Predigt an Heilig Abend

Predigten – von Pastorin Julia Atze
Heiligabend 2014
4. Christvesper – 21 Uhr
Liebe Gemeinde,
können Sie sagen, wann für Sie Weihnachten beginnt?
Gibt es einen Zeitpunkt?
Eine bestimmte Situation?
Ein bestimmtes Gefühl, bei dem Sie sagen: Ja, jetzt ist Weihnachten?
Zum Beispiel, wenn das Glöckchen klingelt, dass die Kinder ins Wohnzimmer ruft, wo der
geschmückte Baum steht mit all den Geschenken darunter. Das war für mich als Kind
immer der Moment, an dem Weihnachten anfing. Bis zu diesem Glockenton, war der
Heiligabend immer ziemlich anstrengend: Letzte Einkäufe mussten noch gemacht werden,
Vorbereitungen getroffen, Geschenke eingepackt, der Weihnachtsbaum aufgestellt und
geschmückt, das Essen vorbereitet – kein Wunder dass da noch nicht so recht
weihnachtliche Stimmung aufkommen wollte, bei all der Hektik. Nein, die Stimmung war
ehrlich gesagt oft alles andere als weihnachtlich, also nicht gerade friedlich und besinnlich.
Eher musste man jeden Moment damit rechnen, dass die Stimmung komplett kippte – weil
der Baum einfach nicht gerade stehen wollte oder irgendjemand ihn immer schief hielt oder
weil einer einfach das ganze Geschenkpapier aufgebraucht hatte und die anderen nun
Zeitungspapier nehmen mussten und so weiter und so fort. Alle waren im Stress, alle waren
in Bewegung. Doch wenn das Glöckchen erklang, dann wurden wir alle ruhig. Wir waren
endlich an Weihnachten angekommen.
Inzwischen muss ich natürlich nicht mehr in meinem Zimmer warten, bis das Glöckchen
klingelt, inzwischen läute ich das Glöckchen für meine Kinder und hoffe, dass für sie damit
Weihnachten wird.
Heute
komme
ich
an
Weihnachten
an,
wenn
die
altbekannten
Worte
des
Weihnachtsevangeliums erklingen: Es begab sich aber zu der Zeit…
…
Predigten – von Pastorin Julia Atze
Seite 2
Und die Engel singen: Friede auf Erden.
In diesem Jahr ist es mir allerdings ziemlich schwer gefallen, mich im Advent auf
Weihnachten einzustimmen. So viel passiert in dieser Welt, das erschüttert und
nachdenklich macht, den einen oder die andere vielleicht auch ängstigt und erschreckt. Der
neue kalte Krieg zwischen dem Westen und Russland, die brutalen Überfälle des IS, die
unglaubliche Ermordung von Schulkindern in Pakistan, die Ebola-Epidemie, die PEGIDADemonstrationen, die Situation von so vielen Flüchtlingen – in unserem Land und an so
vielen Orten dieser Welt – Frieden auf Erden? Was der Engel in Weihnachtsgeschichte
verkündet, scheint in unendlicher Ferne zu liegen. Wie sehr wir uns auch nach dem Frieden
auf Erden sehnen, er wird auch an diesem Heiligabend an vielen Orten nicht zu finden sein.
Und das ist doch eigentlich verwirrend und unverständlich: Wir wünschen uns eine bessere,
lebenswertere und friedlichere Welt – das gilt doch sicherlich für die allermeisten von uns.
Aber in unserem Handeln spiegelt sich diese Sehnsucht kaum oder zumindest viel zu selten
wider. Es ist, als ob wir ein Ziel zu erreichen suchen, das wir selbst immer wieder weit von
uns stoßen. Sicher ist: Ankommen werden wir so nie…
Aber dann hören wir diese Geschichte. Diese eine Geschichte, die vom Ankommen erzählt:
Es begab sich aber zu der Zeit…
Maria und Josef kommen in Bethlehem an, das Kind, Jesus, der Retter, kommt zur Welt,
Gott kommt in dieser Welt an,. Engel kommen auf die Erde, Hirten kommen zur Krippe,
kommen im Stall an.
Wenn die Weihnachtsgeschichte gelesen wird, hört die Hektik des Tages auf und die Ruhe
der heiligen Nacht beginnt – und die Hoffnung auf Frieden auf Erden scheint wieder zum
Greifen nahe.
Wie kommt das nur? Was hat diese Geschichte, was hat Weihnachten an sich, dass es uns
auf so besondere Weise trifft? Was macht uns an Weihnachten so besonders empfindsam?
Im Advent und zu Weihnachten lassen sich viele Menschen von weihnachtlichen
Geschichten berühren. Bestimmt haben Sie auch eine oder sogar mehrere erlebt. Eine
solche Weihnachtsgeschichte, die sich vor wenigen Wochen hier in Hamburg ereignete,
geht so:
Eine Freundin von mir steht in der Schlange beim Bäcker an einem Sonnabendmorgen im
Advent. Um sich die Zeit zu vertreiben, schaut sie sich die Menschen an, die vor ihr in der
Schlange stehen. Der gähnende Student, der ungeduldige Familienvater, die alte kranke
Frau. Und dann: Moment mal! Die alte Frau kommt ihr so bekannt vor! Ist das etwa die
…
Predigten – von Pastorin Julia Atze
Seite 3
Frau, die früher über ihr gewohnt hat? Das muss bestimmt 10 Jahre her sein. So eine nette,
hübsche, große Frau war das. Und jetzt ist sie ganz eingefallen, klein und gebeugt. Sie
muss schwer krank sein. Todkrank, so sieht es aus. Meine Freundin schluckt schwer. Ob
sie die Frau ansprechen soll? Ihre Hilfe anbieten? Sie sieht wirklich so aus als könnte sie
Hilfe gebrauchen. Noch während sie überlegt, bestellt die alte Frau einen Becher Kaffee,
bezahlt, nimmt den Becher und geht zu dem Hinz und Kunzt Verkäufer, der an der
Eingangstür zum Bäcker steht. Sie überreicht ihm den Becher Kaffee. Er freut sich. Die
beiden reden ein paar Worte miteinander. Sie lachen, geben sich die Hand und die alte
Frau geht davon. Meine Freundin ist überrascht und gerührt. Das hatte sie nicht erwartet.
Ein Weihnachtsmoment – unverhofft an einem Sonnabend morgen im Advent.
Das macht doch Hoffnung – Weihnachten ist nicht umsonst!
Es ist möglich, im ganz normalen Alltag weihnachtlich zu sein und Liebe zu verschenken –
und sei es mit einem Becher Kaffee. Oder passiert so etwas nur im Advent und zu
Weihnachten? Sind wir in dieser Zeit aufmerksamer und liebevoller, dass solche
Weihnachtsmomente nur in so einer weihnachtlichen besonderen Gemütslage geschehen?
Oder nehmen wir solche Momente nur wahr, weil wir in dieser besonderen weihnachtlicher
Gemütslage sind?
Das wird wohl das Geheimnis von Weihnachten bleiben…
In einem alten Hollywoodfilm, er heißt „Ein Baum wächst in Brooklyn“ geht die Hauptperson,
ein zwölfjähriges Mädchen namens Francie, dieser Frage auch nach. Nachdem sie und ihr
Bruder – die Familie lebt in ärmlichen Verhältnissen – auf abenteuerliche Weise am
Heiligabend einen Weihnachtsbaum für die Familie ergattert haben, tragen sie diesen Baum
unter fröhlichem Hallo und dem Singen von „Stille Nacht“ hinauf in ihre Wohnung. Alle
Nachbarn schauen fröhlich aus ihren Wohnungen und wünschen einander ein frohes Fest –
ganz anders als sonst, wo man einander eher missmutig und griesgrämig im Treppenhaus
begegnen.
Abends als Francie im Bett liegt und ihr Vater zum Gute-Nacht-Sagen noch einmal herein
kommt, fragt sie ihn: Die Nachbarn waren so nett und fröhlich heute als wir den Baum
hinaufgetragen haben – warum sind die Menschen nicht immer so wie zu Weihnachten, so
freundlich und großherzig? Warum müssen sie sonst oft so griesgrämig und traurig sein?
Ihr Vater ringt um eine passende Antwort und sagt nach einigem Zögern: Vielleicht ist es ja
umgekehrt. Vielleicht sind die Menschen ja zu Weihnachten so, wie sie wirklich sind, und
das übrige Jahr hindurch kommt immer irgendetwas dazwischen…
…
Predigten – von Pastorin Julia Atze
Seite 4
Vielleicht sind die Menschen zu Weihnachten so, wie sie wirklich sind, und den Rest des
Jahres kommt immer irgendetwas dazwischen.
Ich bin sicher, dass es so ist. So hat Gott uns geschaffen: Liebevoll, aufmerksam,
weihnachtlich. Darum: Werden und bleiben Sie weihnachtlich! Nicht nur an diesem
Mittwochabend im Dezember, sondern auch einem Dienstagmorgen im Mai und einem
Freitagmittag im Oktober. Seien Sie, wie sie wirklich sind – liebevoll, großherzig,
aufmerksam – bleiben Sie weihnachtlich! Amen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in
Christus Jesus. Amen.