Beitrag von Tanja Unger und Annika van Riesen

Tanja Unger, Annika van Riesen
Guten Tag, werte Zuhörerinnen und Zuhörer.
Das Thema, zu dem ich hier heute vortrage, heißt „Festung Europa“.
Allein der Begriff Festung hat schon etwas Abweisendes, Uneinnehmbares in sich.
Mit einer Festung schützt man sich seit Jahrhunderten vor feindlichen Übergriffen.
Aber was will die Festung Europa - worum geht es hier?
Ich möchte Ihnen heute einige Denkanstöße mit auf den Weg geben, die Sie, werte
Zuhörerinnen und Zuhörer, etwas näher an dieses Thema heranführen und die
Mauern in den Köpfen einreißen sollen.
Ich bitte Sie vorab zunächst, dass Sie alle hier an Ihre eigene Familie denken.
Besonders an Ihre Eltern oder Großeltern und deren Nachnamen. Und? Fällt Ihnen
etwas auf?
Genau, sehr viele Familien haben ihre Wurzeln in osteuropäischen Regionen und
ihre Namen klingen auch so. Viele von Ihnen sind Kinder von Flüchtlingen oder
selbst welche. 1939 betrug die Einwohnerzahl von Schleswig-Holstein etwa 1,5
Millionen. Zehn Jahre später, 1949, lag sie bei mehr als 2,7 Millionen Menschen.
Ihre Eltern oder Großeltern waren ein Teil dieser Generation und sie waren auf der
Flucht. Auf der Flucht vor dem Krieg oder vor Vertreibung und auf der Suche nach
einer neuen Heimat. Sie wurden in Schleswig-Holstein aufgenommen und gründeten
sehr bald Familien, gingen zur Arbeit und hatten eine neue Heimat gefunden.
Dennoch waren und blieben sie lange Zeit Flüchtlinge.
Heutzutage ist so ein Flüchtlingsstrom kaum noch vorstellbar. Viele würden gegen
die Aufnahme von so vielen Flüchtlingen in Deutschland protestieren. Aber was hat
sich in der Zwischenzeit verändert? Sind wir Menschen anders geworden? Eigentlich
ist die Generation, welche dieses Drama miterlebt hat, noch da, und sie könnten sich
doch in die Lage derer versetzen, die jetzt auf der Suche nach Schutz sind. Oder
nicht? Ich glaube, in den Köpfen der Menschen hat sich einiges geändert.
Denken Sie einmal über die Flüchtlinge nach, die hier nach Deutschland einreisen
wollen. Was besitzen diese schon? Sie haben ihr letztes Geld für die Überfahrt nach
Europa verbraucht und suchen hier einfach nur Schutz zum Beispiel vor Kriegen im
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Heimatland (aktuell etwa im Irak und Syrien). Diese Menschen haben doch nichts
Böses mit uns vor. Aber, und bitte entschuldigen Sie meinen Ausdruck, der
„eingebildete, egoistische Europäer“ denkt nur an sich selbst, anstatt die Tore seiner
Festung Europa zu öffnen und anderen Menschen, mit einer anderen Hautfarbe,
Sprache, Religion oder Lebensart aufzunehmen. Das, liebe Gäste, ist eine Schande!
Was viele Menschen hier wollen, ist, dass sich jeder Einwanderer an die Gesellschaft
anpasst, kein Geld kostet, sondern womöglich noch welches bezahlt; Eine
angemessene Integration ist kaum zu finden. In immer mehr Ländern startet nun eine
Kampagne für Flüchtlinge, mit der Geld und Lebensnotwendiges gesammelt werden,
um es den ankommenden Menschen leichter zu machen. Meiner Meinung nach ist
das ein guter Schritt in die richtige Richtung!
Die Festung Europa existiert in den Köpfen der Menschen, die um ihren persönlichen
Wohlstand fürchten und davor, von eben diesem etwas abgeben zu müssen.
Wir müssen uns vor Augen führen, dass die Flüchtlinge nicht für immer hier wohnen
und leben wollen. Sie entfliehen einer Notlage (Bürgerkrieg, politische/religiöse
Verfolgung...) in ihrem Heimatland und suchen bei uns in Europa Schutz, bis sich die
Situation geändert hat und sie wieder zurückkehren können. Dieser Schutz sollte
nicht nur von rechtlicher Sicht aus gehen, sondern auch aus menschlicher. Denn in
dem europäischen Land, welches ein Flüchtling zuerst betritt, muss er nach dem
Dublin-II-Abkommen Asyl beantragen. Und ein kurzer Blick auf die Europakarte
macht es deutlich, wo die meisten Anlaufpunkte sind: Italien und Spanien. Diese
Länder grenzen aus europäischer Sicht an das Mittelmeer und liegen besonders
nahe an Afrika. Es ist nachvollziehbar, dass der Flüchtlingsstrom auf diese Länder
gelenkt wird.
Die Flüchtlinge kommen aus Syrien, Eritrea, Somalia und vielen weiteren Staaten.
Eben diese, die den gefährlichen Weg über das Mittelmeer wagen, müssen
geschützt werden. Die Operation aus Italien z.B., „Mare Nostrum“ (auf Deutsch:
unser Meer), sammelte per Schiff oft gekenterte Boote der so genannten Schlepper
ein und rettete die Insassen auf das Festland. Sie handelten menschlich und fair,
weil sie den Menschen helfen wollten. Auf der anderen Seite des Mittelmeeres,
nämlich bei den Schleppern aus Afrika, wird diese Art der Hilfestellung natürlich gern
gesehen, denn sie denken: Na, wenn die Europäer meinen Booten helfen, kann ich
ja gleich mehr auf den Weg schicken. Auch werden die Boote immer brüchiger und
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somit geraten sie schneller in Seenot. Dadurch stieg die Anzahl der Flüchtlinge
nochmals an und die Arbeit der Rettungshelfer wurde mehr denn je gefordert. Aus
diesem Grund und, weil Italien allein für die Kosten aufkam, wurde zum Ende des
Jahres 2014 die Rettungsorganisation „Mare Nostrum“ abgeschafft.
Stattdessen gibt es eine von 20 EU-Staaten geförderte, neue Operation: „Triton“. Es
arbeiten 21 Schiffe, vier Flugzeuge, ein Hubschrauber und 65 Offiziere an dieser
Mission. Diese soll Italien bei der Grenzüberwachung helfen. „Mare Nostrum“ hat
Menschen in Seenot gerettet, „Triton“ soll nur die Grenzen schützen und die
Flüchtlinge registrieren. Auch das Einsatzgebiet ist kleiner: „Mare Nostrum“ fuhr
hunderte Seemeilen weit hinaus aufs Mittelmeer, während „Triton“ nur ein Gebiet von
30 Seemeilen vor der Küste Italiens überwacht. Dadurch wird die unsichtbare Mauer
um die Festung Europa verstärkt. Ist das der richtige Ansatz?
Es wird nun also weniger Fläche des Meeres überwacht, doch die Flüchtlinge und
Todesopfer werden nicht weniger. Schon als es noch „Mare Nostrum“ gab, starben
2014 mehr als 3000 Menschen bei dem Versuch, über das Mittelmeer nach Europa
zu fliehen.
Auch die Schlepper verdienen nicht schlecht an der Art der Menschenbeförderung.
Denn oft kosten solche Fahrten über 5000 Euro. 5000 Euro pro Person. Für jeden
Einzelnen, der den Weg über das Mittelmeer unter den beschriebenen Umständen
versucht. Und damit wird deutlich, dass die Fliehenden wirklich alles aufs Spiel
setzen, um in ein sicheres Land zu kommen. Sogar ihr Leben.
An dieser Stelle möchte ich noch einmal erläutern, dass nicht alle ankommenden
Flüchtlinge arm waren, da eine Überfahrt viel Geld kostet. Woher nehmen die
Menschen sich dieses Geld? Einige kratzen sich natürlich bei Verwandten sowie bei
sich selbst alles zusammen und verkaufen ihren Besitz. Andere aber haben das Geld
und sind bereit, es in ihre Zukunft in Europa zu investieren. Diese Menschen
gehörten in ihrer Heimat zum Mittelstand. Sie sind oft qualifizierte Arbeitskräfte, die
uns sogar bei einer Verminderung des demografischen Wandels, dem Älterwerden
unserer Gesellschaft, helfen könnten.
Wer kommt denn noch alles mit dem Schiff an? Wenn man ein wenig die Nachrichten
verfolgt, sieht man oft sehr junge Männer oder Frauen mit ihren Kindern. Das ist auch
begründet, denn die Alten schicken ihre Jungen nach Europa, damit sie dort ein
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besseres Leben anfangen können und womöglich Arbeit finden, die in ihrem
Heimatland nicht möglich ist. Das ist mein eben genanntes Prinzip des Mittelstands.
Sie gelten bei uns als Arbeitsmigranten und werden in Europa nach der Genfer
Flüchtlingskonvention nicht als Flüchtling anerkannt. Auch Menschen, die aus Armut,
Hunger, Kriminalität oder vor Naturkatastrophen wie Dürre nach Europa ziehen,
werden hier nicht aufgenommen. Es sind einfach Migranten, Asylsuchende, deren
Asylantrag vermutlich abgelehnt wird.
Doch denken wir einmal menschlich: Viele von den Personen, die es geschafft
haben, den langen, lebensgefährlichen Weg nach Deutschland aufzunehmen,
werden nicht aufgenommen und wieder zurückgeschickt? Wie kann es sich die EU
als Friedensnobelpreisträger erlauben, politisch Verfolgten Asyl zu gewähren und
ihnen das Leben zu retten, aber hungernden Menschen nicht?! In so vielen
Zeitungen habe ich Bilder von Kindern gesehen, die mit aufgeblähten Mägen vor
leeren Eimern sitzen. Ihre Mägen sind nicht mit Essen gefüllt, sondern mit Luft.
Beißen Sie ruhig weiter in Ihr Sandwich, liebe Gäste, aber denken Sie einmal
darüber nach, wovon wir im Überfluss haben und was denjenigen fehlt.
Vor einigen Wochen habe ich von einer iranischen Familie in Deutschland gelesen.
Sie haben es bis hierhin geschafft. Eine Mutter, ein Vater und zwei Kinder leben in
einem Zimmer in der Flüchtlingsunterkunft in Hamburg. Der älteste Sohn ist vier
Jahre alt. Die Eltern sind beide Ärzte, doch sie dürfen und können ihre Tätigkeit
aufgrund von Sprachproblemen und dem laufenden Asylantrag nicht ausüben. Auch
würden sie gerne eine eigene Wohnung besitzen. Aufgrund von Vorurteilen werden
sie als Mieter und Mitbürger nicht akzeptiert: Flüchtlingen unterstellen viele, dass sie
Terroristen seien, dass sie sich in das deutsche Sozialsystem schleichen,… Sie
werden daher aufgrund ihres Namens und ihrer Herkunft diskriminiert. Viele
Deutsche haben Angst vor der Fremdheit (Glaube, Sprache etc.), vor Gewalt oder
vor Wertminderung (z.B. ihrer Immobilien). Diese Ängste sind Klischees, die unter
anderem bevorzugt von den Medien und von Rechtspopulisten geschürt werden
(man schaue nur auf die aktuelle Pegida-Bewegung). In Deutschland werden im
Durchschnitt zweimal pro Woche Flüchtlingsunterkünfte von Rechtsextremen
angegriffen. Und das in einem beliebten Einwandererland!
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Ein Flüchtling bekommt monatlich 362 Euro. Das sind 29 Euro weniger als das
Arbeitslosengeld II, das eigentlich im deutschen Sozialstaat das Existenzminimum
darstellt.
Der Flüchtlingsbeauftragte von Lütjenburg hat von einem Selbstversuch berichtet.
Sein Kollege hatte sich so sehr in seinen Ausgaben eingeschränkt, um mit dem
Budget eines Flüchtlings auszukommen. Aber er musste den Versuch abbrechen,
weil es ihm nicht möglich war.
Überlegen Sie mal, auf was man alles verzichten muss: Selbst das Brötchen vom
Bäcker kann man sich nicht mehr leisten. Statt dessen musste er im Supermarkt die
Reste nehmen.
Das Leben der Flüchtlinge in Europa ist nicht so, wie diese sich das vorgestellt
haben, als sie den langen Weg angetreten haben.
In Burbach, Nordrhein-Westfalen, wurden Flüchtlinge demütigend behandelt. Sie
wurden geschlagen, getreten, lebten im Dreck. Dies ist kein Einzelfall. Auch in einer
anderen Flüchtlingsunterkunft gab es beispielsweise nur eine funktionierende Toilette
für 60 Menschen. Warum passiert so etwas? Darauf antwortete das Bundesamt für
Migration und Flüchtlinge, dass alle zu spät reagiert hätten. Die ansteigenden Zahlen
der Flüchtlingsströme wurden nicht beachtet und somit war niemand richtig
vorbereitet. Man muss viele Flüchtlinge nun wieder in den problematischen
Massenunterkünften unterbringen, die günstiger sind als Wohnungen. In ihnen
werden viele Nationalitäten untergebracht, was zu Auseinandersetzungen führt.
Keiner der Asylsuchenden darf arbeiten gehen - nicht einmal ein Praktikum ohne
Bezahlung ist drin. Und stellen Sie sich mal vor, Sie sitzen den ganzen Tag lang nur
auf dem Sofa, das noch nicht einmal groß genug ist, damit die ganze Familie darauf
sitzen kann. Sie langweilen sich doch zu Tode! Daher entstehen auch Konflikte, die
dann von Wächtern z.T. mit Gewalt gelöst werden.
Zum Glück gibt es ehrenamtliche Helfer, die mit den Kindern zum Fußballspielen
gehen und sie im Verein anmelden. Sie versorgen die Kinder auch mit Spielzeug, da
das monatliche Geld der Eltern dafür nicht ausreicht. Oder sie kümmern sich um die
Eltern und finden zusammen deren Stärken, um vielleicht ein Hobby ausfindig zu
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machen. Auch bieten inzwischen viele Ehrenamtliche Sprachkurse an. Danke an
dieser Stelle für alle ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer!
Denn was diese Menschen leisten, ist bemerkenswert. Und dafür bekommen sie
keinen Cent für Ihre Tätigkeit. Alles freiwillig.
Zum Abschluss möchte ich den Blick noch einmal auf den historischen Vergleich in
Schleswig-Holstein wenden. 2013 gab es in Schleswig-Holstein ca. 4000 Flüchtlinge
auf 2,8 Millionen Einwohner, 4000! Das sind 0,15 % der Einwohner. 0,15 % im
Vergleich zu ca. 80 % nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Auf jeden von 700
Einwohnern gibt es einen, dem geholfen werden muss. Einen! Das entspricht etwa
einem Flüchtling auf die gesamte Schülerschaft am Gymnasium Lütjenburg. Einen!
Das ist nichts im Vergleich dazu, dass bis 1949 quasi jeder noch einen Flüchtling
aufnehmen musste, und trotzdem tun wir uns damit so schwer.
Daher fordere ich Sie auf, mehr Toleranz gegenüber Flüchtlingen zu zeigen und
diesen ein angenehmes Leben in Europa zu ermöglichen!
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Tanja Unger, Annika van Riesen
Anhang
05. Dezember 2014, 21:15, NDR, „die Reportage““
Buch: „Schleswig-Holstein - eine Landesgeschichte“, historischer Atlas von Christian
Degn, Wachholtz Verlag, Seite 296
DER SPIEGEL - Artikel: „Feldbetten im Fitnessraum“ (35/2014), „Der Hilfesuchende“
(39/2014), „Die Erbsünde“ (39/2014), „Schande mit System“ (41/2014), „Der Preis
der Hoffnung“ (48/2014), „Woher kommt die Angst vor Einwanderern, Herr Kopp?“
(50/2014), „Neue deutsche Welle“ (51/2014)
25. Dezember 2014:
http://www.harmbengen.de/toonpool/2013%2010%2007%20fluechtlingsstroeme_2095895.jpg
http://www.paolo-calleri.de/paolo-calleri/karikaturen2013/attraktion_farbig_calleri.jpg
http://de.toonpool.com/user/463/files/europa_mit_friedensnobelpreis_1872725.jpg
http://de.wikipedia.org/wiki/Europ%C3%A4ische_Agentur_f%C3%BCr_die_operative
_Zusammenarbeit_an_den_Au%C3%9Fengrenzen
http://www.focus.de/panorama/welt/2014-bereits-3200-ertrunkene-kritik-an-eumission-triton-ersetzt-nicht-verpflichtungen_id_4241290.html
http://www.tagesschau.de/ausland/eu-triton-101.html
27. Dezember 2014
http://www.education21.ch/de/node/753
http://hdg.de/lemo/objekte/pict/WegeInDieGegenwart_karikaturFestungEuropa/index.
jpg
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http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/JoachimGauck/Reden/2014/12/141225-Weihnachtsansprache-2014.html
http://de.wikipedia.org/wiki/Verordnung_%28EU%29_Nr._604/2013_%28Dublin_III%
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http://www.zeit.de/gesellschaft/2014-09/mittelmeer-fluechtlinge-tote-europa
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