objektiv voraussehbar ist, was ein umsichtig handelnder Mensch unter den jeweiligen Umständen aufgrund der allgemeinen Lebenserfahrung in Rechnung stellen würde. 5. Objektive Zurechnung Es gelten die gleichen Anforderungen wie bei den vorsätzlichen Erfolgsdelikten. Schutzzweckzusammenhang: Die verletzte Sorgfaltsnorm muss gerade dazu dienen, Erfolge wie den eingetretenen zu verhindern. Arbeitsgemeinschaft Strafrecht BT Sommersemester 2015 Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Freiburg Matthias Noll Institut für Kriminologie und Wirtschaftsstrafrecht Pflichtwidrigkeitszusammenhang (evtl. Risikoerhöhungstheorie): Es muss sich die rechtlich missbilligte Gefahr realisiert haben, die durch die Sorgfaltspflichtverletzung des Täters geschaffen wurde. Eigenverantwortlichkeitsprinzip: Der Erfolg ist nicht zuzurechnen, wenn sich nur das Risiko einer eigenverantwortlichen Selbstgefährdung verwirklicht. Dazwischentreten Dritter: Der Zurechnungszusammenhang ist unterbrochen, wenn ein Dritter vollverantwortlich eine selbständig auf die Erfolg hinwirkende Gefahr begründet. Bei mehreren Fahrlässigkeitstätern ist an eine Nebentäterschaft zu denken. II. Rechtswidrigkeit Keine Besonderheiten. Wenn eine vorsätzliche Tatbegehung vom jeweiligen Rechtfertigungsgrund gedeckt gewesen wäre, ist dies auch bei der Fahrlässigkeit der Fall. Beispiel: A will einen Warnschuss abgeben und verletzt dabei den Angreifer tödlich. Wäre auch eine vorsätzliche Tötung gemäß § 32 StGB gerechtfertigt gewesen, gilt dies auch für die Fahrlässigkeitstat. III. Schuld 1. Schuldfähigkeit 2. Subjektive Sorgfaltspflichtverletzung Täter muss nach seinen persönlichen Fähigkeiten und dem Maß seines individuellen Könnens in der Lage sein, die Sorgfaltspflicht zu erkennen und zu erfüllen. Dies kann etwa bei physischen oder psychischen Mängeln, Angst oder Schrecken u.s.w. zu verneinen sein. 3. Subjektive Voraussehbarkeit des Erfolges 4. Nichtvorliegen von Entschuldigungsgründen (insb. Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens).
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