Stop teaching! - Angewandte Theaterforschung

List, Volker (2015): Primavesi/ Deck: Stop teaching! – Rezension. PDF. Hüttenberg
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Primavesi, Patrick/ Deck, Jan (2014)(Hg): Stop teaching! Neue
Theaterformen mit Kindern und Jugendlichen. Bielefeld: transcript. 334
Seiten – Rezension
„Stop teaching!“ – Ein Pamphlet gegen Theaterlehrer und -pädagogen?
Primavesi und Deck haben mit ihrem Sammelband ein beeindruckendes Leparello von
Beschreibungen neuer Formen im Kinder- und Jugendtheater aufgeklappt.
26 Autoren dokumentieren ihre Sichtweisen, Konzepte und Projekte.
Natürlich ist es schwierig in einem Text die konkrete Arbeitsweise von Regisseuren,
Spielleitern und Theaterpädagogen und die erlebte Wirkung einer Aufführung für einen Leser
abzubilden.
Dennoch. Die Aussagen zu Vorhaben, durchgeführten Prozessschritten, Aktionen, und
theoretischen Abgrenzungen reichen von unpräzise und widersprüchlich formulierten
Paradigmen bis hin zu konkreten Empfehlungen und genauen Handlungsanweisungen. Sie
erlauben in Summe einen breiten Blick auf modernes professionelles Kinder- und
Jugendtheater.
Die Herausgeber konstatieren, dass seit einigen Jahren mit Kindern und Jugendlichen als
Akteuren gearbeitet wird, sogenannten Experten des Alltags, und diese professionellen
Produktionen weit über das Schultheater hinausgingen.
Primavesi/ Deck geht es um die Übernahme sogenannter postdramatischer Spielweisen für
professionelles Kinder- und Jugendtheater. Dabei "werden Methoden der Recherche, der
Dokumentation und der szenischen Montage angewandt und im Moment der Aufführung
gemeinsam mit dem Publikum erprobt: ein lebendiges Erforschen gesellschaftlicher Themen
statt ihrer psychologisch motivierten Verarbeitung zu gängigen Stereotypen. Lerneffekte gibt
es natürlich auch ..." (9) Und „Stop teaching! soll natürlich nicht heißen, alles Pädagogische
aus dem Theater zu verbannen.“ (10)
Mit dem Imperativ „Stop teaching!“ werden offensichtlich Theaterlehrkräfte und -pädagogen
aufgefordert, ihre Rollen als „Regisseur, Spielleiter, Choreograph, wie es in der Praxis des
Schulfachs ‚Darstellendes Spiel’ oft der Fall war“ – und leider noch vielfach ist als
Nachahmung professionellen Regietheaters – zu überdenken und eher die Rollen als
„Betreuer und Beobachter“ einzunehmen. „Wichtiger als das Lehren ist jedenfalls das Lernen,
für alle Beteiligten.“ (10)
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Primavesi, Patrick: Stop teaching! Theater als Laboratorium (a)sozialer Phantasie. S.
15-45
Primavesi stellt angesichts einer vielfältigen und lebendigen Theaterlandschaft die Frage, auf
welche Weise gegenwärtig mit Kindern und Jugendlichen als Akteuren gearbeitet wird. Er
sucht nach Impulsen sowohl für das etablierte Kinder- und Jugendtheater als auch für die
weitere Entwicklung neuer postdramatischer Theaterformen und verweist darauf, dass es
keine lineare Entwicklung im Theater gebe und unterschiedliche Formen, Tendenzen und
Prozesse mit ihren jeweils eigenen Entwicklungsgeschwindigkeiten nebeneinander bestünden.
Die meistgespielten Theaterstücke der letzten Jahre sind in der Tat eher traditionell geformte
Kinder- und Jugendtheaterstücke. Die sogenannte postdramatische Spielweise ist/ war
Avantgarde, auf dem absteigenden Ast. Man kann darüber diskutieren, aber es gilt die
Tatsache von der Ungleichzeitigkeit der Entwicklungen. Was sich im Profitheater gerade
totzulaufen und sein Ende zu finden scheint, im Schultheater en vogue ist, erreicht gerade erst
so manches Stadttheater.
Primavesi spielt nicht postdramatische Spielweisen gegen das Rollenspielen aus – obwohl das
eine das andere ausschließen will – sondern sieht eher die Chancen einer Erweiterung des
theatralen Ausdrucksrepertoires und der Spielformate im Sinne einer größeren Vielfalt
im Kinder- und Jugendtheater. „Dementsprechend sind für Kinder nicht nur die lange schon
als pädagogisch wertvoll eingestuften Arbeitsweisen und Formen von Theater als Rollenspiel
zuträglich, sondern auch experimentelle Formen, die mit den alltäglichen oft genug
destruktiven Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen zugleich die Machtverhältnisse und
symbolischen Ordnung des Alltags aufs Spiel setzen können.“ (18)
Theater-Lehrkräfte sollten Regie- und Entscheidungskompetenzen abgeben und die
inszenatorische Vormachtstellung aufgeben und sich auf Brecht beziehend formuliert er, dass
Theater als solches bereits eine soziale Funktion habe und insofern politische Praxis sei. (21)
Deck, Jan: Paradoxe Verhältnisse. Zum biopolitischen Kontext der Theaterarbeit mit
Kindern und Jugendlichen. S. 47-67
Deck beschreibt eine ganze Reihe aktueller und professioneller Produktionen im Kinder- und
Jugendtheater und bringt die Problematik der beschriebenen Inszenierungen auf ihren
kritischen Punkt schlechthin, wenn er formuliert: „Auf der einen Seite hat jugendliche
Dissidenz im Kontext der dargestellten pädagogischen Debatten durchaus subversiven
Charakter. Auf der anderen Seite lässt die Medialisierung diese Dissidenz zur Pose erstarren,
harmlos und benutzbar erscheinen.“ (64)
Die beschriebenen Stücke, auf die sich Deck bezieht, werfen durchaus auch die Frage auf, ob
hier nicht die Kinder und Jugendlichen von professionellen Künstlern unter dem Vorwand,
ihnen (den Kindern) für ihre Interessen und Bedürfnisse, ihr angebliches Expertentum,
künstlerischen Raum und Gestaltung zu geben, für ihre (der Künstler) eigenen Absichten zuund abgerichtet werden, gerade so, wie die Kritik es an dem Bildungssystem mit seiner
neoliberalen Strategie der Zurichtung der Schutzbefohlenen für wirtschaftliche Interessen
unter dem Deckmantel der Selbstoptimierung vorwirft. Wir hätten es also mit Künstlern im
Dienste des Neoliberalismus zu tun, ganz so wie es Stegemann hinreichend ausdifferenziert
hat.
Decks Lösung des Problems:
Weg von einer überholten Erziehungsperspektive. Keine neoliberale Selbstoptimierung mehr
betreiben. „Raum, Zeit, Körper und Bildung neu zu denken.“ (67) „Jeden direkten Anspruch
auf Erziehung, Belehrung, Integration oder Bildung aufzugeben“. „Die gewohnten
Hierarchien des Wissens oder Könnens aufzulösen.“ wobei das nicht bedeute, „dass die
professionellen Kulturarbeiter auf ihr Wissen und Können verzichten sollen“, denn den
Theaterexperten fällt „ja immer noch die Rolle zu, die gemeinsamen Forschungen in
künstlerische Prozesse und Produktionen münden zu lassen.“ – Das ist sehr nah an dem, was
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Theaterunterricht nach dem Verständnis von Experten des Theaterunterrichtens als kulturelle
Bildung ausmacht und an dem sie seit Jahrzehnten arbeiten und um laufende Verbesserung
bemüht sind. Decks Forderung, den Anspruch auf Erziehung, Integration und Bildung
aufzugeben, scheint nicht so recht zu Ende gedacht.
Mit „Stop teaching!“ kann demnach Theaterunterricht in der aktuellen Fassung als
Darstellendes Spiel in Schulen nicht gemeint sein. Dass es auch hier keine einheitliches Bild
bei der Umsetzung einer Didaktik des Theaters bzw. Darstellendes Spiel gibt und so mancher
Theaterlehrer seine Kompetenzen erweitern sollte, das ist selbstverständlich. Aber schwarze
Schafe gibt es leider überall. Schauen wir auf die konstruktiven und wegweisenden Beispiele.
Hentschel, Ingrid: Vom Hoffnungsträger zum Problemfall. Kindheitsbilder im Theater
für Kinder. S. 69-90
Hentschel weist auf bedenkliche Entwicklungen der aktuellen Bildungsoffensive in der
Kulturellen Bildung hin, in der es mehr um Effizienzdenken (83) im neoliberalen Sinne gehe.
Unterstützt werde diese Entwicklung von der Hirnforschung. „Das Theater für Kinder wird so
didaktisiert, pädagogisiert und instrumentalisiert als Kompetenzzentrum für defizitäre kleine
Menschen.“ (83) Als Alternative verweist sie auf beispielhafte professionelle Aufführungen
mit Kindern, in denen „’Kinder als vollkommen selbstbestimmte Geschöpfe das
Bühnengeschehen übernehmen und ihr Welt- und Seinsverständnis als choreografisches
Prinzip’ (Nehring 2012) die Aufführung durchdringt.“ (85f)
Ihr Fazit an die Theaterlehrkräfte: „Lassen wir sie (die Kinder, V.L.) spielen und spielen wir
für sie Theater, frei von didaktischen Aufträgen, pädagogischen Funktionalisierungen und
Wunschprojektionen!“ (88) „Kindheit und Spiel gehören zusammen wie Spiel und Theater.
Spiel ist der Kern der Kunst. Vor allem aber des Theaters.“ (89)
Naive Vorstellungen von bunter Kuschelwelt-Kindheit führen offensichtlich hier zu SchwarzWeiß-Malerei, dessen Fazit eine Liquidierung aller Bemühungen und Erfolge kultureller
Bildung in Form von Theaterunterricht nach einer konstruktiven Didaktik wäre, die Kinder
begleitend unterstützen will, auf dass sie ihr Leben meistern.
Schubert, Inge: Müssen wir heute wieder machen, was wir selber wollen?. S. 91-107
Aus dem Artikel von Schubert erfährt man einige (teilweise ältere) Erkenntnisse über das
Verhältnis von Erwachsenen und Kindern.
Informationen über neue Formen im Kinder- und Jugendtheater erhält man nicht. Die Autorin
schreibt dazu: „Welche Möglichkeiten speziell das Theater hat, mit künstlerischen
Herangehensweisen herrschende Deutungsmuster und gesellschaftliche Diskurse über Kinder
zu dekonstruieren und für Zuschauer Anlässe zu schaffen, neue Sichtweisen zu entwickeln,
mögen die anderen Beiträge in diesem Band beantworten.“ (104)
Als Leser bin ich erst verblüfft, dann verärgert.
Dröge, Wiebke: Cabinet Pariculier. Ein separater Diskursraum für
Jugendproduktionen. S.109-124
Dröge spricht Klartext und lässt betroffene Jugendliche zu Wort kommen. Obwohl sie als
Choreografin über ihre Erfahrungen als Tanztheater-Leiterin spricht, können ihre
Ausführungen 1:1 auf Schultheater und Theaterlehrkräfte übertragen werden, denn sie sind
nicht abhängig von Inhalten, sondern davon wie sie methodisch vorgeht.
Sie hat also eine (Tanz-)Methodik, die ja einer (Tanz-)Didaktik folgt bzw. voraussetzt.
Unter der Kapitelüberschrift „Ähnliche Arbeitsweisen. Ungleicher Diskurs“ differenziert sie
die drei für sie bedeutsamen Ansätze:
1. Eine Choreographin, ein Regisseur realisieren ein fertiges künstlerisches Konzept, das zu
den Jugendlichen passt.
2. Die Choreographin entwickelt ein Konzept ausschließlich aus den Ideen der Jugendlichen
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in einer demokratischen Gemeinschaftsarbeit.
3. Die beiden ersten Ansätze werden miteinander kombiniert. „Aus den Impulsen der
Jugendlichen erarbeitet die Choreographin unter Einbezug ihrer künstlerischen Erfahrung ein
wirkungsvolles Konzept“. (112)
Mit ihrem Statement fordert Dröge den Einbezug der Erfahrungen von künstlerisch
arbeitenden Menschen aus der Praxis in den theoretischen Diskurs (111), da auf diese Weise
„die Möglichkeit besteht, die Stimmen und Atmosphären der Zielgruppen selbst mit zu
transportieren.“ (111)
Ersetzt man die Choreographin durch Theaterlehrkraft und die Begrifflichkeit „Kunst“ durch
„theaterpädagogisch“, dann ist ein moderner Ansatz für Theaterunterricht umschrieben, wie
ihn auch das theatrale Lernkonzept der Kursbücher verfolgt.
Dennoch wird die Ablehnung (einer bestimmten) schulischer Arbeit spürbar: So sollte eine
„Arbeitsstimmung weit entfernt von schulischen Regelwerken oder traditionellem
Regietheater“ (121) sein. Die Differenzierung, was hier mit „schulischem
Regelwerk“ gemeint ist, bleibt aber leider aus. Denn den Theaterunterricht gibt es nicht,
sondern eine Vielfalt, nämlich vom alten Deutschlehrer, der immer noch Dürrenmatt
inszeniert, über den Lehrer, der sich gern mit Postdramatikern messen will und alles tut, um
bei Festivals zu gewinnen (ganz dem marktwirtschaftlichen Leistungs- und
Wettbewerbsstreben folgend), bis hin zu dem, der jungen Menschen eine Gelegenheit geben
will, sich künstlerisch zu betätigen, um ihr Potenzial zu entfalten und kulturell bedeutsame
Kompetenzen zu erwerben.
Und es offenbart sich ein grundlegender Widerspruch, wenn Dröge auf der einen Seite Kunst
definiert als etwas, „was man aus sich selbst heraus tun möchte“ (117 und 121) und auf der
anderen Seite eine Haltung der (Selbst-)Akzeptanz der Jugendlichen und eine starke (Selbst)Bewusstheit (123f) verlangt.
Und da liegt der Hase im Pfeffer, wo der Ruf des „Stop teaching!“ im Leeren verhallt, denn
das ist es, was qualifizierte Theaterlehrkräfte und -pädagogen bemüht sind überhaupt erst
herzustellen bei dem überwiegenden Teil ihrer Schüler, nämlich eine gesunde
Selbstakzeptanz, gefolgt von einer angemessenen Fremd- bzw. Gruppenakzeptanz oder
anders formuliert: Team- oder Ensemblefähigkeit.
Was nützt es, wenn so manche Künstler, Theaterpädagogen sind auch welche dabei, einladen,
ihre Arbeitsweise zu beobachten zwecks Austausch und voneinander lernen, wenn sie selbst
nicht bei anderen gucken (wollen), in diesem Fall bei den angesprochenen Theaterlehrkräften,
die qualifiziert Theater unterrichten. Da ist Handlungsbedarf.
Westphal, Kristin: Fremdes in Bildung und Theater/ Kunst. S.125-138
Westphal wirft einen Blick auf die Bedeutung des Fremden und der Fremderfahrung in der
ästhetischen Arbeit und führt in Bezug auf die Arbeit von Theaterpädagogen und -lehrern das
Folgende als Begründung aus, mit dem Unterrichten aufzuhören:
„Ein zentraler Gedanke für die Pädagogik ist, dass es bei Fremderfahrungen gerade nicht
darum geht, sich diese anzueignen, ihnen den beunruhigenden Charakter zu nehmen, wie es in
eine identifikatorischen künstlerisch-schulischen Praxis häufig unter didaktischen
Gesichtspunkten der Fall ist. Im Gegenteil geht es vielmehr darum, dem Fremden seine
Fremdheit zu belassen. Auch gehen die vorgestellten Theorien nicht konform mit der
gängigen Vorstellung in der Pädagogik, dass Bildung mithilfe ‚innerer Kräfte’ sich vollziehen
würde.“(135) Es gehe vielmehr darum „neu und anders über Pädagogik zu denken und den
pädagogischen Umgang mit den Heranwachsenden als ein offenes Geschehen zu gestalten
und zu erfahren.“ –
Westphal zeichnet mitverantwortlich für den neu eingerichteten Lehramtsstudiengang
Darstellendes Spiel als Erweiterungsfach ab dem Sommersemester 2015 an der Universität
Koblenz-Landau am Campus Koblenz und es wird die Frage zu beantworten sein, wie sich
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das postulierte „offene Geschehen“ im Prozess der Theaterlehrerausbildung manifestiert und
die Lehramtsstudenten befähigen werden im Unterrichtsfach Theater/ Darstellendes Spiel in
Schulen Leistung zu beurteilen und Noten zu geben. Das gehört nunmal aktuell zu schulischer
Praxis.
Vaßen, Florian: Gemeinsam lernen. Theaterpädagogik und ästhetische Erfahrung. S.
139-154
Vaßen macht deutlich das Theater eine multidimensionale Gemeinschaftskunst ist. „Es bietet
als Raum die Basis für Versammlung, Zusammenkunft, Begegnung und damit die
Möglichkeit für kollektive Kreativität (vgl. Fischer/ Vaßen 2011), d.h. es ist gesellig und
damit in besonderem Maße gesellschaftlich.
Beim Theaterspielen findet künstlerische Arbeit statt und zugleich Beziehungsarbeit. Im
theatralen Kunstprozess existiert folglich auch ein außerkünstlerisches Potenzial, dass die
Erweiterung zu anderen sozialen Feldern jederzeit erlaubt, so das Theater auf der Grundlage
der Forschung von sozialer Wirklichkeit als Handlung und Erkenntnis leitendes Modell für
Gesellschaft dienen kann.“ (141)
Hat Kunst diese Wirkung hervorgebracht, dann hat sie etwas Wesentliches geleistet.
Verbundenheit ist das Gegenteil von Destruktion oder wie manche Wortführer einer
postdramatischen Spielweise es beschönigend nennen: De(kon)struktion. Und immer wieder
stellt sich die Frage, ob die Trennung der Bereiche Kunst und Beziehung und möglicherweise
darin enthaltene gegenläufige Tendenzen nicht nur eine rein analytische ist und lediglich
verschiedene Bestandteile einer Sache sind, nämlich von Kultur, Kulturarbeit und kulturellen
Bildung. Leben ist ja nicht davon zu trennen, wie man es macht, und insofern ist jedes Tun
auch gleichzeitig Ausdruck einer bestimmten Form von Kultur. Das Eine ist nicht ohne das
Andere zu denken als Teile eines Ganzen.
Die schönsten Moment in menschlichem Leben sind die, in denen wir Verbundenheit
miteinander spüren. Von dieser Verbundenheit berichten zahlreiche Schüler noch während sie
in der Schule sind und auch lange nach der Schulzeit, wenn sie über die gemeinsame
Theaterarbeit berichten, ähnlich wie über eine Klassenfahrt. Das gemeinsame Unternehmen,
der enge Kontakt und Austausch bei solchen Projekten erzeugen bei den Schülern
offensichtlich eine Erfahrungsqualität von Gemeinsamkeit, die der schulischen Lernwelt, der
De(kon)struktion von Welt in Unterrichts-Fächer und dem dysfunktionalen Bulimielernen
gegenüber steht.
Vaßen grenzt sich wohltuend durch ein vorangestelltes „sogenannte“ von der unsinnigen
Bezeichnung von Laien als „Experten“ und der damit einhergehenden inhaltlichen und
begrifflichen Verwirrung ab, die eher Erfahrung und Erkenntnis verhindert als ermöglicht.
Dem reinen Fakt, der damit gemeint ist, nämlich Menschen, die bisher im theatralen Prozess
eher auf der passiven Seite als Zuschauer platziert waren, nun eine aktivere Rolle als
Mitspieler und Mitgestalter zuzuweisen, ist natürlich zuzustimmen. Es ist die Normalität des
qualifizierten Theaterunterrichts.
Bei der Postdramatik – so Vaßen – müsse der Zuschauer den ästhetischen Prozess zu Ende
führen und sei somit konstitutiv für das Theaterereignis und die Kunstproduktion (144). Er
trage damit eine wesentliche Verantwortung für das Gelingen eines ästhetischen Erlebnisses.
Vaßen verweist zurecht darauf, dass die Schule der Ort ist, wo in den unterschiedlichsten
Formen am meisten Theater gespielt wird, von der Theater-AG bis hin zum regulären
Theaterunterricht. Wichtig sei hier zu verhindern, dass das „Theater-Spielen allein zur
Verbesserung von sog. Schlüsselqualifikationen verwendet wird.“ (147) und kapitalistischem
Verwertungsdenken unterworfen werde.
„Aber auch die Kehrseite darf nicht übersehen werden: Der Theaterpädagoge als enttäuschter,
vielleicht sogar gescheiterter ‚Theater-Künstler’, der endlich sich und seine Kunstvorstellung
verwirklichen will und für den die Kinder und Jugendlichen nur interessantes Material sind
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für seine eigene Kunstproduktion. Auch diese Haltung ist Missbrauch, auch hier heißt des
‚Stop!’, um sowohl den Eigensinn und die eigene Kreativität der Kinder und Jugendlichen als
auch das soziale Feld der Theaterpädagogik zu verteidigen.“ (147)
Zu diskutieren wäre der Kunstbegriff, auf den Vaßen Bezug nimmt im Kontext schulischer
Theaterarbeit, und der Kern der pädagogischen Professionalität sein soll und gespeist wird aus
dem Dogma „der Erfahrung der Vergeblichkeit des Verstehens“ und vom „wissende[n] NichtWissen“ (151)
Im Schlusssatz zeigt Vaßen, was im Zentrum eines „neuen Verständnisses von
Theaterpädagogik“ steht, nämlich „gemeinsames Üben und Lernen in einem offenen Prozess,
lediglich unterstützt durch einen Theaterlehrer als Initiator, Moderator, Begleiter, Helfer,
Supervisor (vgl. die für ein Lehrbuch durchaus neue Konzeption von Pfeiffer/ List 2009) und
insgesamt als ‚Beobachter’. Diese Ersetzung der Lehr-Haltung setzt Eigensinn und
Eigenständigkeit bei den Theater-Spielern frei und ermöglicht selbstbestimmte Lernprozesse
bis hin zur Erfahrungsarbeit, d.h. Selbstbildung im Kontext von Fremdheit – gemeinsames
Theater-Lernen statt Theater-Lehre.“ (151)
Vaßen ist scheinbar der einzige Autor des Sammelbandes, der bei dem Thema Kinder- und
Jugendtheater auch dorthin geschaut und wahrgenommen hat, wo die meisten Kinder und
Jugendlichen Theater spielen und wie sie das aktuell tun, im Theaterunterricht bzw. dem
Unterrichtsfach Darstellendes Spiel. –
En passent.
Eine Frage bleibt leider im gesamten Sammelband unbeantwortet, und zwar, was genau
jene Schlüsselqualifikationen sind, die angeblich das kapitalistische Verwertungsdenken (von
Schule) fordert, und die nicht mit Theaterunterricht trainiert werden sollen. Ist es
selbstbewusstes Auftreten, Ich-Stärke, Erkennen und Entwickeln der eigenen Potenziale in
gemeinschaftlicher Arbeit, im Team, deutlich sprechen können, ein Projekt steuern können,
Prozesse planen und umsetzen können, Verantwortung übernehmen, eigenständiges Handeln,
kooperieren können, Selbstverantwortung, sein Interesse friedlich durchsetzen und
argumentieren können, ein Projekt zum Ende führen können, präzises und konstruktives
Feedback geben können, erfolgreiche Teams zusammenstellen können, Arbeitsaufträge
definieren, delegieren und kontrollieren können, eine Fehlerkultur entwickeln und
praktizieren können, Ambiguitätstoleranz entwickeln, unter Zeitdruck konzentriert arbeiten
können, Zeitpläne einhalten können, Hilfsbereitschaft entwickeln und und und.
In dem pauschalen Vorwurf, dass sich Schule nicht zum Knecht neoliberaler Ideologien
machen darf, bleibt die Beschreibung von kulturellen Arbeit unvollständig. Denn wo werden
die Schüler später ihren Lebensunterhalt verdienen? Nicht in revolutionären Zelle, die den
Untergang des Kapitalismus demnächst vollenden und dann ... , sondern zumeist in
Unternehmen und Organisationen, wo sie Geld zum Leben nur für bestimmte Tätigkeiten und
bestimmtes Verhalten und Handeln bekommen. Die geforderten Schlüsselqualifikation sind
überwiegend menschliche Grundkompetenzen (siehe oben!). Und wenn die Schüler einen
entsprechenden Unterricht hatten, der sie darauf vorbereitet hat, ihre Interessen selbstbewusst
und argumentativ überzeugend vorzutragen, dann sind sie gut aufgestellt. Ob sie die Schüler
später dafür entscheiden, in die Rüstungsindustrie zu gehen oder in der Stiftung Lesen zu
arbeiten, das ist eine Wertentscheidung, die sie eigenverantwortlich treffen müssen und
unsere Hoffnung als Theaterlehrkräfte, -pädagogen und Künstler bleibt, dass wir ihnen in
unseren gemeinsamen Projekten viele Handlungsgelegenheiten (Lernräume) geschaffen
haben, positive Grundwerte zu trainieren und zu integrieren und danach später handeln und
ihre Umwelt verändern und gestalten.
Sinnvoller und qualifizierter Theaterunterricht enthält als Wesensmerkmal, quasi automatisch,
das Training von lebenswichtigen Kompetenzen. Und das Gleiche fordere ich vom
professionellen Kinder- und Jugendtheater.
Keine Kunst ohne Kompetenz. Keine Kompetenz ohne Kunst.
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Primavesi, Patrick: Versuchsanordnungen. Vier Inszenierungen aus dem Genter Labor
(Josse De Pauw, Tim Etchells, Gob Squad, Philippe, Quesne). S.157-183
Primavesi „zeigt, wie vielfältig das Spektrum von zeitgenössischen, experimentellen
Theaterformen sein kann, in denen Kinder und Jugendliche vor Erwachsenen auftreten und
deren eigene Projektionen, Ängste und Hoffnungen bearbeiten.“ (183)
Eine Frage drängt sich in den Raum: Warum benutzt man Kinder dazu, Erwachsenen im
Theater mitzuteilen, dass sie Erziehungsberechtigte sind und auch manchmal ihre Macht
missbrauchen?
Primavesi berichtet von einigen professionellen Produktionen zeitgenössischer Künstler „mit
einer besonderen künstlerischen Handschrift“ (157) mit Kindern ab sieben Jahren. Die
wenigen Kinder, die diese Künstler in ihren Produktionen gebrauchten, um ihre Ideen von
Theater mit Kindern umzusetzen, wurden aus einem großen Pool in Castings geprüft, beurteilt
und selektiert, denn die von den Künstlern ausgedachten Versuchsanordnungen und
Experimente mussten „tourfähig“ sein.
Das Paradigma der Tour könnte lauten: „Im Experiment wird ja auch die pädagogische
Kontrolle aufs Spiel gesetzt. Ein Spiel aber, das seine Instrumentalisierung zu pädagogischen
Zwecken unterläuft“ (168).
Die Kinder wurden benutzt, um die Inszenierungsidee der Künstler zu realisieren, nämlich
den Erwachsenen einen Spiegel vorzuhalten und die moralischen Phrasen der
Erziehungsberechtigten zu dekonstruieren, (169) damit sich die Erwachsenen selbst fremd
werden. „So geht es für die Zuschauer in einem solchen Theater mit Kindern weniger um eine
Lehre als um eine Erfahrung, die etwa so zu formulieren wäre: Wichtiger als das Lehren ist
das Lernen, für alle Beteiligten, mit offenem Ausgang.“ (169f)
Mit den Kindern und Jugendlichen wird überwiegend chorisch gearbeitet, „und die erste
Schwierigkeit bestand darin, Kinder zu finden, mit denen eine solche Arbeit zu machen wäre
(...) die Kinder (hatten) natürlich ihre eigenen Vorstellungen von Theater, zumeist eher
traditionell, mit Kostümen, Rollenspiel, Versetzung in andere Figuren und andere Welten. Bei
den auditions (Castings, V.L.) mit über 90 Teilnehmern wurden vor allem Kinder gesucht, die
in der Lage wären, einfach auf der Bühne zu stehen, auch ohne dass die Szene vorher genau
definiert worden wäre.“ (162f)
Davon träumt der normale Theaterlehrer/ -pädagoge, sich die Schüler auszusuchen, die schon
alles können. Aber bitte nur Sahne! Mit den anderen Inkompetenten, den Nicht-Experten,
möchte ich mich nicht rumärgern müssen. Sind diese Künstler Experten der Arroganz und
von „Missbrauch“ (Vaßen)?
Nach der Erarbeitung des Textmaterials durch den Regisseur, der die Texte in
Erwachsenensprache formulierte, mussten die Kinder dieses auswendig lernen. Die Kinder
mussten natürlich auch an „Disziplin“ gewöhnt werden, denn ohne Disziplin ist es nicht
möglich, Texte korrekt auch nur einigermaßen verständlich aufsagen zu können. Die Kinder
mussten vier Monate lang jeweils an drei Nachmittagen in der Woche proben, bis sie die
Texte einigermaßen konnten.
Das naturgemäß durch Überforderung entstehende Fehlerhafte und Unzulängliche erheben die
Künstler zum Programm: „Theater lebt aber auch davon, mit den eigenen Fehlern und dem
Nicht-Perfekten zu arbeiten.“ (172)
Das sieht man an den aufwändigen Castings und Selektionen nach den Richtigen, den schon
Qualifizierten, die schon das Können, was die Künstler von ihnen wollen, nach dem Material,
das sie für die Realisierung ihrer eigenen Vorstellungen haben wollen, sei dazu angemerkt.
Künstler fordern in Produktionen mit Kindern immer wieder die freie Entfaltung der
Kreativität der Kinder als Experten ihrer Kindheit und ihres kindlichen Alltag. Sie fordern:
„Hört auf, die Kinder zu unterrichten, sie zu beeinflussen, zu manipulieren!“
Eine Frage sei hier am Ende noch gestellt – es wären noch viele zu stellen – nämlich
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folgende: Warum werden in diesen Produktionen, in denen Kinder nach der Pfeife
(Anweisungen) der Erwachsenen (Regisseure) tanzen, so emotionsgewaltige Songs
eingespielt wie Strauss’ Also sprach Zarathustra, Griegs Peer Gynt, Queens-Hits, usw.?
Genau das wirft man vielfach und zurecht Theaterlehrern vor, dass sie auf die große Wirkung
dieser Playback-Musik bauen, um das unprofessionelle Spiel ihrer Kinder zu vertuschen, die
ja eigentlich sogenannte Experten sind. Darf man das verlogen nennen?
Man darf jetzt über Motive mutmaßen und spekulieren, ob und warum man sich als Künstler
den Ge- und Missbrauch der Kinder als Material für eigene Zwecke sehr gerne zugesteht,
generell Unterrichtenden aber das Unterrichten verbieten will, die primär das Wohl und die
Entwicklung der Kinder im Auge haben, als die eigene künstlerische Karriere. Hier wäre
Gesprächsbedarf und der Ruf des "Stop teaching!" als Nothalt angebracht.
Wo ist der konstruktive Beitrag zu einer solidarischen Kultur der gegenseitigen Unterstützung
(auch des Andersartigen), in der insbesondere jungen Menschen eher das Gemeinsame und
Verbindende entdecken können als das (Ab-)Trennende und De(kon)struierende, das
Sinnstiftenden als das Ver- und Entfremdende, das Integrierende als Ausschließende, das zu
Verstehende als das Unverstandene, das Fordernde als das Über-Fordernde, das Störende als
das Ver-Störende, das Irritierende als das Irre? Hier läuft einiges verquer und der
Sprachmissbrauch verstärkt es: Laien und Amateure sind keine Experten! Wer seinen Alltag
(irgendwie) bewältigt, ist deswegen noch nach lange kein Experte des Alltags. Das ist
allerfeinste Marketing-Sprach-Verhundsung; abgeguckt von den Experten des NeoLiberalismus. Wer Kaugummi kaut, ist kein Experte im Kaugummikauen. Wie wollte man
jetzt Experten nennen? Mega- oder Super-Experten? – Hier verrutscht mangelnde
künstlerische Kompetenz in den Wiedergutmachungsversuch, es sprachlich zu richten.
Möglicherweise abgeguckt von so manchem, der sich "Postdramatiker" nennt, und in
verquastem unverständlichen Kauderwelsch seine "Kunst"-Produkte glaubt erklären zu
müssen, weil sich ein Verständnis nach Rezeption nicht einstellt, ach, es war ja auch keines
beabsichtigt (vgl. "Ein Gespenst geht um ..."). Das nenne ich bravouröses Scheitern. Aber das
ist ja auch gewollt. Scheitern an Überforderung (vgl. NO EDUCATION).
Meyer-Keller, Eva/ Müller, Sybille: Zerstörungsphantasien mit Sahne. Gedanken über
die Zukunft. S.185-193 und Westphal, Kristin: Theater/ Kunst mit Kindern. Am
Beispiel einer Performance mit Kindern von Eva Meyer-Keller und Sybille Müller.
S.195-202
Meyer-Keller und Müller berichten über ihre „Performance“ mit Kindern.
Es ist schön, wenn die experimentellen Spielbedürfnisse der Kinder, insbesondere der
Stadtkinder aufgegriffen werden, die nicht mehr in freier Natur experimentieren können (am
Bach Staudamme bauen und schauen, was alles überflutet wird; eine Wiese anzünden und
schauen, ob auch der Unterstand für Tiere erfasst wird; einen Turm bauen, im Wald mit
Stöcken und alten Seilen oder in der Wohnung mit Holzbauklötzen und dann untere
Verstrebungen wegschlagend oder mit Gummis und Krampen wegschießend
genau beobachten, wie das Gebäude einstürzt; eine „Brücke“ aus alten Holzlatten über einen
(zugefrorenen) Bach bauen und schauen, ob man drüber laufen kann usw.).
Aber muss man das gleich als Kunst und Performance bezeichnen? Müssen/ dürfen sich da
Erwachsene ins kindliche spielerische Ausprobieren und Experimentieren auf diese Weise
(mit Kameraleuten und Sounddesignern!) einmischen und noch dazu die Kinder für ihre
eigenen Zwecke instrumentalisieren mit der Maßgabe, die Kinder sollen etwas über den
Klimawandel lernen und dafür sensibilisiert werden? (185)
Das sollten wir doch besser den gut ausgebildeten Pädagogen überlassen, den Experten in
Biologie, Physik, Chemie und Gesellschaftskunde, die mit den Kindern entsprechende
Projekte machen und vor allem das Erlebte und Erfahrene aufarbeiten, um daraus
Schlussfolgerungen für konsequentes politisches Handeln zu ziehen.
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Da könnten auch Künstler mitmachen und den Kindern zeigen, welche Möglichkeiten das
Theater bereithält, ihre Erfahrungen zu verarbeiten und einem Publikum zu präsentieren.
Dann könnten sie auch Erfahrungen über die Wirksamkeit von Theater machen, wenn sie das
Publikum mit ihrem Bedürfnis, ihrer Vision und ihrem Anspruch auf eine intakte Welt, die
ihnen die Erwachsenen im Moment verweigern. Es gibt solche praktisch orientierten
fachübergreifenden Projekte .
Wie gesagt, Kunst an sich gibt es nicht. Kunst hat immer einen Zweck, ist Ausdruck
kulturellen Lebens und der Suche nach Optionen, Visionen und einem besseren, erfüllten
Leben. Sonst ist sie bedeutungslos und überflüssig oder wird für andere Zwecke missbraucht,
zur eitlen Selbstdarstellung zum Beispiel. Selbst Lyrik erfüllt einen Zweck, in dem sie ein
Lusterlebnis an Sprachgestaltung erzeugt oder in besonderer Weise emotional berührt oder ...
Ach ja, und wieder mal werden die Kinder zu Experten überhöht, diesmal sind sie Experten
im Erforschen von Alltagsmaterialien und im Beobachten von Vorgängen. Aber eigentlich
improvisieren sie nur. Ohne Experten für Improvisation zu sein. (198) Kindliches Spiel eben.
Hammer, Martin/ Ludewig, Maria Magdalena: Perspektive Hamburg. Eine städtische
Intervention. Ein Gespräch. S.203-219
Sehr deutlich beschrieben werden im Gespräch zwischen Hammer und Ludewig die
Widersprüche, wenn Theaterkunst mit Kindern unter marktwirtschaftlich-neoliberalem
Verwertungsdenken stattfindet.
Sie hatten in ihrem Projekt mit Kindern ein klares Ziel vor Augen, das sie konsequent
verfolgten. Zu diesem Zwecke casteten sie eine große Menge Schüler und selektierten genau
die Kinder heraus, die sie für ihre Zwecke verwerten wollten. Sie zahlten den 7-11-Jährigen
ein Honorar und behandelten sie wie professionelle Schauspieler und abhängig Beschäftigte
wie im marktwirtschaftlichen System. Sie feuerten auch Kinder aus dem Projekt, die ihnen
nicht passten. Weil „Sie es einfach nicht packten. (212) Sie interessierte es nicht, Kinder, "die
es ein bisschen schwieriger haben", zu helfen. (210)
Das nach dem Muster klassisch kapitalistischer Verwertung durchgeführte Projekt hatte als
höchstes Ziel, eine Unsicherheit zu erzeugen: „Und das, glaube ich, führt zu einer
Unsicherheit und war meiner Meinung nach die Qualität dieses Abends. Man geht raus und
weiß gar nicht so genau, wo man anfangen soll, ...“ (213)
Diese Art Kunst zu machen schätzen die Autoren so ein „dass du vielleicht sehr viel
wertvollere Pädagogik machst, wenn du versuchst, wirklich ernsthaft Kunst zu
machen.“ (215) Einen das Projekt störendes Kind haben sie in folgender Weise behandelt:
„Wir haben aber irgendwann gesagt, wir geben Ihnen auf, weil er im Grunde genommen das
Produkt am Ende, das Kunstprodukt, stört.“ (215) –
Das nenne ich eine Bankrotterklärung in jeder Hinsicht, künstlerisch und vor allem
pädagogisch und am stärksten menschlich.
Es ist unklar, ob den beiden Autoren der Begriff Schwarze Pädagogik bekannt ist, in der
Erwachsene in autoritärer Weise ihre Ziele gegenüber Kindern durchsetzen und diese für Ihre
Zwecke missbrauchen, sie aber verklärend als die wirklichen Bedürfnisse der Kinder
ausgeben. Scheinbar müssen wir die Diskussion um sogenannte echte und falsche Bedürfnisse
und sogenanntes echtes und falsches Bewusstsein, die in den sechziger Jahren geführt wurde,
erneut führen.
Stang, Katalin: „Auswendig lernen kann doch jeder.“ Fatzer für Kinder. S. 221-234
Stang schreibt über das Theaterprojekt „Fatzer für Kinder“ des Berliner Künstlerkollektivs
andcompany&Co, das sie mit zwölf Kindern zwischen sieben und zwölf Jahren durchführte.
Ihr erscheinen drei Momente bei einer „pädagogisch reflektierenden Betrachtung“ (224) dabei
bedeutsam.
1 Einen sperrigen Brecht-Text mit Kindern zu bearbeiten.
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2 Dies frei erkundend, improvisierend und nicht belehrend zu tun.
3 In Opposition zur Hochkultur eine kindgemäße Ästhetik anzustreben.
Ziel war es, dem Publikum eine Performance zu bieten, „bei der zwar der ‚ästhetische
Fingerabdruck’ von andcompany&Co unverkennbar war, die aber die Kinder als selbstständig
agierende Performer ins (Bühnen-)Licht brachte.“ (229)
Das Ergebnis – so Stang – erbrachte „eine Aufwertung der auf Nonsens, Naivität und
ziellosem Spiel beruhende Ästhetik, wie sie auch der karnevalistischen Darstellung
zugeschrieben wird.“ (230) Originelle Einfälle, unkonventionelle Assoziationen, Sprachspiel
und Spaß am Sprechen, das auf der Basis von Improvisationen aus den zusammengetragenen
Texten „Textsalat“ und „Kauderwelsch“ machte, das sich der „logisch-rationalen
Entschlüsselung“ verweigert. „Vielmehr wurde hier eine Rezeptionshaltung verlangt, die sich
auf das Wahrnehmen und (Mit-)Erleben, das Vergnügen und (Be-)Staunen, das Lachen und
den Spaß konzentriert.“ (230)
Eine Ebene, auf der sich Kinder und Erwachsene offensichtlich in „Partnerschaft“ begegnen
und beide Generationen voneinander lernen können.
Ein Konzept das scheinbar nicht den künstlerischen Verwertungsgedanken priorisiert, wie es
Hammer und Ludewig in Ihrer Arbeit auf Kosten von Kindern tun.
Becker, Anna K.: Ungewöhnliche Symptome der Jugend. Samir Akika/ Unusual
Symptoms auf Augenhöhe. S. 235-242
Ein Nachvollzug von Aufführungen aus schriftlichen Beschreibungen ist immer schwierig.
Wir wissen, Kunst und Kunsterlebnisse sind nicht immer zu versprachlichen.
Manche Passage der Beschreibung des Arbeitsprozesses und der anschließenden Aufführung
des Künstlerkollektivs YOUNG & FURIOUS von Becker lesen sich wie das theatrale
Lernkonzept der Kursbücher.
Jugendliche kommen unter der Leitung eines theaterpädagogischen Experten, einer
Theaterlehrkraft zusammen. Sie dürfen ihre Themen einbringen und sie bekommen keine
Ästhetik übergestülpt. Sie dürfen eigenständig und selbstständig an den Themen arbeiten und
werden dabei begleitet, betreut und unterstützt von der Theaterlehrkraft. Es kommt zum
Austausch über die unterschiedlichen Formen von Ästhetik und Möglichkeiten der
Darstellung. Natürlich reproduzieren die Kinder und Jugendlichen – bedingt durch ihre
bisherige medial-theatrale Sozialisation; sie haben ja keine andere – ihre Klischees und
Vorurteile. Sie wollen Seifenopern-, Talkshow-, Pseudo-Realitiy-TV-Formate als Rollenspiel
nachspielen und Rappen und Hip-Hop tanzen. Soviel nochmal zum sogenannten Expertentum
von Kindern als Experten des Alltags ... und Experten von unreflektierten Klischees.
Und natürlich zeigt die Theaterlehrkraft den Kinder, welche ästhetischen und theatralen Mittel,
Techniken, Methoden und Gestaltungskategorien es gibt, macht sie mit dem theatralen
Handwerkszeige vertraut und lässt sie damit phasenweise – mit ständigen Reflexionsrunden –
weitgehend selbstständig und mit ihren Inhalten und Anliegen experimentieren und
ausprobieren, und erfahren gleichzeitig dabei, wie man Regie führen kann und was eine
Dramaturgie ist.
Am Ende soll ja eine Aufführung entstehen, die auf ein Publikum Eindruck macht und es
berührt und auf die man stolz sein kann.
Und es ist die Aufgabe der Theaterlehrkraft darüber zu wachen, dass die Aufführung kein
Reproduktions-Mischmasch oder eine dramaturgielose Ansammlung unvermittelter ReadyMades als Pseudo-Collage wird, die nur langweilt analog des sattsam bekannten sogenannten
Ausstellens der theatralen Mittel und der endlosen Wiederholungen bereits tausendmal
gesehener Pseudo-Biografien von sogenannten Experten des Alltags, die nichts anderes sind
sprachlich überhöhte normale Menschen und eben gerade keine Experten, die von Künstlern
benutzt werden, weil sie selbst ideenlos sind und unfähig sind mit ihren Kindern eine
spannende Dramaturgie zu entwickeln, die das Publikum fesselt.
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Aber schön zu sehen, dass es in der freien Szene scheinbar Künstlerkollektive gibt, die auch
nach einem Konzept arbeiten, in dem eine gemeinschaftlicher Arbeitsprozess angestrebt wird,
in dem der Unterschied zwischen dem Theater-Experten und den Amateuren nicht verwischt
und sprachlich auf den Kopf gestellt wird, sondern es um Zusammenarbeit geht, in der jeder
der Seine einbringt und von jedem lernen kann und alle dadurch gewinnen.
Mehnert, Carmen: Hell on Earth. Ein paar Notizen über die Arbeit mit Constanza
Macras/ Dorky Park. S. 243-249
Stellenweise liest sich die Beschreibung der Arbeitsprozesse wie die
Unterrichtsbeschreibungen und Impulse für Theaterunterricht im Kursbuch Theater machen.
Und in solchen Projekten scheint es dann auch immer wieder um das zu gehen, was Theater
mit Kindern und Jugendlichen eigentlich ausmacht und was Theater so attraktiv für die
meisten Menschen macht, das Rollenspielen (244) und das Erzählen (244, 245; Becker: 241),
natürlich von Geschichten (247; Strunz: 251, 252; Ostertag: 265) und Narration (Stang: 227).
„In beiden Stücken mit Kindern und Jugendlichen, Scratch Neukölln und Hell on Earth, zeigt
sich die Fähigkeit einer Constanza Macras, gefundene Geschichten, Milieuskizzen und
biografische Schnipsel auf spieleriche Art und Weise zudammen zu bringen. Ihre Stilmittel
sind ein Mix aus Popkultur, Theorie-Einsprengsel, choreografierten Szenen und Momenten
echten Gefühls. Dieser Mix entspricht den Akteuren auf der Bühne, deren Selbstverständnis
sich aus den unterschiedlichsten Kulturen ganz selbstverständlich zusammensetzt.“ (249)
Strunz, Sandra: Mit Kindern arbeiten. S. 251-256
Bei manchen Beschreibungen von Projekten empfindet der Leser den zunehmenden Wunsch,
diese Arbeitsprozesse mit eigenen Augen sehen zu können und die abschließenden
Aufführungen erleben zu dürfen, da die Autoren auf kürzestem Raum in der Lage sind
prägnant zu beschreiben, dass hier wertvolle Kulturarbeit, kulturelle Bildung im wahrsten
Sinne des Wortes, geleistet wird.
In wohltuender Weise werden hier Ur-Bedürfnisse des Menschen, insbesondere von Kindern,
aufgegriffen. Rollenspiel wird nicht verdammt und verbannt, sondern als existenziell zur
Menschwerdung dazugehörend integriert in künstlerische Prozesse.
Eine deutliche Abgrenzung zu Projekten wird hier spürbar, in denen erwachsene Künstler wie
schlechte Lehrer mit ihren Kunstvorstellungen Kindern begegnen und diese letztlich
durchsetzen.
Ostertag, Sara: In (Re-)Aktion – Vermitteln. Eine Untersuchung kritischer Praxen der
Kunstvermittlung. S. 257-268
In Ostertags Beitrag geht es um die Stadt als Kulturraum, als dynamischen Raum, in den
Geschichten eingeschrieben sind, die es gilt im Kinder- und Jugendtheater zu erzählen. Das
dabei gewonnene Wissen soll allen zugänglich gemacht werden, „um Stadtraum als
Bildungsraum zu gewinnen.“ (265)
In ihrem Projekt „Der Hundsturm“ lassen Ostertag und ihre Kinder (makemake produktionen)
„unterschiedliche Methoden und Ansätze ineinanderfließen und kreieren daraus neue
Strategien und Modelle, die (ihnen) in Anbetracht aktueller sozialer, gesellschaftlicher und
politische Entwicklungen sinnvoll erscheinen.“ (263) Ein explizit politischer Anspruch auf
Veränderung. Ihr „Wunsch wäre die Förderung eines ‚Denkens ohne Schranken’ und – davon
ausgehend – die Entwicklung von Praxis, die dem Imagienären und Utopischen in der Kunst
keine Grenzen setzt.“ (263)
“Relevant dabei ist, dass alle Akteure am Lernen beteilig sind. Es werden Methoden und
Strategien entwickelt, das Herausgefundene und Gelernte für sie selbst nützlich zu machen,
(...)“ (262)
Das Ziel ist „emanzipierte Subjekte zu bilden, die in der Lage sind, die eigene Position
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innerhalb der gesellschaftlichen Machtverhältnisse zu erkennen, zu befragen und, im besten
Falle, durch eigenes Handeln zu transformieren.“ (262)
Damit „zielen diese kritisch-künstlerischen Vermittlungsstrategien im Sinne einer Kunst des
Handelns auf Emanzipation des Subjekts und Hilfe zur Selbsthilfe ab.“ (262)
Das trifft relativ genau das, was in den verschiedenen Curricula und der Didaktik zum
Unterrichtsfach Darstellendes Spiel ausformuliert und von manch qualifiziertem Theaterlehrer
in das Korsett des Bildungssystem Schule geschickt implantiert ist.
Aus unzähligen Rückmeldungen von Schülern und Ehemaligen wird offensichtlich, dass sie
den Theaterunterricht auch als explizit politische Bildung erlebten und diese Sozialisation sie
antreibt, gesellschaftlich Prozesse kritisch zu verfolgen und entsprechend politisch aktiv zu
sein.
Lange, Gudrun/ Borgarz, Carina/ Eitzenroth, Anna: Jugendliche als
Kollaborationspartner. S. 269-274
„Jeder Produktionsprozess lebt vom Verständnis, dem Austausch und der Meinung der
involvierten Personen.“ (269) Das erreicht Lange, indem sie mit den Jugendlichen in den
Proben eine Struktur erarbeitet, die allen Stimmen Raum gibt.
Fast durchgängig berichten die Autoren über Projekte, in denen eine feste Phase von
selbstständiger Kleingruppen-Arbeit der Kinder und Jugendlichen ohne Bevormundung des
Leiters etabliert waren. Mit dem erarbeiteten Material wird – mal mehr, mal weniger –
weitergearbeitet.
Einige Projektleiter nehmen dieses Material als Grundlage, zimmern nach eigenen
künstlerischen Ideen eine Dramaturgie daraus und geben ihr Material an die Kinder zurück.
Diese greifen es auf und setzen es um.
Andere Autoren und Projektleiter im Kinder- und Jugendtheater belassenen es bei den
authentischen Choreografien und Textproduktion der Kinder und versuchen zusammen mit
den Kindern einen künstlerischen Rahmen, eine ästhetische Fassung für ihre
Eigenproduktionen zu finden. Ganz so wie seit vielen Jahren qualifizierte Theaterlehrkräfte
arbeiten.
Eitzenroth, Anna/ Platon, Anke/ Tiedemann, Kathrin: Zwischen Live-Art und
Lebensraum. S. 275-283
Platon verweist auf die große Bedeutung der Improvisation im Prozess künstlerischen
Gestaltung mit Kindern und Jugendlichen als wesentliche Methode um „Fragmente der
Realität zu fiktionalisieren.“ (280) und fragt, ob man für Bildungsprozesse und demokratische
Formen des Lernens tatsächlich Lehrer benötigt? – Antworten haben Projekte wie die
Schülerschule in Italien (Scuola di Barbiana) bereits vor 50 Jahren gegeben.
Marsch, Karola: Die Winterakademie am Theater an der Parkaue Berlin als
Feldversuch mit Kindern und Jugendlichen. S. 287-295
Erfrischend wenig selbstherrlich und handfest und scheinbar ehrlich in der Sache präsentiert
Marsch das Konzept der Winterakademie.
Da arbeiten Künstler zum ersten Mal mit Kindern, haben also keine Erfahrung/ Ahnung und
sind demnach auch keine Experten in Bezug auf Arbeit mit Kindern. Die Frage ist zu
beantworten: „Wie könnte sich ereignen, dass Kinder und Jugendliche nicht zum
künstlerischen Werkzeug und Material von erwachsenen Theatermachern werden, sondern
unbedingt und selbstbewusst in den gesamten künstlerischen Prozess einbezogen sind, ihn
gestalten von der Konzeption bis hin zu abschließenden Präsentation?“ (288)
Die Antwort ist eindeutig: Es geht um die „’Alphabetisierung in den Künsten und ihren
Mitteln.’“ und es „bedeutet nichts anderes, als jungen Menschen ein Handwerkszeug in die
Hände zu geben, das sie befähigt eigene künstlerische Experimente zu beginnen“. (288)
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Dem Künstler als Kunstexperte hat die Aufgabe zu verhindern, das sich die Arbeit der Kinder,
die keine Experten sind, in Beliebigkeit verliert. Er ist im Prozess der „Spezialist für die
künstlerische Übersetzung“. (293) „Denn was die Teilnehmer (meist) nicht haben, sind
künstlerische Erfahrungen bzw. konkrete künstlerische Mittel im Sinne eines
Handwerks.“ (293)
Ein klares Bekenntnis zu dem, was Experten sind und welche Rolle sie mit Amateuren spielen
und wie ein Kinder- und Jugendtheater heutzutage aussehen sollte.
Die Nähe zur aktuellen Didaktik des Darstellenden Spiels als Theaterunterricht ist mehr als
offensichtlich.
Klepacki, Tanja: Das Schultheater der Länder (SDL). Historische Entwicklung und
strukturelle Aspekte. S. 297-303
Klepacki skizziert in wenigen Strichen die Entwicklung des Schultheatertreffens
„Schultheater der Länder“ und formliert als Ziel die differenzierte Weiterentwicklung des
Faches Theater in Theorie und Praxis sowie dessen Verankerung in allen allgemeinbildenden
Schulen der Bundesrepublik.“ (297) Ganz sicher eine Erfolgsgeschichte, die Brücken
geschlagen hat zwischen den professionellen Künsten und Schule und zeitbedingte
Veränderungen aufgreifen sollte, wie die neuen Setzungen im Theaterunterricht, die keine
Großproduktionen und Festivalbeiträge im alten Maßstab ermöglichen. Gefragt sich Beispiele
konstruktiven Theaterunterrichts und wie sich das Fach weiterentwickeln kann und sollte.
Scherer, Birgit: Partnerschaft zwischen Jugendlichen und Künstlern. unart –
Jugendwettbewerb der BHF-BANK-Stiftung. S.305-311
Bei unart geht es angeblich nicht um künstlerisches Handwerk, denn das „zugrunde liegende
Verständnis von Bildung ist eines von ‚sich-selbst-bilden’. Ein Schöpfen aus der eigenen
Lebenswelt“ (306), und nicht um Aneignung spezifischer Kenntnisse, aber: „Die Gruppen
werden im Prozess von künstlerischen Coaches begleitet“. Dies Experten und Spezialisten
„unterstützen mit Ideen und Feedback (...) und zeigen den Jugendlichen Techniken und
Strategien, die ihre Ideen weiterbringen“ (306).
Selbstbildung nur aus sich heraus oder doch jetzt mit einem qualifizierten Lehrer/
Lernbegleiter?
Auch hier wieder das hinlänglich bekannte Paradoxon. Es lässt sich auflösen!
Preuß, Kristine/ Schönhuth, Friderike: Kultur verändert Schulkultur.
„DasKulturTagJahr“ der ALTANA-Kulturstiftung. S. 313-319
Mit langem Atmen „Schulkulturen verändern“ ist das Programm der ALTANA-Kulturstiftung
und das Schulgelände häufiger verlassen (317), die gewohnte Zeitstruktur (den 45-MinutenRaumtakt der Welt-Destruktion durch die Fächer) aufbrechen und partizipieren an der Vielfalt
der zeitgenössischen Kunst.
Das sind die richtigen Schlussfolgerungen aus einer umfassenden Bilanz.
Aber bitte auch noch den kleinen Rest Kuschelpädagogik über Bord werfen, künstlerische
Arbeit sei nicht bewertbar. Das ist weltfremd. Allerorten wird Kunst bewertet. Entscheidend
sind die Kriterien. Darüber kann man fachsimpeln.
--------------------------Fazit:
Die Bandbreite der Informationen des Sammelbandes ist sehr groß.
Der Leser erfährt eine ganze Menge über die Vielfalt des gegenwärtigen Kinder- und
Jugendtheaters außerhalb der Schule. Er erhält Einblicke in die Entstehungsgeschichte des
Phänomens Kindheit und welche Bedeutung diese für Bildung und Kunst der jeweils
Herrschenden hatte und hat.
Der Spannungsbogen der 22 Beiträge plus Vorwort reicht von einer Autorin (Inge Schubert),
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die sich dem Thema und der Aufgabenstellung komplett verweigert (Warum wurde der
Beitrag aufgenommen?, fragt man sich und die beiden Herausgeber) über ausführliche
Berichte aktueller Produktionen bis hin zu Brücken schlagenden Ansätzen zwischen den
Bereichen, die sich professionell mit Kinder- und Jugendtheater befassen (Vaßen), wie freies
Theater und Theaterunterricht in Schulen.
Es werden Forderungen für das Kinder- und Jugendtheater gegenübergestellt, z.B. wird als
Ziel der Theaterarbeit mit Kindern für Erwachsene formuliert, die Kinder für geopolitischgesellschaftliche Veränderungen (Klimawandel) zu sensibilisieren (186) und andererseits der
Missbrauch der Theaterarbeit mit Kindern in der Schule für gesellschaftliche Zwecke durch
Didaktisierung und pädagogische Instrumentalisierung beklagt. (18)
Beispielhafte Beschreibungen aktueller Produktionen des Erwachsenen-Theaters mit Kindern
als Akteuren zeigen, wie sich diese – in Kalkül und Räderwerk – markwirtschaftlichem
Denken unterwerfen und bestimmte, gehypte Künstler ihre Macht missbrauchen, indem sie
schon Siebenjährige großen Castings unterwerfen – deren Sehnsucht nach Anerkennung und
Berühmtwerden a la Nexttopmodel befeuern – um brauchbares Material für die Realisierung
ihrer unaufgearbeiteten pubertären Widerstandsfantasien gegen Erwachsene zu selektieren
und als sogenannte postdramatische Kunst an Erwachsene zu verkaufen. Das ist die Strategie,
mit der Wirtschaftsunternehmen am Markt erfolgreich sind. Geschickt kopiert.
Der Leser, insbesondere die angesprochene unterrichtende Theaterlehrkraft erfährt relativ
wenig, warum sie mit dem „Teachen“ aufhören soll, außer den hinlänglich bekannten
Vorwürfen der Instrumentalisierung der Kunst durch die Pädagogik. Und natürlich trifft die
Kritik, dass die Lehrkraft sich nicht als Regisseur aufspielen soll. Sie soll
Entscheidungskompetenz abgeben und ihre regieführende Kontrolle in Frage stellen (17) – sie
ist ja keine Theaterexpertin. Sie soll bitte ihrer pädagogischen Verpflichtung nachkommen
soll, die natürlich nicht lautet, ihre Schutzbefohlenen für den Markt zuzurichten, sondern
ihnen beim Groß- und Selbstständigwerden helfen, auch wenn die Beschäftigung mit
theatraler Kunst zu mehr Selbstbewusstsein und Ich-Stärke führt.
Als Reader, um sich zu informieren, was die freie Kinder- und Jugendtheater-Szene umtreibt,
ist das Buch zu empfehlen. Als ergänzende Lektüre ist das Jahrbuch für Kinder- und
Jugendtheater 2015 zu empfehlen.
Auffallend bei der Sammlung der unterschiedlichen Projektbeschreibungen von Kinder- und
Jugendtheater ist, dass immer wieder der Theaterraum verlassen wird und man in der
gesellschaftlichen Umgebung Räume sucht; der Wald, die Wiese, der Kieshügel wird zum
Spielort. Tannenzapfen werden unterschiedlichste Bedeutungen zugeschrieben.
Offensichtlich darf hier kindliches Spiel auch wieder kindliches Spiel sein und bleiben, wenn
entsprechende sensible Künstler oder Theaterpädagogen ernst machen mit den Anspruch,
Kinder als ernsthafte Partner zu begreifen und nicht sie unverständlich als irgendwie geartete
vermeintliche Experten von irgendetwas zu glorifizieren und zu stilisieren.
Immer wieder liest man in diesen Projektbeschreibungen wohltuenderweise, dass Geschichten
wieder eine Rolle spielen, und zwar die Geschichten der Kinder, und dann geht es um das,
was den Kindern wichtig ist, Gut und Böse, Angst und Mut, Macht und Ohnmacht und nicht
um Zersplitterung (Destruktion) der Welt, die sie zumeist erleben und mit Unverständnis,
Widerwillen, Aggression oder Flucht reagieren. Postdramatische Spielweisen helfen ohne
Vorkenntnisse zunächst nicht, ihnen die Welt zu erschließen, sondern verstärkt die Tendenz
zur Zersplitterung und Atomisierung (vgl. Barz: 2015)
Zur Qualifikationen von Künstlern und Pädagogen als Experten ihrer Fachgebiete
Würde ich meine Schüler als Experten anreden, als Experten ihres Alltages, also dessen worin
sie eben gerade nicht Spezialisten auf einem besonderen Fachgebiet sind, dann würden sie
mich einen „Schleimer“ nennen, der sich den Schüler anbiedert. Das ist so ziemlich das
Schlimmste, was ein Lehrer machen kann, weil er damit offenbart, dass er keine eigene
Zielsetzung hat und nicht die Fach-Autorität eines Experten, diese auch selbstbewusst zu
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vertreten und transparent und verständlich für alle zu beschreiben, dass daraus eine
Motivation für eine gemeinsame Arbeit erwachsen kann.
Maldoom hat die Erfahrung gemacht, dass „Pädagogen oder Lehrer (...) eher Angst vor der
Kunst“ haben (Höhn: 93) und formuliert als Paradigma seiner Arbeitsweise „man kann von
der Kunst zur Theorie gehen, aber absolut niemals von der Theorie zur Kunst!“ (Höhn: 93)
Das sei einigen Studenten und Absolventen des Fachbereichs Angewandte Theaterforschung
in ihr Gießener Stammbuch geschrieben. Und eine weitere entscheidende Selbstoffenbarung
lesen wir von Maldooms Motivation für seine Arbeit bezogen auf „Rhythm is it“: „Es war
interessant für mich, endlich anerkannt und bemerkt zu werden. Und es war natürlich sehr
interessant und wichtig für die Anerkennung einer Arbeit!“ (Höhn: 93) Über so viel
Ehrlichkeit sollten die Beteiligten Berufsgruppen mal sinnieren, was ihre jeweilige
tatsächliche Triebkraft für ihr Engagement ist und warum sie etwas tun und wie sie es tun.
Neben wäre noch kritisch zu fragen, ob sich Hesses bereits im Jahre 2005 formulierte kühne
Vision von einer engen Kooperation von Schule, Theater, Universität im Jahre 2005 in den
letzten 10 Jahren erfüllt hat. Eher (noch) nicht. Auch seine Reklamation eines dringenden
Bedarf eines grundständigen Studium für Theaterlehrer – damit sie umfassend im Fachgebiet
Theater ausgebildet werden können und nicht länger eher Experten im Bereich Lernen bzw.
Pädagogik sind – hat auch (noch) nicht an Universitäten und bei Geldgebern ausreichend
Gehör gefunden (vgl. Planung die eines Studiengangs an der JLU in Gießen), und die damals
schon über Jahrzehnte heiß umkämpften Positionen zwischen „sozialem Lernen“ und
„künstlerischer Tätigkeit“, früher „Kunstwert“ und „Kindertümlichkeit“ (Hesse: 46, 545)
werden immer noch geführt, wobei wir doch längst wissen, nicht erst seit es Sting es
nochmals auf den Punkt gebracht hat, dass in der „produktionsorientierten
Theaterpädagogik (...) das Pädagogische (...) vom Ästhetischen nicht mehr zu trennen
(ist)“ (Sting 2015).
Der Sammelband „Stop teaching!“ ist kein Pamphlet gegen Theaterlehrer und -pädagogen.
Er breitet vielmehr ein Spektrum von Kinder- und Jugendtheater aus, in dem die Extreme
deutlich hervortreten und die bedeutsamen Abweichungen in den Fokus kommen.
Die Bezeichnungen, die wir letztlich benutzen, um die Menschen zu benennen, die im Kinderund Jugendtheater arbeiten, sind unbedeutend. Ob Künstler, Regisseur oder Choreograph oder
Theaterpädagoge oder -lehrer. Alle haben sie das gleiche Ziel. Sie wollen mit Kindern und
Jugendlichen künstlerisch arbeiten, ihnen insbesondere die Welt der theatralen Kunst eröffnen
und Räume mit ihnen erschließen, in denen sie ihre Dinge verhandeln können, Neuland
betreten, neue Sichtweisen kennen lernen und vor allem Gelegenheit geben, selbst viel
auszuprobieren und zu gestalten.
Die Motive der jeweiligen Projektleitungen weichen indessen mehr oder weniger stark
voneinander ab. Einige setzen das, was sie für Kunst halten, über das Wohl des Kindes, zur
Befriedigung ihrer eigenen als künstlerisch verkleideten Bedürfnisse.
Anderen liegt die Reifung der Kinder durch gelebte demokratische Kultur mehr am Herzen
und sie führen sie behutsam coachend an die künstlerischen Mittel, Techniken und Methoden
heran und nehmen die Kinder mit ihren Bedürfnissen ernst als Lernende, denen sie als
Experten etwas Spannendes anzubieten haben und sie bei der Arbeit hilfreich unterstützen
und begleiten.
Diese Form der Arbeit dient letztlich dem persönlichen Wachstum der Kinder, der Reifung zu
emanzipierten Menschen, die die Dinge, die sie betreffen, mitgestalten können und damit zu
einer konstruktiven friedlichen Kultur des Miteinander beitragen.
Es gibt keinen Dissens zwischen Theaterkunst und Pädagogik, wie es auch keinen Dissens
zwischen Musikkunst und Pädagogik und Bildender Kunst und Pädagogik und Mathematik
und Pädagogik und allen anderen Fachgebieten und Pädagogik gibt.
Es gibt aber eine spezifische Art und Weise junge Menschen in die Welt und auch in
Fachgebiete einzuführen und ihnen Lernumgebungen zu bieten, in denen sie sich möglichst
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entwickeln und entfalten und neue Kompetenzen trainieren und erwerben können. Dass unser
Schulsystem diese Bedingungen nicht immer oder grundsätzlich nicht bietet, darüber kann
man trefflich streiten.
Der Ausweg
1. Eine Didaktik des Theaters
Die Kunst von Theaterunterricht – und damit ist wirkliches Expertentum gemeint, das sich
durch fachliche Kompetenz definieren lässt – besteht darin, als Lehrer einen Rahmen zu
setzen mit Regeln und Ritualen, einen inspirierenden lustbetonten Impuls zum Start eines
gemeinsamen Theater-Projektes zu geben, das zu einer erfolgreichen Aufführung vor
Publikum führt und mit einer kritischen Nachbesprechung des Arbeitsprozesses und einer
transparenten Bewertung endet.
Im Arbeitsprozess bringen die Kinder und Jugendlichen ihre Wünsche und Interessen ein und
der Theaterlehrer zeigt ihnen, wie sie diesen in einer künstlerischen Form Ausdruck verleihen
können. Dabei trainieren die Ensemblemitglieder theatrale Grundkompetenzen, eben weil sie
(noch) keine Experten sind.
2. Voneinander lernen
Experten des Theaters (Theaterexperten) sollten offen sein gegenüber der Gestaltung und
Begleitung von Lernprozessen, und Experten von Lernprozessen (Pädagogik-Experten)
sollten sich mehr Kompetenz in Bezug auf künstlerische Prozesse aneignen. Alle Beteiligten
könnten in gegenseitiger Unterstützung so viel dabei lernen, und alles zum Nutzen der Kinder
und Jugendlichen.
Zum Glück gibt es ja bereits Künstler und Pädagogen, die sich in diese Richtung aufgemacht
haben.
Und 1000 Dank an die Tausende Theater-Lehrer und -Pädagogen und Künstler, die es
schaffen, trotz der Widrigkeiten des Schulsystems in ihrem Theaterunterricht ihren Kindern
und Jugendlichen eine Vision von Lernen und kultureller Bildung mit auf den Lebensweg zu
geben, die sich abhebt von dem weit verbreiteten, atomisierten, destruktiven Bulimielernen
für Prüfungen.
Literatur
• Barz, André (2015): Theaterregisseure im Deutschunterricht – zum Beispiel Nicolas
Stemann. In: Olsen, Ralph/ Paule, Gabriela (2015): Vielfalt im Theater.
Deutschdidaktische Annäherungen. Baltmannsweiler: Schneider Hohengehren: 36-48
• Gromes, Hartwin/ Sting Wolfgang (2005)(Hg): Theater studieren. Konzepte der
Praxisvermittlung in universitären Studiengängen. Hildesheim: Olms
• Höhn, Jessica (2006): „Simple! Work from simplicity! Bring in yourself and you can do it“.
Über die MULIPLIK-Fortbildung des Bundesverbandes Theaterpädagogik e.V. (BuT)
mit Royston Maldoom. In: Korrespondenzen. Zeitschrift für Theaterpädagogik April
2006. Uckerland: Schibri: 92-94
• Hesse, Ulrich (2005): Vom Schulbühnenspiel zum Schulfach. Die Geschichte der
Integration darstellenden Spiels in die Schule am Beispiel Hamburgs. Uckerland:
Schibri
• Schneider, Wolfgang (2012): Theater für Kinder und Jugendliche. Beiträge zu Theorie und
Praxis. Hildesheim: Olms
• Sting, Wolfgang (2005): Theaterpädagogik. In: Fischer-Lichte, E./ Kolesch, D./ Warstat, M.
(Hg) (2005): Metzler Lexikon Theatertheorie. Stuttgart/ Weimar: 2005 Metzler
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