An der Grenze. Die Slowakei und ihre Nachbarn

Deutschlandfunk
GESICHTER EUROPAS
Samstag, 21. November 2015, 11.05 – 12.00 Uhr
An der Grenze
–
Die Slowakei und ihre Nachbarn
mit Reportagen von Kilian Kirchgeßner
Redaktion und Moderation: Katrin Michaelsen
Musikauswahl und Regie: Simonetta Dibbern
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©
- unkorrigiertes Exemplar –
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Die Grenze zwischen der Slowakei und Tschechien ist für viele Slowaken
immer noch eine hochemotionale Angelegenheit.
Die Teilung war drastisch. Wir können das bis heute nicht verstehen. Wir sind
nicht mehr zusammen, obwohl wir eine ähnliche Sprache haben, obwohl wir
uns verstehen und uns immer nah waren.
Grenzgeschichten und Grenzerfahrungen, davon gibt es viele in der Slowakei.
Das Land ist geprägt von seinen Grenzen. Und nicht überall geht es harmonisch
zu: Zurückweisung, Streit und Konkurrenz gehören genauso dazu wie die
Erinnerung daran, dass es eine Zeit der vollkommen geschlossen Grenzen gab.
Für mich war Österreich immer der Westen; das Land, wo man nicht
hinkonnte. Als dann die Grenzen offen waren und jemand etwas mitgebracht
hat, das er in Österreich gekauft hat, dann war das etwas zum Staunen.
An der Grenze – Die Slowakei und ihre Nachbarn. Gesichter Europas mit
Reportagen von Kilian Kirchgeßner. Am Mikrofon Katrin Michaelsen
„Mitteleuropa im Taschenformat“, das ist eine recht schnörkellose Beschreibung
für die Slowakei. Tatsächlich aber trifft diese in den Augen vieler Slowaken den
Kern dessen, was das Land mit seinen gerade einmal 5 einhalb Millionen
Einwohnern ausmacht: es ist beeinflusst von seinen durchweg viel größeren
Nachbarn: Vom ehemaligen Bruderstaat Tschechien. Von Österreich im Süden,
das lange unerreichbares Sehnsuchtsziel war. Im Osten liegt die krisengeplagte
Ukraine. Mit Polen teilt sich die Slowakei das kleinste Hochgebirge Europas
und mit den Ungarn kommt es immer wieder zum diplomatischen Streit wegen
nationalistischer Vorbehalte.
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Die Gesichter Europas unternehmen an diesem Samstag eine Reise zu
Grenzlandbewohnern, die alle einen ganz eigenen Blick auf ihre Nachbarn
haben.
Eigentlich hatten sich die Menschen in den Randregionen der Slowakei daran
gewöhnt. Seit dem Schengen-Beitritt 2007 können sie sich an den Grenzen zu
den EU-Staaten frei bewegen. Durch die Flüchtlingskrise aber mussten die
Slowaken von diesen Gewohnheiten Abschied nehmen. Auf dem Weg nach
Österreich und Ungarn kommt es inzwischen zu Polizeikontrollen. Und im
Angesicht der Terroranschläge in Paris ging Premierminister Robert Fico noch
weiter: Er will Zäune und Hindernisse bauen, um die Slowakei zu schützen.
Zumindest hat er das angekündigt.
Offene Grenzen, geschlossene Grenzen. Beides gehört zur Realität in der
Slowakei. Sind sie in manchen Regionen kaum zu erkennen, bleibt die Grenze
im Osten des Landes nahezu unüberwindbar. Zur Ukraine, zu einem Land im
Kriegszustand, zu einem Land außerhalb der EU und außerhalb des SchengenRaums.
Der gesamte Grenzabschnitt ist mit EU-Geldern aufgerüstet worden. Inzwischen
sind auf der slowakischen Seite 800 Beamte im Einsatz. Dreimal so viele, wie
vor dem Schengen-Beitritt.
REPORTAGE 1
Die Flure der Polizeistation sind wie ein Labyrinth. Agnesa Kopernicka läuft durch den
nüchternen Neubau über lange Flure und durch ein Treppenhaus, dann tritt sie hinaus auf den
Parkplatz. Ihre Tasche wirft sie auf den Rücksitz eines Zivilfahrzeugs.
Ich bin jetzt im elften Jahr hier. Früher saßen wir noch im alten Gebäude, zum Glück sind wir
inzwischen umgezogen. Der Platz reicht aber schon wieder nicht. Allein beim mobilen
Einsatzkommando, das wir hier haben, arbeiten 100 Kollegen. Die sind für die Kontrolle im
Hinterland zuständig.
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Sobrance ist einer der aufregendsten Dienstorte bei der slowakischen Polizei. Bis zur
ukrainischen Grenzen sind es nur wenige Kilometer: Hier enden die EU und der SchengenRaum, das Grenzstück misst exakt 97,9 Kilometer. Agnesa Kopernicka war anfangs in einem
Team, das für Schleierfahndungen zuständig ist, jetzt repräsentiert sie ihre Dienststelle nach
außen – wenn der slowakische Innenminister mit einer Besucher-Delegation vorbeischaut,
zum Beispiel. Ihre Locken trägt sie schulterlang, dazu ein offenes Lächeln. Früher, bevor die
Flüchtlingskrise ausgebrochen ist, haben sie hier vor allem mit Anrainern zu tun gehabt, mit
Ukrainern und mit Slowaken aus der Grenzregion. So wie etwa in Velke Slemence, dem
kleinsten der Grenzübergänge.
Der ist nur von acht Uhr morgens bis acht Uhr abends auf. Der Ort ist nach dem Krieg
zwischen der Slowakei und der Sowjetunion aufgeteilt worden, im Prinzip ist das ein
Grenzübergang mittendrin in einem Ort. Wenn Ukrainer ein Visum haben, kommen sie da
problemlos rüber. Oft besuchen sich Familien, aber häufig gehen Slowaken auch für Einkäufe
rüber: Lebensmittel, Kosmetik, Kleidung, das ist in der Ukraine billiger. Oft sind es
gefälschte Markenprodukte, ab er so ist das halt: Die Leute sparen, wo es nur geht.
Der kleine Grenzverkehr ist es allerdings nicht, der den Polizisten heute am meisten zu
schaffen macht und auch nicht der Kriegszustand in der Ukraine; im Westen der Ukraine
herrsche normaler Alltagsbetrieb, Flüchtlinge aus der Ukraine gebe es kaum. Stattdessen
kümmert sich die slowakische Polizei vor allem um diejenigen, die jenseits der
Grenzübergänge in die EU gelangen wollen. Wie eine Festung, sagt Agnesa Kopernicka, sei
der Grenzstreifen bewacht – und um den Beweis anzutreten, biegt sie ab in eine Landstraße,
die parallel zur Grenze verläuft.
Flüchtlinge fliegen oft nach Moskau und reisen dann von dort aus mit Schleppern weiter.
Viele kommen aus den arabischen Staaten und Afrika. Bei den offiziellen Grenzübergängen
haben sie keine Chance, da haben wir spezielle Geräte, mit denen wir in Lastwagen und
Autos alles entdecken, was da nicht hingehört. Wenn sie hier in die Slowakei wollen, dann
versuchen sie es über die grüne Grenze.
Agnesa Kopernicka ist eine energische Frau, sie trägt die grün-braune Uniform der
slowakischen Grenzschützer. Sie steuert auf eine Lichtung zu und steigt aus.
Michal Voloch wartet bereits auf sie. Er sitzt auf einem Squad, einer Art vierrädrigem
Geländemotorrad, auf dem Kopf einen Helm mit Polizeiwappen.
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Für ihn ist es ein Routine-Einsatz – eine Patrouillenfahrt entlang der grünen Grenze. Agnesa
Kopernicka steigt auf den Beifahrersitz.
Über Nacht hat es geregnet, der Waldboden ist vollgesogen mit Wasser. Ein Geländewagen
käme hier nicht weiter.
Durch dichten Wald geht es hin zu einer Schneise, die kilometerweit in den Wald geschnitten
ist. Gesäumt von einer Reihe Grenzpfosten, immer einer in Sichtweite des nächsten – und von
meterhohen Stahlmasten, die in gerader Linie alle paar hundert Meter aus dem Waldboden
aufragen.
In der Erde liegt ein seismisches Kabel, und an den Masten hängen Kameras mit InfrarotTechnik. Wenn jemand hier entlang läuft, gehen die Infrarot-Strahler an und wir zeichnen die
Bilder auf.
Unbemerkt über die Grenze zu kommen, das sei so gut wie unmöglich, selbst hier, fernab der
nächsten Dörfer und Straßen. Michal Voloch beschleunigt, sein Geländefahrzeug rast über die
holprige Piste. 110 Stundenkilometer schaffe der Motor, ruft er, während unter den Rädern
Steine und Äste davonschleudern. Per Funk alarmiert ihn die Zentrale, wenn die
Bewegungsmelder irgendwo etwas Verdächtiges melden. Etliche Kilometer der Grenze sind
mit der sogenannten Kamerakette gesichert. Michal Voloch bremst langsam ab.
Er wendet sein Fahrzeug und macht sich wieder auf den Rückweg, den Blick aufmerksam
nach links und rechts gewendet. Migration folge keiner Logik, sagen die Polizisten, hier
draußen müsse man jede Sekunde wachsam sein. Angst, sagt Michael Voloch, dürfe man aber
nicht haben.
Alles ist gefährlich! Auf der Baustelle kann dir ein Stein auf den Kopf fallen, hier kann dich
ein Bär angreifen. Ich weiß nicht, was besser ist (lacht). Schlimmer sind sowieso Bären, die
eine Waffe tragen, die zweibeinigen Bären.
Wir hatten im letzten Jahr einen Vorfall, bei dem ein Schlepper erschossen worden ist. Der
hat auf unsere Streife geschossen, und unsere Leute mussten natürlich unter Lebensgefahr
reagieren. Wenn man hier auf jemanden trifft, weiß man nie, was er im Schilde führt. Unsere
Jungs müssen immer auf der Hut sein, auf alles vorbereitet.
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Ein möglichst unvorhersehbares System, sagen die Grenzer in der Slowakei, sei das beste
Rezept, um illegale Einwanderung zu verhindern. Im Wald seien verschiedene AlarmMechanismen versteckt, erzählen die Polizisten, wollen aber keine Details verraten, um
Schleusern nicht in die Hände zu spielen. Heute gibt es keine besonderen Geschehnisse.
Agnesa Kopernicka und Michal Voloch kommen zurück vom Grenzstreifen. Die Polizistin
steigt auf der Lichtung wieder um in ihr Auto.
Es geht zurück ins Hauptquartier. Noch, sagt Agnesa Kopernicka, sei die Situation an der
Grenze übersichtlich – aber das könne sich jederzeit ändern.
220 Flüchtlinge haben wir im ganzen letzten Jahr aufgegriffen. Die meisten waren Afghanen.
Vor einigen Jahren hatten wir viele Somalier, das sind immer Wellen. Davor waren es
Moldawier, das war ganz klar eine Wirtschaftsmigration. Das verändert sich je nachdem, wie
die Situation in der Welt gerade ist.
Sie bewachen die Grenze zwischen zwei Ländern – und doch können sie hier, auf ihren nicht
einmal 100 Kilometern, die Situation in der ganzen Welt ablesen.
LITERATUR 1
Manchmal kneife ich die Augen zu und stelle mir für die Gegend ein Was-Wäre-Wenn vor.
Was wäre, wenn die Slowakei und Österreich wirtschaftlich auf gleicher Augenhöhe stünden?
Wenn die Löhne gleich wären, die Preise gleich, wenn die slowakischen Unternehmen in
slowakischer Hand wären? Wenn die einen nicht wegen der billigeren Gebrauchtwagen nach
Westen zögen, die anderen nicht wegen der billigeren Arbeitskräfte nach Osten?
Ich sehe mich als einen fröhlichen Menschen (…) Aber wenn ich mir dieses Was-Wäre-Wenn
ganz fest vorstelle, wird mir schummrig, und ich blicke in ein tiefes, schwarzes Loch. Gesetzt
den Fall, auf der anderen Seite wäre kein Vorteil mehr zu holen – hätten die Völkchen der
Gegend dann überhaupt noch miteinander zu tun?
Martin Leidenfrost hat sich die Welt hinter Wien angesehen, und seine
Beobachtungen im mitteleuropäischen Raum zu literarischen Kolumnen
verarbeitet.
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Wolfstahl ist auch so ein Ort, wo die slowakische auf die österreichische Welt
trifft. Die Geschichte Wolfsthals ist inzwischen ohne Slowaken nicht mehr
denkbar: Bis zur politischen Öffnung galt es als der tote Winkel Österreichs, nur
wenige Schritte entfernt vom ehemaligen Ostblock. Von der slowakischen
Hauptstadt Bratislava, die direkt an der Grenze liegt, konnten die Bewohner
schon damals nach Wolfsthal hinüberschauen. Mittlerweile ist aus dem
Nebeneinander ein Miteinander geworden. Sogar die Nummernschilder der
Autos sind die gleichen, „BL“ steht auf den slowakischen Firmenwagen für
Bratislava, auf den österreichischen Autos für Bruck an der Leitha.
REPORTAGE 2
Der Spaziergang führt einmal durchs Dorf, vom kleinen Bahnhof aus ist Zuzana Ondrisova
unterwegs zum einzigen Wirtshaus im Ort.
Da vorne, das ist die Herbert-Hoffmann-Straße, benannt nach einem früheren Bürgermeister,
der noch lebt. Ein sehr netter Mann! Zwei Grundstücke haben Österreicher gekauft, sonst
gehört da alles Slowaken.
Wolfsthal ist umgeben von sanften Hügeln; einen Tennisplatz gibt es hier, einen Fußballplatz,
ein Rathaus. Mit dem Zug dauert es eine gute Stunde nach Wien, in die andere Richtung sind
es mit dem Linienbus zehn Minuten ins Zentrum von Bratislava. Auf der Dorfstraße kommt
Zuzana Ondrisova ein Auto entgegen, sie winkt.
Das sind auch Slowaken! Die Frau leitet seit zwei Jahren den Kinderchor hier in Wolfsthal.
Die treffen sich einmal pro Woche und studieren die Lieder ein. Wenn es dann eine
Kindermesse gibt bei uns in der Kirche, dann treten sie auf.
Zuzana Ondrisova kommt zum Wirtshaus. Ein flacher Bau mit Fenstern zum Gemeindeteich.
Sie nickt zu einigen Gästen rüber, sie ist hier in Wolfsthal bekannt – vor wenigen Monaten ist
sie sogar als erste Slowakin in den Gemeinderat eingezogen.
Eine Zitronenlimo mit Sodawasser, bitte.
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Zuzana Ondrisova ist Mitte 30, lange blonde Haare, sie spricht mehrere Sprachen und hat in
Bratislava Karriere gemacht bei internationalen Unternehmen.
Wir haben erst in Petrzalka gewohnt, dem großen Plattenbau-Viertel in Bratislava, aber als
die Kinder kamen, wollten wir ein Stück Rasen und ein Häuschen, ein bisschen Auslauf für die
Kinder. Zuerst haben wir in den Vororten von Bratislava gesucht, aber da waren die
Grundstücke unglaublich teuer und man fährt trotzdem mit dem Auto eine Dreiviertelstunde
bis ins Zentrum. Und dann kam der Moment, wo wir uns gesagt haben: Gut, versuchen wir es
jenseits der Grenze!
Fünf Jahre ist das her, heute sind ihre Töchter sieben und viereinhalb Jahre alt. In der Nähe
des Bahnhofs hat die junge Familie ein Haus gebaut. Wenn Zuzana Ondrisova heute am
Ortsschild von Wolfsthal steht und in Richtung Osten blickt, dann sieht sie dort die markante
Burg von Bratislava aufragen und eine gewaltige Plattenbau-Siedlung.
Für mich war Österreich immer der Westen; das Land, wo man nicht hinkonnte. Als dann die
Grenzen offen waren und jemand etwas mitgebracht hat, das er in Österreich gekauft hat,
dann war das etwas zum Staunen. Das erste Mal, das ich selbst hierher kam, war mit einem
Schulausflug: Alles kam mir so sauber und ordentlich vor, die Leute kümmern sich um ihre
Umgebung. Das gilt ja auch heute noch. Schauen Sie sich nur unseren Ort hier an: Er liegt
nur ein paar Meter hinter der Grenze, aber es sieht anders aus als in den slowakischen
Dörfern – hübsch, renoviert, der Rasen gemäht, im Garten stehen Blumen – es hat einfach
einen anderen Charme.
Für viele Österreicher indes passte es nicht ins Weltbild, dass die Dörfer im Grenzstreifen
ausstarben, weil sie zu weit entfernt waren von der nächsten größeren österreichischen Stadt –
und dann auf einmal die Slowaken kamen, die hier fast sämtliche Häuser und Grundstücke
aufkauften, die zu haben waren. Zuzana Ondrisova kennt diese Vorbehalte; es sei inzwischen
aber weniger das Aufeinandertreffen von zwei verschiedenen Nationalitäten, das manchmal
für Reibungen sorge, sondern eher die unterschiedliche Stellung: Auf der einen Seite sind die
Einheimischen, die seit Generationen in Wolfsthal verankert sind, viele Landwirte darunter –
und auf der anderen Seite Akademiker aus der Slowakei, die im Ausland gelebt und in
Bratislava bemerkenswerte Karrieren hingelegt haben. In manchen der umliegenden Orte,
sagt Ondrisova, hätten sich die Einheimischen beschwert, dass die Slowaken beispielsweise
beim Vereinsleben nicht richtig mitmachten.
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Die Leute müssen einfach verstehen, dass die Slowaken erst um 18 Uhr oder später nach
Hause kommen. Da will jeder einfach ankommen und die Füße hochlegen, vielleicht noch mit
den Kindern spielen und dann schlafen. Und am Wochenende sind sie froh, dass sie sich von
ihrer Arbeit erholen können. Wir haben hier hochrangige Manager, Schauspieler – alles
Leute, die sehr ausgelastet sind und sich über ein freies Wochenende freuen.
Zuzana Ondrisova versucht im Stadtrat, Slowaken und Österreicher enger miteinander in
Kontakt zu bringen. Einmal, erzählt sie, hätte sich ein Einheimischer darüber beklagt, dass bei
der großen Aufräumaktion, die einmal im Jahr stattfindet, keine Slowaken mitgemacht hätten.
Im Jahr darauf war es dann anders:
Ich habe also eine Mail geschickt an die slowakischen Familien hier im Ort und dann ein
paar Tage vor der Aktion nochmal einen Reminder. Vorher waren jedes Mal so 10, 15 Leute
dabei, um Abfälle zu sammeln. Dieses Jahr waren es dann 83! Wir haben uns auf dem
Parkplatz am Bahnhof getroffen, der Organisator hat Handschuhe und Westen ausgeteilt,
aber es strömten immer mehr Leute herbei, ganze Familien mit ihren Kindern, so dass er bald
gar kein Werkzeug mehr zum Austeilen hatte. In zwei Stunden war der Abfall in der ganzen
Gemeinde aufgesammelt.
In Wolfsthal sind die meisten froh über ihre Slowaken: Vor einigen Jahren noch standen
Schule und Kindergarten kurz vor der Schließung, weil fast keine Familien mehr vor Ort
waren. Inzwischen platzen sie dank der Zugezogenen aus allen Nähten – und Zuzana
Ondrisova organisiert für den Nachmittag Englischunterricht, Tanzstunden, eine Kunst- und
eine Musikschule. Oft sind es slowakische Eltern, die sich dabei engagieren. Ihre Kinder,
erzählt sie, seien inzwischen perfekt zweisprachig.
Die Kinder merken es gar nicht, wenn wir über die Grenze fahren. Wir sind sowieso oft in
Bratislava, gehen da ein Eis essen oder einen Kaffee trinken. Ich glaube nicht, dass das für
sie ein großer Unterschied ist.
Und sie selbst? Zuzana Ondrisova muss schmunzeln. Kurz nachdem sie das Haus gebaut
hätten, erzählt sie, habe sie eine lehrreiche Begegnung gehabt:
Wir haben am Sonntag den Rasen gemäht. Uns war nicht klar, dass am Sonntag Ruhe
gehalten wird – eigentlich ja eine sehr schöne Tradition. Ein Nachbar kam gleich zu uns und
hat uns darauf aufmerksam gemacht – da vorne sitzt er übrigens, ein paar Tische weiter! -,
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und wir haben uns entschuldigt. Wenn man Bescheid weiß und sich dran hält, haben die Leute
kein Problem, die wissen das zu schätzen.
Die Slowakei und Polen teilen sich die Tatra – das kleinste Hochgebirge der
Welt. Die Tatra ist für beide Länder identitätsstiftend, so wie es die Alpen für
das Bundesland Bayern sind. Und dennoch: Während des Kommunismus, oben
in der freien Bergluft, sind sich slowakische und polnische Wanderer nur
ausnahmsweise näher gekommen. Davon können die Sherpas berichten,
Männer, die in der Tatra für den Nachschub auf den Berghütten zuständig sind.
Nicht mit Seilbahn und Geländewagen, sondern zu Fuß, als Träger, denn die
Bergpfade sind zu schmal und zu unwegsam.
REPORTAGE 3
Ein Festtag ist es, hier auf fast 1.500 Metern Höhe. Schneebedeckt sind die Gipfel, die sich
ringsum erheben, aus der Ferne klingt das Rauschen eines Wasserfalls herüber und die Hütte
mit ihren Wänden aus Holzbohlen ist der perfekte Aussichtspunkt.
Nach und nach treffen die Tatra-Träger ein, sie begrüßen sich per Handschlag. Eigentlich
sind sie Einzelgänger; der Job, den sie machen, ist der wohl einsamste der Slowakei: Jeden
Tag schnallen sie sich unten im Tal ein spezielles Tragegeschirr auf den Rücken, das aussieht
wie eine Holzleiter und weit über den Kopf hinausragt. Am unteren Ende hat es eine Sprosse,
auf die sie ihre Last stapeln, die sie hinauftragen in die Berghütten: Bierfässer schleppen sie,
Gasflaschen und selbst Kühlschränke – alles, was gerade benötigt wird. Bezahlt werden sie
nach Gewicht, und so laden sie unfassbare Mengen auf ihre Trage-Gestelle. Jaroslav Svorc ist
einer von ihnen, ein Mann Anfang 60, braungebrannt, gegerbte Haut. 20 Jahre lang hat er die
Hütte unter dem Gipfel des Rysy bewirtschaftet; zu Deutsch heißt der Berg Meeraugspitze.
Das ist die höchstgelegene Hütte, nicht nur in der Tatra, sondern in der ganzen Slowakei.
2250 Meter! Die Königin unter den Hütten. Auch deshalb, weil der Weg hinauf am
anstrengendsten ist. An manchen Stellen muss der Träger auf allen Vieren vorwärts kriechen,
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und das mit 80 oder auch mal mehr als 100 Kilo auf dem Rücken. Da gibt es Abschnitte, wenn
du da das Gleichgewicht verlierst oder sogar stolperst, das hätte fatale Folgen.
Jaroslav Svorc hält sich etwas abseits von seinen Kollegen, die sich hier zu einer Art
Betriebsausflug treffen – sie, die Einzelkämpfer, begegnen sich sonst höchstens zufällig
irgendwo auf einem der Wege hoch oben im Gebirge. Nachher wird Jaroslav Svorc mit ihnen
anstoßen, aber erst will er seine Geschichte erzählen. Die Hütte unter dem Berg Rysy, die er
einst bewirtschaftet hat, liegt direkt nur einen Steinwurf von der polnischen Grenze entfernt.
Seine Vorräte hat Jaroslav Svorc als Hüttenwirt meistens selbst hinaufgetragen. Sein Blick
geht in die Ferne, wenn er von dem Beruf der Träger erzählt, und Stolz schwingt mit in seiner
Stimme.
Da oben in der Einsamkeit kann einem keiner helfen. Es reicht, dass dein Schuh aufgeht, das
ist ein gewaltiges Problem. Du kannst die 100-Kilo-Last nicht einfach absetzen. Man muss in
jeder Situation einen Weg finden, sich selbst zu helfen. Ich habe gelernt, mich nur auf diese
Beine, diese Arme und diesen Kopf zu verlassen.
Heute machen seine Knochen nicht mehr mit bei den schweren Lasten, die er früher
geschultert hatte. Die Hütte bewirtschaftet deshalb ein jüngerer Kollege, er selbst ist aber
noch regelmäßig in der Tatra unterwegs. Auf seinen Touren, erzählt Svorc, hört er immer
wieder auch Polnisch: Die Hohe Tatra gehört zu beiden Ländern, und hier oben in den Bergen
laufen die Wanderwege zusammen. Trotzdem: Meistens blieben die Polen auf der einen und
die Slowaken auf der anderen Seite, sagt Svorc – vielleicht ein Erbe von früher. Noch vor der
politischen Wende war die Grenze hoch oben in den Bergen streng bewacht – auf ein paar
Tausend Metern Höhe patrouillierten uniformierte Polizisten, um zwischen den beiden
sozialistischen Bruderländern den Schmuggel zu verhindern.
Oft sind aber spät abends polnische Wanderer bei uns in der Hütte aufgetaucht, um zu
übernachten. Wir haben die immer ilegalnici genannt, die Illegalen. Die sind auf der
polnischen Seite hoch und dann abends, als die Polizisten nicht mehr da waren, zu uns
abgestiegen. Frühmorgens vor dem Schichtbeginn der Wache gingen sie wieder zurück. Wir
haben das immer gleich gesehen, wenn da jemand in seinem Kleingeld kramte und dann
fragte, ob er auch mit Zloty zahlen könnnte - da habe ich gesagt: Aha, Du bist ein Illegaler!
Und der schaute sich ängstlich um, und immer sagten diese Leute das gleiche: Es ist doch
schon so dunkel, wir schaffen den Abstieg nicht mehr.
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Diese klammheimlichen Begegnungen des Nachts in der Einsamkeit der Berghütte – das war
alles an kleinem Grenzverkehr, was über Jahrzehnte möglich war zwischen der Slowakei und
Polen, den beiden sozialistischen Bruderländern. Dass es nicht mehr Kontakt gab, lag wohl
vor allem an der Polizei, die selbst auf den Wanderwegen allgegenwärtig gewesen ist.
Jaroslav Svorc schmunzelt kurz, ihm fällt da eine Geschichte ein, die die Absurdität dieser
Zeit besonders gut zeige.
Einmal habe ich beim Aufstieg einen Polizisten in Uniform getroffen, der auf dem Weg war zu
seinem Dienst oben auf dem Berg; natürlich kannte ich ihn, er arbeitete ja bei uns in der
Nähe. Also ist er mit mir mitgegangen. Die Wanderer, die wir getroffen haben, machten ganz
schön Augen: Sie sahen ja schließlich einen Kerl, der eine gewaltige Last auf dem Rücken
trägt, der sich müht und schwitzt – und hinter ihm ein Polizist. Also fragten sie den Polizisten,
ob ich ein Sträfling sei. Er grinste kurz und sagte dann: Ja, das ist ein Gefangener, als Sühne
für einen Raubüberfall muss er jetzt schleppen. Ich habe gleich mitgespielt und gejammert:
Bitte, lass’ mich ein wenig von der Last runternehmen, ich kann nicht mehr! Er hat mir dann
die Pistole in den Rücken gerammt und gebrüllt: Morden konntest du, und jetzt fehlt dir die
Kraft – los, los, vorwärts! Interessant war: Die Wanderer haben sich sofort auf meine Seite
geschlagen. Wir haben dann den Spieß umgedreht, der Polizist hat die Last auf den Rücken
genommen und ich habe ihn gepiesackt, und die Wanderer haben applaudiert und gerufen:
Jawohl, lass’ das Arschloch auch mal schleppen!
Bis weit nach der politischen Wende war Jaroslav Svorc Hüttenwirt in der Tatra, aber
geändert habe sich zumindest hier oben in den Bergen nur wenig. Die Grenze zu Polen, ja, die
sei jetzt offen, und natürlich sei er selbst auch schon auf der anderen Seite gewesen, aber
meistens bleibe man dann doch im jeweils eigenen Land. Das solle man aber nicht überhöhen,
es habe keinerlei politische Hintergründe: Oben auf der Hütte hänge seit der kommunistischen
Zeit ein Schild mit der Aufschrift: „Es ist verboten, auf den Boden zu spucken und politische
Gespräche zu führen“ – und das habe er bewusst auch nach der Wende noch hängen lassen.
Wir haben immer gesagt: Auf der Hütte können wir die Politik nicht beeinflussen. Hier oben
gelten sowieso völlig andere Gesetze. Was die Leute unten erlebt haben, damit haben wir uns
nicht belastet, wir hatten die sehr harte eigene Arbeit. Nicht, dass es uns egal gewesen wäre,
aber…
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Jaroslav Svorc bricht seinen Satz ab. Tatsächlich sind viele Tatra-Träger ins Gebirge
gegangen, weil sie dort ihre Freiheit hatten – der Körper schwitzt unter der Last, aber der
Geist macht ungeahnte Höhenflüge, so formuliert es Jaroslav Svorc. Er selbst hat einen
Doktortitel, viele anderer seiner Kollegen sind auch Akademiker – gerade die Gebildeten zog
es immer hier in die Einsamkeit der Tatra. Und dann wird er doch noch poetisch, der harte
Mann, der hier oben Gewitter überstanden hat, Stürme und Lawinen.
Ein Drittel meines Lebens habe ich da oben auf der Hütte verbracht. Das waren die schönsten
Jahre, die ich hatte. Ich glaube nicht, dass ich noch etwas Schöneres erlebe.
LITERATUR 2
Ahoi ist in Tschechien und der Slowakei allgegenwärtig, geht als informeller Gruß quer durch
die Generationen, lässt sich annähernd mit dem deutschen Hallo vergleichen. Richtet sich der
Gruß an mehrere, wird daraus „ahojte“. Wer sich keck und gut gelaunt gibt, verniedlicht den
Gruß zu „ahojky“ oder „ahojček“.
Doch ist ahoj kein tschechisches Wort, sondern eben jener internationale Seemannsgruß, als
den ihn andere Sprachen kennen. Abgeleitet vom mittelenglischen Viehtreiberruf „hoy“
wurde „Ahoy“ zum Anruf für ein anderes Schiff und für die Meldung des Ausgucks, dass ein
anderes Schiff in Sicht kommt – „Schiff ahoi“. In den zwanziger und dreißiger Jahren des
vorigen Jahrhunderts, als Wanderverbände durch Böhmen und Mähren zogen, brachten die
Pfadfinder den Gruß auf – sie bevorzugten Wassersportarten. (…)
Allein, das böhmische Meer, das mährische, das slowakische Meer – es hat dem
tschechoslowakischen Staatsvolk stets gefehlt. Überhaupt hat die Natur Tschechien und die
Slowakei nur karg mit Wasserflächen beschenkt, mit Fischteichen mittlerer Größe und
einigen wenigen kaltklaren Gebirgsseen. So schufen sich die Tschechen und die Slowaken
Anlässe, ahoi zu sagen – indem sie ihre Flüsse zu kleinen Meeren stauten.
Vor allem in den aufbauseligen Sechzigern entstanden Dutzende Stauseen an Moldau, Thaya,
Waag und anderen Flüssen, einige so groß, dass Ihnen gelegentlich der Ehrentitel Meer
beigegeben wird: Böhmerwald-Meer, Liptauer Meer, Ostslowakisches Meer.
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REPORTAGE 4
Anna Michalcová nimmt ein paar Scheiben trockenes Brot, die beiden Lämmer stehen schon
am Gatter und fressen ihr aus der Hand. Michalcova stellt sich wieder in die Sonne, im
Rücken den Stall und vor sich das langgestreckte Bauernhaus.
Das ist eines der größten Häuser hier. Die früheren Besitzer waren vor fast 100 Jahren in
Amerika und haben dort ein paar Jahre lang Geld verdient. Anschließend sind sie wieder
zurückgekommen und haben diesen Bauernhof gekauft und vergrößert. So alte Häuser wie
dieses hier findet man sonst gar nicht mehr in der Gegend.
Gazdovsky dvur, zu Deutsch einfach: Bauernhof, heißt das Anwesen im Ort Myjava ganz im
Westen der Slowakei. Eine Art Freilichtmuseum ist es, in das vor allem örtliche Schulklassen
strömen, aber für Anna Michalcova dient es eher als Zeitmaschine: 58 Jahre alt ist sie, kurze
Haare, Fleecepullover. Sie arbeitet als Museumsführerin und würde am liebsten einziehen in
dieses Haus, wo alles noch so aussieht, wie sie es aus ihrer Kindheit kennt.
Man sagt, man betritt das Haus über den Flur, der immer in der Mitte liegt. Das war einer
der wichtigsten Räume des Hauses, weil hier der Brotofen stand, den sehen Sie hier, ein
gemauerter Ofen. Dieses Zimmer hieß immer Schwarzes Zimmer, denn wenn man gebacken
hat, war hier überall die Asche verteilt. Dann gab es das festliche Zimmer für die Feiertage,
und hier vorne die Küche, wo den ganzen Tag über der Herd angeschürt war und in der sich
das Leben abgespielt hat.
Ein arbeitsreiches, hartes Leben war es, und auch heute noch ist die Region arm. Myjava liegt
an den Ausläufern der Karparten, und mitten durch die Bergkette verläuft die Grenze zu
Tschechien – zumindest seit 1993, als die Tschechoslowakei geteilt worden ist. Wenn man
Anna Michalcova darauf anspricht, legt sie ihre Stirn in Falten. Einen Moment überlegt sie,
dann fängt sie an zu schimpfen.
Die Teilung war drastisch. Ein paar Leute werden sich dabei ordentlich bereichert haben,
aber wir – wir können das bis heute nicht verstehen. Wir sind nicht mehr zusammen, obwohl
wir eine ähnliche Sprache haben, obwohl wir uns verstehen und uns immer nah waren. Sehen
Sie, mit keinem der umliegenden Länder sind wir so eng verbunden wie mit Tschechien.
Unsere Geschichte ist miteinander verknüpft, viele Familien sind über die Grenze hinweg
verschwägert. Ich habe keine Ahnung, warum die uns damals getrennt haben. Das war
einfach wieder mal die Politik der großen Herren dort oben (lacht bitter).
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Sie läuft los aus der Küche in das Wohnzimmer. Dort hat sie ein Bild ihrer Großeltern
aufgehängt. Als junges Paar lächeln sie dem Betrachter scheu entgegen, sie tragen die örtliche
Tracht. Mit den Grenzen, sagt Anna Michalcova, habe man hier in der Region ohnehin seine
ganz eigenen Erfahrungen gesammelt. Jahrgang 1898 sei ihre Großmutter, sagt sie und deutet
auf das Bild.
Damals gab es noch die Monarchie, wir standen unter ungarischer Regierung. In den Schulen
hat man ungarisch gelernt. Dann wurden wir nach dem Ersten Weltkrieg zum Teil der
Tschechoslowakei, da war die Obrigkeit wiederum tschechisch. Hier vor Ort hatte das aber
keine großen Auswirkungen Wir hatten den Pfarrer, einen Notar und den Lehrer – das war
die Elite, die die Gemeinschaft geleitet hat.
Es liegt vielleicht an der Abgeschiedenheit der Bergregion, dass man hier seit jeher in kleinen
Dimensionen denkt. Ob die Hauptstadt nun gerade Wien hieß, Prag oder Bratislava – auf das
tägliche Leben hatte das wenig Einfluss.
So gleichförmig wie die Pendelbewegung der alten Wanduhr im Bauernhof-Museum verlief
in Myjava die meiste Zeit über das Leben der Einheimischen, unbeeinflusst von all den
Veränderungen ringsum. Anna Michalcova sitzt unter der Uhr am Küchentisch, vor sich eine
Nähmaschine, und flickt die Naht einer Tracht.
Für uns war das normal, was Sie sich heute als Folklore anschauen; wir sind damit groß
geworden. Ich selbst habe bei meinen Großeltern auf dem Bauernhof gelebt, bis ich zehn
Jahre alt war; erst danach sind wir in eine Mietwohnung gezogen. Es war üblich, dass man
die Traditionen von der vorherigen Generation übernimmt. Das betrifft die Trachten, die
Bestellung der Felder, aber auch das gesamte Verhalten. Hier bei uns war es zum Beispiel
üblich, dass die Eltern ihren Töchtern einen Mann ausgesucht haben, da hat man nach dem
Landbesitz geschaut und dann Verbindungen geschaffen, wo es sinnvoll war. Die Töchter
wiederum wussten, dass die Eltern ihnen keinen Luftikus aussuchen, sondern einen
zuverlässigen Partner. Das war der Stolz, den jeder gespürt hat: Ich mache das genauso, wie
es meine Mutter schon gemacht hat – und so ist das richtig, weil sonst die Familie nicht
funktionieren würde. Es war genau geregelt, was der Bauer macht und was die Bäuerin – und
das blieb so bis zu der Zeit, als ihnen die Kommunisten den Grundbesitz und die Tiere
genommen haben für die großen Genossenschaften. Die jungen Leute gingen in die Fabrik
und die Bauern verloren ihre Position, sie mussten sich der neuen Zeit unterordnen.
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In den 1950er Jahren war das – bis dahin lebten sie hier in Myjava so wie ihre Vorfahren
schon seit Jahrhunderten. Die Weltabgewandtheit war selbstgewählt, die Bereitschaft groß,
ein Leben mitsamt den uralten Traditionen fortzuführen. Selbst bei den jungen Männern, die
zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach Amerika gingen.– sie kehrten wieder zurück, um mit
dem Ersparten einen großen Hof zu kaufen. Eine Beharrlichkeit, die sich heute noch zeigt, an
der slowakisch-tschechischen Grenze. Man geht weiterhin zu den Dorffesten hinüber nach
Mähren, erzählt Anna Michalcova - ob nun eine Grenze dazwischenliegt oder nicht. Man
feiert gemeinsame Feste mit Auftritten der jeweiligen Folkloregruppen und pflegt die
Traditionen, die auf beiden Seiten fast die gleichen sind.
Normale Leute sehen das gar nicht so, dass wir getrennt sind. Wenn jemand aus Tschechien
kommt, den nehmen wir bei uns auf, als sei er einer von uns, und sie nehmen uns genauso auf.
Da sehe ich keinen Unterschied.
Und so bleibt in Myjava alles so wie es schon immer war. Grenzen hin oder her.
Beleidigungen, fremdenfeindliche Ausschreitungen, diplomatischer Streit. Es
gab eine Zeit der Feindseligkeiten zwischen der Slowakei und Ungarn, ausgelöst
durch jahrzehntelange Nationalitätenkonflikte, durch Kriege und willkürliche
Grenzziehungen. Ausgetragen sowohl auf der politischen Bühne als auch im
Fußballstadion.
Gut eine halbe Million Ungarn leben in der Slowakei, sie machen etwa ein
Zehntel der Bevölkerung aus und sind damit die größte Minderheit im Land.
Grundlage dafür ist der Vertrag von Trianon, ein Friedensabkommen nach dem
ersten Weltkrieg. Es legte fest, dass das damalige Königreich Ungarn zwei
Drittel seines Territoriums an seine Nachbarländer abgeben musste. Und in
diesen Gebieten leben bis heute große ungarische Minderheiten, über deren
Status immer wieder gestritten wurde.
Vor allem in der Provinzstadt Komarno, im slowakisch- ungarischen
Grenzgebiet. Komarno war einst das Epi-Zentrum der Feindseligkeiten. Die
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hatten ihren Höhepunkt im Jahr 2009 erreicht, mit dem Vorwurf, die Bürger der
Stadt würden sich am liebsten wieder Ungarn anschließen. Das ist nicht passiert
und inzwischen geht es in der Stadt wieder friedlich zu. Die einst aufgeheizte
Atmosphäre hat sich normalisiert. Auch am ungarisch-sprachigen Gymnasium
von Komarno.
REPORTAGE 5
Ein paar Minuten noch, dann geht die Schulstunde los. Zsuzsanna Kralik muss in den zweiten
Stock, dort wartet ihre Klasse auf sie.
Das ist eine Klasse mit dem Schwerpunkt Mathematik und Physik. Ich unterrichte hier
slowakisch, drei Stunden pro Woche habe ich mit den Schülern.
Ein ehrwürdiger Bau beherbergt das Gymnasium, mehr als 100 Jahre ist er alt und erinnert
mit seinem repräsentativen Treppenhaus und den hohen Räumen an eine Akademie aus der
Zeit der österreichisch-ungarischen Monarchie. Auch der Unterrichtsstil wirkt wie aus der
Zeit gefallen.
Wenn Zsuzsanna Kralik die Klasse betritt, springen alle Schüler auf und grüßen sie.
Setzt Euch! Wir beschäftigen uns gerade mit der Geschichte der slowakischen Literatur.
Welche Aufgabe hattet ihr?
Die Schüler antworten im Chor, keiner tanzt aus der Reihe. Ein Vergleich zwischen
slowakischer und ungarischer Literatur – darum geht es in der Stunde, 45 Minuten lang, bis
schließlich die Schulglocke läutet.
Das Gymnasium in Komarno ist der Stolz der ungarischen Minderheit in der Slowakei: Nicht
zweisprachig ist es, sondern rein ungarischsprachig – die Landessprache Slowakisch wird hier
als Fremdsprache gelehrt. Regelmäßig landet das Gymnasium auf einem der Spitzenplätze,
wenn in der Slowakei die Schulen verglichen werden. Urkunden dokumentieren diese
Erfolge. Sie hängen im Treppenhaus und in den Fluren, an denen Zsuzsanna Kralik jetzt nach
ihrem Unterricht vorbeiläuft auf dem Weg ins Lehrerzimmer. Ihre blonden Haare hat sie zu
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einem Pferdeschwanz gebunden, und wenn sie von der Tradition des Gymnasiums spricht,
bekommt ihre Stimme etwas Feierliches.
Mein Vater ist schon hier zur Schule gegangen, ich selbst auch. Jetzt hoffe ich, dass auch
mein Sohn eines Tages hierher geht. Das sind Generationen! Wir sind das größte ungarische
Gymnasium in der Slowakei und ich glaube, das bleibt auch so.
Ihre Geschichte ist so ähnlich wie die der meisten ihrer Schüler: Sie kommt aus einem
Elternhaus, in dem ungarisch gesprochen wird. Die Gegend um Komarno ist die Hochburg
der ungarischen Minderheit, die Straßenschilder sind zweisprachig, es gibt ein
ungarischsprachiges Theater und sogar eine ungarischsprachige Universität, und wer in ein
Restaurant geht oder in einen Supermarkt, wird als erstes auf Ungarisch angesprochen.
Ich hatte immer schon slowakische Freundinnen, also habe ich von früh auf auch slowakisch
gekonnt. Nicht, dass ich zweisprachig wäre, das nicht – aber es war für mich kein Problem,
die Sprache zu lernen und immer besser und besser zu werden. Ich war dann an einer
slowakischen Uni und habe Sprachen studiert - slowakisch mit slowakischen Kommilitonen,
beim Ungarischen war ich vor allem unter Ungarn.
Die meisten der slowakischen Ungarn sind durchaus slowakische Patrioten, aber ihre
ungarischen Wurzeln kultivieren sie sehr selbstbewusst. Das war schon so, als die Grenze
zwischen Ungarn und der Slowakei noch so gut wie undurchlässig war – jene Grenze, die
mitten durch Komarno verläuft. Die Donau fließt durch die Stadt; links vom Strom liegt die
Slowakei, rechts davon Ungarn.
Früher konnte man nicht einfach so über die Brücke gehen. Vor dem Jahr 1989 durfte man
nur zweimal im Jahr nach Ungarn. Da haben wir dann versucht, auf einen Schlag alles zu
erledigen, was angefallen ist. Nach der Wende konnten wir zwar rüber, aber immer mit
Grenzkontrolle. Wenn wir ins Kino wollten, dann mussten wir eine Stunde vorher los, um
sicher zu sein, dass wir pünktlich ankommen.
Trotz dieser Restriktionen an der Grenze: Die Kultur- und Bildungseinrichtungen der
Minderheit hat der slowakische Staat auch im Kommunismus unterstützt. Reibungen
allerdings gibt es bisweilen – als vor einigen in der Slowakei eine nationalistische Partei an
der Regierung beteiligt war, hetzte deren Chef offen gegen die Minderheit, in Fußballstadien
kam es bei Spielen mit Mannschaften der Minderheit zu Ausschreitungen. Und umgekehrt
weckt in der Slowakei Befremden, dass der ungarische Premierminister Victor Orban allen
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Angehörigen der ungarischen Minderheiten in den Nachbarländern die doppelte
Staatsbürgerschaft versprochen hat. Auf den Alltag in Komarno hat die große Politik
allerdings wenig Einfluss; das Gebiet ist über die Jahre eine Art Enklave der slowakischen
Ungarn geworden.
Die Kinder gehen erst in einen ungarischsprachigen Kindergarten, dann in eine
ungarischsprachige Grundschule. Von den fünf Unterrichtsstunden pro Tag ist dort eine im
Fach Slowakisch. Und dann gehen sie auf ungarischsprachige weiterführende Schulen bis hin
zum Gymnasium.
Offizielle Amtssprache ist aber natürlich das Slowakische. Der Sprachunterunterricht ist
deshalb nicht nur eine Frage der Integration, sondern schlicht auch der Handlungsfähigkeit,
wenn die Schüler erst einmal erwachsen sind. Ganz einfach sei es nicht, slowakisch zu
unterrichten, sagt Zsuzsanna Kralik – zu unterschiedlich seien die Voraussetzungen, die ihre
Schüler mitbringen.
Es sind natürlich zweisprachige Kinder darunter, bei denen ein Elternteil slowakisch ist. Aber
wir haben auch Schüler – vor allem die aus den Dörfern -, die wachsen in einem komplett
ungarischsprachigen Umfeld auf. Ihr erster Kontakt mit dem Slowakischen ist in der Schule.
Wir haben drei Stunden Sprachunterricht pro Woche – das sind die einzigen drei Stunden, in
denen sie slowakisch sprechen.
Ein Wort aber, sagt Zsuzsanna Kralik und schmunzelt, kennen die Schüler ganz unabhängig
von der Sprache nur in der Theorie: Reisepass. Denn in der Praxis hätten sie ihn noch nicht
kennengelernt; über die Donaubrücke nach Ungarn zu spazieren, ganz ohne Grenzkontrollen
und Wartezeiten, das sei für sie völlig normal. Und der Kontakt zu den anderen Ungarn,
denen auf der ungarischen Uferseite?
Man erkennt den Akzent schon ein bisschen. Unser Ungarisch von hier hat eine etwas andere
Färbung. Aber vom Verhalten oder so merkt man natürlich keine Unterschiede. Wenn ich zum
Einkaufen nach Ungarn gehe, weiß niemand, dass ich von hier stamme.
Zsuzsanna Kralik öffnet die Tür und geht vom Lehrerzimmer aus wieder auf die Schulflure,
die nächsten Schüler warten auf sie. Und wie sie durch das majestätische Treppenhaus geht,
vorbei an den Schülern, bleibt sie auf einmal stehen und sagt:
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Hören Sie hin, Sie merken: Alle sprechen ungarisch, slowakisch hört man hier gar nicht.
Die Grenze zwischen Ungarn und der Slowakei lässt sich zwar geographisch exakt bestimmen
– im Alltag der Schüler aus Komarno aber gibt es sie nicht.
An der Grenze
– Die Slowakei und ihre Nachbarn. Das waren Gesichter
Europas mit Reportagen von Kilian Kirchgeßner. Die Literaturauszüge stammen
aus dem Buch “Die Welt hinter Wien“ von Martin Leidenfrost. Erschienen im
Picus Verlag. Gelesen von Tom Jacobs. Musikauswahl und Regie: Simonetta
Dibbern. Ton und Technik: Gunther Rose und Caroline Thon. Am Mikrofon war
Katrin Michaelsen.
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