3. Rhodos - Epilepsie - gedankenträger [man weiß ja nie]

3. Rhodos – Epilepsie
"Reisen sollte nur ein Mensch, der sich ständig überraschen lassen will." (Oskar Maria
Graf.)
In den folgenden Weihnachtsferien wollten wir wieder für eine Woche nach Griechenland
reisen. Wir fanden ein schönes Ferienhaus in Lindos auf Rhodos. Als wir dem Besitzer
zum Buchen eine E-Mail schickten, schrieb er zurück: "Ich möchte nur sichergehen, dass
Sie das wissen: Lindos ist im Winter ganz anders als im Sommer!"
Das war sehr nett von ihm, tatsächlich war es aber genau der Grund, weshalb wir
lieber im Januar kommen wollten. Wir hatten gehört, dass es auf Rhodos im Winter sehr
wenige Besucher gab.
Wir verließen Berlin am kalten und feuchten Neujahrsmorgen und flogen nach
Athen, wo wir zwischenübernachten mussten, bevor wir am nächsten Morgen einen
kleinen Zubringerflug nach Rhodos nehmen konnten. Der Flug nach Athen dauerte etwa
vier Stunden und John war viel unruhiger und ungeduldiger als zehn Monate zuvor auf
dem Weg nach Thessaloniki. Mit den Füßen trat er den Sitz vor sich, was dem Mann, der
darin saß, verständlicherweise gar nicht gefiel. Wir mussten John fast vier Stunden lang die
Beine halten, ihn abzulenken versuchen, und zudem war er auch noch ziemlich laut.
Wir fragten uns, ob wir jemals wieder mit ihm in die USA fliegen könnten. John
war erst vier Jahre alt und schon jetzt wurde das Fliegen mit ihm immer schwieriger. Scotts
Familie – Johns Großeltern, eine Tante, zwei Onkel und eine stetig wachsende Zahl von
Cousinen und Cousins – lebten in Vororten rund um Chicago. So war es eine traurige
Aussicht, dass wir einen Flug nach Chicago wahrscheinlich nicht mehr würden
unternehmen können.
In Athen hatten wir ein Hotel in der Nähe des Flughafens gebucht. Wir dachten,
dass mit der Ankunft dort der schwierigste Teil der Reise überstanden war, doch am
nächsten Morgen hatten wir am Inlandsterminal Kommunikationsprobleme. Das
Sicherheitspersonal sprach ausschließlich Griechisch. An der Kontrolle wollten wir es so
wie immer machen: Ich würde zuerst durch den Scanner gehen, Scott würde mit John
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warten, und nachdem ich fertig war, würde er mir John durchschicken. Ein Angestellter
drängte Scott und John aber, mir direkt zu folgen. Scott versuchte, ihm unseren Plan zu
erklären, scheiterte aber an der Sprachbarriere. Der Mann schüttelte nur den Kopf und
zeigte ungeduldig vorwärts. Scott versuchte es noch einmal: "Unser Sohn ist Autist,
behindert. Er kann nicht sprechen und versteht vieles nicht. Er wird wegrennen!"
Der Angestellte war nun richtig verärgert. Er sprach aufgeregt auf Griechisch und
gestikulierte wild mit den Armen. Das wiederum machte John nervös, der anfing zu
schreien und sich in die Hand zu beißen.
Auf der anderen Seite des Scanners wurde ich währenddessen abgetastet und
dachte, dass ich gerade fertig war. Ich drehte mich also zu den Dreien um und hoffte, dass
wir John nun schnell durchschicken und beruhigen konnten. Doch die Angestellte tippte
mir auf die Schulter und bedeutete, dass sie noch nicht fertig war, sie zeigte nach unten, sie
wollte noch meine Schuhe scannen. Genau in dem Moment, als ich mich ihr zuwandte,
schickte Scott John durch den Scanner und ich sah es nicht, weil ich ihnen den Rücken
zugewendet hatte. Ich hörte Scott nur rufen: "Monika, er kommt!"
Im selben Moment schon merkte ich, wie John an mir vorbeirannte und ich lief
sofort hinterher. John bog nach links in einen Flur ab. Ich hörte die Angestellten hinter mir
laut rufen, aber ich rannte weiter. Wenn John erst einmal außer Sicht wäre, wie würden wir
ihn dann wiederfinden? Ich musste ihn erreichen, rief laut seinen Namen und: "Stopp!"
John hörte mich und hielt tatsächlich an. Als ich ihn erreichte, standen auch schon
zwei wütende Angestellte hinter mir. Wir gingen zusammen zurück zur
Sicherheitskontrolle, wo in der Zwischenzeit mehrere weitere Männer aufgetaucht waren,
von denen einer nun zum Glück auch Englisch sprach. Wir erklärten genau, was passiert
war und wurden nach einer Weile endlich durchgelassen. Der Sicherheitsangestellte, durch
dessen forsche Ungeduld die Situation überhaupt erst entstanden war, sah sehr erleichtert
aus, dass wir nun endlich gingen und er damit nichts mehr zu tun hatte.
Scott und ich stritten uns am Gate noch kurz:
"Warum hast Du ihn denn so schnell durchgeschickt?"
"Warum hast Du ihn denn einfach vorbeilaufen lassen?"
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Aber wir wussten beide, dass es niemandes Schuld war. Lost in translation: Die
Angestellten hatten unsere Bedürfnisse einfach überhaupt nicht verstanden. Und weil wir
beide durch den Sicherheitsscanner voneinander getrennt waren, hatten wir keine Chance
gehabt, uns gut abzustimmen, als der eine Angestellte plötzlich so einen Druck ausübte.
Wir saßen dann einfach nur noch still da, erschöpft.
Im Flugzeug angekommen merkten wir, dass außer uns nur noch drei andere
Personen mitflogen. Es war das erste Mal, dass John in einem Propellerflugzeug saß. Der
Flug war, ganz im Gegensatz zum Vortag, leicht und problemlos, sogar richtig schön, und
der Stress legte sich. Wir flogen in niedriger Höhe über die Ägäis, John sah die ganze Zeit
über gebannt aus dem Fenster und freute sich über das Meer. Als wir uns Rhodos
näherten, sah er begeistert auf die weißen Häuser, den blauen Himmel, das türkise Wasser,
die gelben Strände. Wirklich, was für Farben.
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Als wir unseren Mietwagen abholten, erwartete uns die nächste Überraschung: Die
Autovermietung akzeptierte nur europäische Führerscheine. Da Scott noch seinen
internationalen Ausweis benutzte, würde nur ich fahren können.
Lindos lag etwa 50 km vom Flughafen entfernt. Wir fuhren durch eine raue und
hügelige Landschaft und kamen auf einem öffentlichen Parkplatz an, der oberhalb von
Lindos lag. Wir wussten, dass wir hier parken mussten, da der alte Ortskern wegen seiner
engen Gassen eine autofreie Zone war. Lindos hatte nur etwa 1.500 Einwohner. Wir hatten
mitten im Ort ein Haus im griechischen Stil des 18. Jahrhunderts gemietet. Da wir mit dem
Besitzer eine Zeit ausgemacht hatten, wusste er um unsere Ankunft und wartete mit ein
paar anderen Ortsansässigen und Eseln auf dem Parkplatz, um unser Gepäck zum Haus zu
transportieren. Der zahlreiche Empfang deutete unmissverständlich darauf hin, dass hier
im Januar wohl noch nicht einmal Nebensaison war.
Auf dem Weg hinunter nach Lindos waren wir beeindruckt von den weißen
Häusern am Fuß der großen Akropolis. Die Festungsruine ragte hoch auf einem Felsen mit
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Blick über das Meer. Man sah gleich, dass sie im Verlauf der Geschichte für Griechen,
Römer, Johanniter und Osmanen ein idealer Ort zur Verteidigung gewesen war.
Von unserem Ferienhaus sah man von außen nur ein großes Tor. Dahinter aber lag
ein sehr schöner, mit Mosaikfliesen dekorierter Innenhof, um den herum die Zimmer
verteilt waren. Wollte man vom Schlafzimmer ins Wohnzimmer gehen, musste man durch
den Hof gehen. Das Zentrum des Hauses lag so tatsächlich im Freien. Die Zimmer waren
schlicht eingerichtet und die betagte Küche mit ganz altem Geschirr ausgestattet. Es war
wie eine Zeitreise, das Haus hätte vor fünfzig oder sechzig Jahren genauso aussehen
können.
Als Erstes machten wir einen Spaziergang durch das Dorf. John interessierte sich
besonders für die engen, verwinkelten Gassen. Die meisten Geschäfte, Tavernen und Bars
waren geschlossen. Die Fensterläden der Souvenirläden waren fest verriegelt und machten
den Eindruck, als ob sie länger nicht geöffnet worden waren. Überall streunten Katzen
herum, es mussten Dutzende sein, man schien sie auf jeder Treppe und auf jedem Dach zu
sehen. Wie schon auf Thassos, fand John sofort mehrere Brunnen und Quellen.
Irgendwann entdeckten wir dann auch einen kleinen geöffneten Lebensmittelladen und
konnten einkaufen.
Am ersten Morgen in Lindos stiegen wir den steilen Fußweg hinauf zur Akropolis.
Anfangs war John begeistert, aber nach etwa der Hälfte des Weges streikte er und Scott
setzte sich John auf die Schulter. Am Eingang befand sich eine mit Zypressen gesäumte
Terrasse. Die Burgruine bot einen herrlichen Ausblick auf die Bucht unter uns. Steile
Stufen führten weiter hinauf zu einem Säulengang und einem teilweise rekonstruierten
Athenetempel aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. John kletterte herum und wir besahen uns
die Ruinen.
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Abends gingen wir zuerst auf einen Spielplatz und dann zum Strand. Auf dem Weg kamen
wir an einer geöffneten Bar voll von Männern vorbei. Dann kam eine Frau um die Ecke
und holte ihren Mann heraus, wie es aussah. Später sahen wir eine ähnliche Szene erneut,
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ebenso am folgenden Abend. In unserem Lebensmittelladen fragten wir, was es damit auf
sich habe. Die Verkäuferin erzählte, dass man auf den 6. Januar wartete: in der griechischorthodoxen Kirche der Tag der Epiphanie, an dem die Taufe Christi gefeiert wurde. In den
Tagen davor sollten die Männer eigentlich nicht in die Bar gehen, deshalb holten die
Frauen sie hinaus. Am Tag der Epiphanie würde es eine Prozession hinunter zur Bucht
geben, zur sogenannten Segnung des Wassers.
Auf Thassos hatte ich an Karfreitag zum ersten Mal eine orthodoxe Messe besucht.
Die Pensionsbesitzerin hatte mir erklärt, dass ein Gottesdienst mehrere Stunden dauerte
und die Menschen einfach rein- und rausgingen. So hatte ich John im Buggy für eine Weile
hineingeschoben und die Gesänge hatten ihm augenscheinlich gefallen. Draußen hatten
viele Dorfbewohner in Grüppchen gestanden, sich unterhaltend und lachend, eine
interessante Erfahrung und ganz anders als eine katholische oder evangelische Messe, wie
ich sie aus Deutschland kannte.
Am 6. Januar sahen wir uns die Prozession von weitem an, um niemanden zu
stören. Der Pfarrer war ganz in schwarz gekleidet. Gefolgt von einer großen Gruppe fein
angezogener Männer und Frauen ging er hinunter zur Bucht und dann auf einen
Landungssteg, der ins Meer ragte. Inmitten der feierlichen Gruppe bemerkten wir ein paar
Teenager, die nur bunte Badehosen trugen. Ein merkwürdiges Bild. Der Pfarrer betete und
segnete und dann warf er plötzlich ein schön dekoriertes Kreuz ins Wasser. Die Teenager
in den Badehosen sprangen dem Kreuz hinterher und als einer von ihnen mit dem Kreuz
in der Hand wieder auftauchte, klatschte die Menge begeistert.
Das ganze schien uns ziemlich fremd, aber ebenso fremd schien vielen
Dorfbewohnern wohl Johns Verhalten, wie wir bei unseren Spaziergängen durch den Ort
an verschiedenen irritierten Blicken bemerkt zu haben glaubten. Die Szene erinnerte mich
daran, wie wenig mir die gängige Redewendung gefiel, dass Autisten in ihrer eigenen Welt
leben. Wenn man es schon so formulieren wollte, dann lebten wir doch letztlich alle in
einer eigenen Welt. Wer sich etwa von außen unsere Bräuche ansah, empfand sie
wahrscheinlich meistens als eine eigene Welt, als merkwürdig und fremd.
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Am folgenden Morgen öffneten wir das Tor unseres Hauses zur Straße und dahinter hatte
sich der Ort plötzlich völlig verändert. Die Gassen waren voll von Menschen, alle
Geschäfte waren geöffnet. Wir hatten uns daran gewöhnt, dass es hier ziemlich still war, die
einzigen Geräusche kamen normalerweise von den sich nähernden und entfernenden
Motorrollern der Dorfbewohner. Nun hatte sich die Atmosphäre rasant verändert. Wir
fragten in unserem Lebensmittelladen nach und hörten, dass ein Kreuzfahrtschiff für einen
Tagesausflug angelegt hatte. Hunderte von Touristen würden den Tag hier verbringen.
Wir kamen an einem Zeitungsständer vorbei und sahen seit unserer Ankunft das
erste Mal Zeitungen auf Englisch. Die Schlagzeilen befassten sich mit dem Tsunami, der
kurz vor unserer Abreise im Indischen Ozean viele Menschen getötet hatte. Das Ausmaß
war bei unserer Abreise allerdings noch längst nicht so klar gewesen, wie wir es nun sahen.
Wir hatten tagelang keine Nachrichten gehört, waren schockiert, kauften sofort ein paar
Zeitungen und gingen zurück zum Haus.
Es war uns zur Gewohnheit geworden, in der Küche zu sitzen, denn das Haus
hatte keine Heizung und es war trotz blauem Himmel und Sonnenschein recht frisch. Der
Hausbesitzer hatte uns zwar einen kleinen Elektroheizer gegeben, aber das Wohnzimmer
mit den hohen Decken konnte dieser nicht wärmen. Also stellten wir den Heizer meistens
in die kleinere Küche und saßen dann dort, was auch deshalb schön war, weil wir uns dann
beim Kochen Gesellschaft leisten konnten.
So saßen wir also in der Küche und lasen die Zeitungen. John saß neben mir, er
kaute an einem Butterbrot. Plötzlich fiel mir aus dem Augenwinkel auf, dass er für einen
kurzen Moment wie eingefroren dasaß. Ich sah ihn an, seine Augen waren glasig. Sein
Kopf bewegte sich in einer Nickbewegung zum Brustkorb. Das Ganze war ein flüchtiger
Moment, zusammen vielleicht nur zwei Sekunden lang, und doch kam es mir viel länger
vor. Für mich geschah das Ganze in Zeitlupe.
Das Wissen darum, was hier passierte, schien mehr in meinem Körper zu sein als in
meinem Geist. Ich fühlte es in mir, wie es wuchs und sich durch meinen Körper bewegte.
Es drehte meinen Magen, es traf meine Lungen, als ob es ihnen die Luft entziehen wollte,
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es bildete einen Kloß in meinem Hals, es flutete meinen Kopf. Ich hatte gerade den ersten
epileptischen Anfall seit über einem Jahr gesehen.
Binnen weniger Sekunden war alles wieder da, es kam mir vor wie dieser
Schnelldurchlauf des Lebens, von dem bei Nahtoderfahrungen berichtet wurde. All die
EEG's, die Medikamente, die Ärzte, die Krankenhausbetten, die Krampfanfälle, Tag und
Nacht. Ein Schnelldurchlauf, der in völligem Gegensatz zu der Zeitlupe stand, in der ich
den kurzen Anfall wahrnahm.
Alles zusammen traf mich wie ein Schlag: die Zeitlupe des Geschehens, die
körperliche Reaktion der Erinnerung, der Schnelldurchlauf der Erfahrungen. John schien
es aber gut zu gehen. Er aß weiter, als ob nichts gewesen wäre. Ich hoffte, dass es sich hier
um eine einzelne Episode handeln könnte, dass ich sie mir vielleicht sogar nur eingebildet
hatte, dass in Wirklichkeit vielleicht doch gar nichts geschehen war?
Doch es geschah kurze Zeit später noch einmal, mit einer stärker wahrnehmbaren
Bewegung und einem schnelleren Kopfnicken. Am Abend kehrte auch die Armbewegung
in den Anfall zurück, zuerst langsam, dann schneller, eine Bewegung, die wie eine
Umarmung ins Leere aussah, eine fast elegante Verbeugung.
Die Krampfanfälle bauten sich wieder genauso auf, wie es früher im Alter von
anderthalb Jahren angefangen hatte: zuerst waren sie kaum merklich und wurden dann
immer ausgeprägter. Wir hatten die Epilepsie überwunden und nun war sie
zurückgekommen. Wir hatten immer gewusst, dass dies passieren könnte, und dass es nach
Johns Krankheitsverlauf sogar sehr wahrscheinlich war, aber als es geschah, war es
dennoch ein Schock. Und die Anfälle waren binnen eines Tages wieder so stark geworden,
dass John tiefe Augenringe hatte und völlig geschafft aussah.
Für mich lag ein großer Unterschied in der Wahrnehmung der Epilepsie im
Gegensatz zum Autismus. Der Autismus schien mir eng mit Johns Persönlichkeit
verknüpft. Auch wenn er viele Herausforderungen mit sich brachte, schien John damit
dennoch grundsätzlich ein glückliches Kind zu sein. Die Epilepsie dagegen ließ ihn
desorientiert und tief erschöpft zurück. Sie zog eine unglaubliche Energie aus John heraus.
Autismus und Epilepsie führten beide zu Schwierigkeiten, aber der Autismus war Johns
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Art, in der Welt zu sein, während die Epilepsie sein In-der-Welt-Sein einfach nur
zerstörerisch unterbrach.
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In der 20. Schwangerschaftswoche hatte meine Frauenärztin in den USA beim Ultraschall
eine sogenannte Plexuszyste an Johns Gehirn entdeckt. Sie hatte mir erklärt: "Das passiert
manchmal, in den allermeisten Fällen hat es nichts zu bedeuten. Die Zyste löst sich auf und
beim Ultraschall in der 30. Woche werden wir schon nichts mehr sehen. Nur in ganz
seltenen Fällen ist so eine Zyste mit einem Chromosomenfehler verbunden, der Trisomie
18, auch Edwards-Syndrom genannt. Aber da machen Sie sich mal keine Sorgen, das ist nur
bei einem von 3.000 Babys der Fall."
Zuhause war ich natürlich sofort ins Internet gegangen, um mir die schlimmsten
Szenarien anzusehen. Auch wenn es im Jahr 2000 bei weitem noch nicht so viele
Informationen im Internet gegeben hatte wie heute, hatte ich doch einiges gefunden. Ich
las, dass die meisten Babys mit Trisomie 18 noch vor der Geburt starben. Wenn Sie
überlebten, hatten sie erhebliche Organprobleme und eine verkürzte Lebenserwartung.
Wir wohnten zu dieser Zeit in einem Vorort von Chicago. Ich hatte meine Jacke
angezogen und war spazieren gegangen, um herauszufinden, was diese Zyste für mich
bedeutete. Höchstwahrscheinlich bedeutete sie gar nichts, aber was, wenn doch? Würde
mein Kind lebend zur Welt kommen? Wie lange würde es leben können? Ein Jahr oder nur
ein paar Monate? Mehr als alles andere fühlte ich die Hoffnung, dass ich mein Kind
wenigstens lebend würde sehen können, selbst wenn es nur für ein paar Stunden sein sollte.
Interessanterweise beschäftigte mich die Möglichkeit eines solchen Chromosomenfehlers
nur in Bezug auf die Frage, wie viel Zeit wir gemeinsam haben würden.
Ich war mehr als eine Stunde spazieren gegangen und als ich in unsere Wohnung
zurückgekommen war, hatte ich gewusst, dass die Liebe zu meinem Kind bedingungslos
war. Es war egal, ob mein Kind behindert, krank, gesund und/oder normal sein würde,
oder in welchen Kategorien wir auch immer zu denken neigten. Diese Kategorien
bedeuteten mir nichts, oder besser: sie spielten in der Liebe zu meinem Kind überhaupt
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keine Rolle. Es war ein ganz außergewöhnliches Gefühl gewesen, ein großer Moment. Ich
hatte keine Angst mehr gehabt und war nicht mehr beunruhigt gewesen. Ganz im
Gegenteil, ich hatte mich richtiggehend befreit gefühlt.
Man konnte es natürlich so wahrnehmen, dass meine Reaktion ziemlich einseitig
und auch egoistisch gewesen war: Ich wollte mein Kind unbedingt kennen lernen und
dabei hatte ich zum Beispiel kaum an das potentielle Leiden gedacht oder an die
Schmerzen, die mit einer Trisomie 18 verbunden sein könnten. Vielleicht war meine
intuitive Reaktion vor allem auch ein Weg gewesen, mich mit der Möglichkeit einer
extremen Diagnose psychologisch vergleichsweise schadensfrei auseinander zu setzen. Als
ich von der Frauenärztin nach Hause gefahren war, hatte ich mir noch gedacht, dass es
zehn lange Wochen sein würden, bis uns der Ultraschall Gewissheit gäbe. Durch meine
Reaktion musste ich mich in diesen zehn Wochen aber gar nicht so sehr darum sorgen.
Es ließe sich sicher vieles an meinem Erlebnis relativieren, dennoch: Als John die
Epilepsie entwickelt hatte und auch später wieder, als er mit Autismus diagnostiziert
worden war, erlebte ich nicht so große Gefühle des Verlustes, wie ich sie oft von anderen
Eltern beschrieben hörte. Noch bevor John geboren worden war, hatten die Zyste und
mein Spaziergang dauerhaft ein bejahendes Gefühl gegenüber Krankheit und Behinderung
angelegt.
In der 30. Schwangerschaftswoche hatte sich dann gezeigt, dass sich die Zyste wie
erwartet aufgelöst hatte. So viel wir wussten, hatte das alles auch nichts mit Johns
verschiedenen Krankheiten und Behinderungen zu tun. Aber ich dachte daran nun auch
bei der Rückkehr der Epilepsie zurück. Egal, was passierte, wusste ich doch immer, dass
ich vor allem dankbar war, dass wir zusammen leben konnten.
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Es gab keine offensichtliche Erklärung für die Rückkehr der Epilepsie. John hatte einen
zufriedenen und fitten Eindruck gemacht. Wir überlegten, ob uns irgendetwas Besonderes
in den Sinn kam, aber nichts. Vielleicht hatte es etwas mit Johns Stoffwechsel zu tun? Es
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war wie immer ein sinnloses Rätseln. Wenn sämtliche Experten schon keinen Rat wussten,
wie sollten wir es dann erklären oder verstehen können?
Wir waren auf einer Insel weit weg von Zuhause, wir konnten hier nicht einfach
und problemlos ein EEG machen lassen. Vielleicht in Rhodos-Stadt. Aber Johns EEG's
waren immer abnormal gewesen, selbst im anfallsfreien Zustand. Sie gaben keinen
Aufschluss über Ursache, Lokalisation oder Heilungsmöglichkeiten. Johns Epilepsie war
generalisiert und therapieresistent. Ein neues EEG würde uns wahrscheinlich sowieso
nichts nützen. Wir dachten kurz darüber nach, den Urlaub abzubrechen, entschieden uns
aber dagegen. Wir hatten Johns Notfallmedikament dabei und daneben gab es nichts, was
man wirklich tun konnte – wo auch immer wir waren.
Nach einem Krampfanfall musste John schlafen, um wieder zu Kräften zu
kommen. Ich saß neben ihm und sah ihn an, sah seine eingefallenen Augen, sah unseren
verletzlichen kleinen Jungen, den wir nicht beschützen konnten. Das Gefühl der
Hilflosigkeit war schwer zu ertragen. Ausgerechnet Machtlosigkeit ist merkwürdigerweise
eines der mächtigsten Gefühle.
Mit der alten Traurigkeit kam aber auch das mittlerweile ebenso gut bekannte
Vertrauen zurück, diese Hilflosigkeit aushalten zu können. Zwei Jahre Epilepsie-Erfahrung
hatten uns gelehrt, dass wir schon zurechtkommen würden. Wir hatten das früher
geschafft, wir würden es auch jetzt wieder schaffen.
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Unseren ersten Ausflug nach der Rückkehr der Epilepsie unternahmen wir nach RhodosStadt, ganz im Norden der Insel, um dort das Krankenhaus zu suchen und uns für den
Notfall den Weg dorthin einzuprägen. Und da wir schon einmal in der Stadt waren,
beschlossen wir zu bleiben und die Altstadt zu erkunden.
Wir fanden einen Parkplatz und betraten das Ritterviertel durch das EleftheriasTor. Als Erstes stießen wir auf die Ruinen eines dorischen Aphrodite-Tempels aus dem 3.
Jahrhundert v. Chr., es waren nur noch ein paar Sockel zu sehen. Mitten darin hatte John
seinen nächsten Krampanfall. So saßen wir dann bei wunderschönem Wetter in dieser
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Tempelruine, die der Göttin der Liebe geweiht war, unterhalb des imposanten Palastes der
Kreuzritter, und warteten darauf, dass John im Buggy von seinem post-iktalen Schlaf
aufwachte. The Knight Family, wir waren so Ritter.
Als John wieder aufgewacht war, gingen wir weiter, vorbei an Palästen, Kirchen,
Moscheen und einer Synagoge. Es war ein schöner Morgen in der Stadt, John saß ganz
ruhig in seinem Buggy. Er hatte nach einem Anfall weniger Energie, aber schien zufrieden,
sah sich die ganze Zeit um und die Stadt schien ihm zu gefallen. Es war beeindruckend zu
sehen, wie stark John war, wie schnell er sich erholte und schon wieder lachen konnte. Von
unserem vierjährigen Jungen konnten wir lernen. Auch wir gewöhnten uns langsam an die
Tatsache, dass die Epilepsie in unser Leben zurückgekehrt war. In den verwinkelten
Gassen der Altstadt fanden wir eine Taverne zum Mittagessen.
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Am frühen Nachmittag machten wir uns entlang der Westküste auf Richtung Süden, sahen
uns das Kloster Moni Skiadi an und fuhren von dort aus weiter in das Landesinnere zu
einem der typischen abgelegenen Bergdörfer, Mesanagros. Das Dorf lag im Süden der
Koukouliari-Berge, die Straße vom Kloster zum Dorf war ein Schotterweg, der sich durch
die karge Landschaft wand. Wir waren erleichtert, als wir ohne Reifenschaden im Dorf
ankamen. Wir spazierten durch das Dorf und wollten dann weiter Richtung Süden fahren,
zu einem anderen Dorf namens Kattavia. Auf der Karte schätzten wir die Entfernung auf
etwa 13 km, doch bald half uns die Karte nicht mehr weiter: Vor uns gabelte sich der Weg,
wo es auf der Karte gar keine Gabelung gab.
Welchen Weg sollten wir nehmen? In diesem Fall nahmen wir lieber den, der
befahrener und breiter aussah. Bald führte dieser aber immer steiler bergauf, ob das richtig
war? Bevor wir es bemerkt hatten, war der Weg allerdings so eng geworden, dass man
darauf nicht mehr umdrehen konnte. Auf der einen Seite wurde der Weg durch den Berg
begrenzt, der steil anstieg, und auf der anderen ging es steil bergab. Ich wollte ungern in
diesem engen Korridor rückwärts fahren, also beschlossen wir, weiterzufahren und nach
einer Wendestelle zu suchen. Und irgendwohin würde der Weg ansonsten schon führen.
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Die Landschaft war sehr schön und es machte uns zunächst nicht viel aus, dass wir
uns verirrt hatten. Uns kamen Schafe entgegen und wir sahen eine Hütte, die allerdings
vom Weg aus nur zu Fuß erreichbar war. Irgendwann lag immer mehr Geröll auf dem
Weg, wir mussten aussteigen und den Weg freiräumen, und kurze Zeit später löste sich der
Weg einfach auf. Nein, er führte nicht zu einer Wendestelle und nein, er führte auch sonst
nirgendwo hin. Jetzt gab es keine andere Möglichkeit mehr, als den ganzen Weg rückwärts
zu fahren.
Scott meinte, dass es ihm nichts ausmachen würde, also ließ ich lieber ihn ans
Steuer. Im Beifahrersitz sah ich noch deutlicher, wie phantastisch die Aussicht war, aber ich
hatte dafür in diesem Moment wenig Sinn. Als wir wieder an der Hütte und den Schafen
vorbeikamen, fühlte ich mich langsam besser. Bald hätten wir es geschafft.
An der Gabelung schlugen wir den anderen Weg ein und ich wechselte zurück ans
Steuer. Ohne weitere Probleme erreichten wir Kattavia, wo John erstmal ein großes Eis
bekam, während wir den Kellner des Cafés nach den Straßen fragten. Er sagte uns, der
andere Weg sei nur für Geländefahrzeuge erlaubt. Wir hatten Glück gehabt, dass wir mit
unserem Mietwagen ohne Schaden zurückgekommen waren.
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Mittlerweile war es Spätnachmittag, aber da wir schon so weit im Süden waren, beschlossen
wir, bis ganz an die Südspitze der Insel zu fahren. Je näher wir kamen, umso mehr sah die
Landschaft aus wie eine Wüste. Der Weg führte etwa 6 km lang durch Sanddünen und
dann öffnete er sich plötzlich und wir gelangten zu einer Halbinsel, die zu beiden Seiten
von malerischen Buchten umgeben war. Von der einen Seite wehte ein heftiger Wind und
die Wellen peitschten an Land, auf der anderen Seite war das Wasser ganz ruhig und sah
fast aus wie eine Glasfläche. Ein wirklich beeindruckender Gegensatz und dazwischen lag,
wohl einen halben Kilometer breit, der Strand Prasonisi. Außer uns war weit und breit
keine Menschenseele zu sehen.
Als wir spazieren zu gehen versuchten, wurden wir fast umgeweht. John war früher
sehr empfindlich gegenüber Wind gewesen, er hatte viele Ohrenprobleme gehabt, und die
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Empfindlichkeit hatte sich erst gelegt, als die zum Schutz vor Entzündungen gelegten
Paukenröhrchen wieder herausgefallen waren. Ich wusste zwar, dass John Wind seither
besser ertrug, war aber dennoch etwas ängstlich, ob dieses Szenario vielleicht zu viel sein
könnte. Es war zudem sehr laut und John ja auch geräuschempfindlich. Doch John schien
sich überhaupt nicht an Wind oder Lautstärke zu stören, wie auch wir schien er absolut
begeistert von dieser Sandbank und der Halbinsel. Seine Haare waren binnen Sekunden
total zerzaust und er lachte ausgelassen.
Rhodos war fast 80 km lang und wir hatten diese Länge an einem einzigen Tag
durchfahren, vom frühen Morgen in der Hauptstadt im Norden über das Verirren in den
Bergen im Landesinneren bis hin zur Südspitze, wo wir nun vor der Kulisse eines
verlassenen und absolut atemberaubenden Strandes den Sonnenuntergang erlebten.
Im Auto auf dem Weg zurück nach Lindos hörten wir Sting, All This Time. Es schien eine
passend zarte Musik (solange man nicht daran dachte, an welchem Tag das Album
aufgenommen worden war). Es war dunkel geworden, hier und da sahen wir die Lichter
von entfernten Dörfern und die Ostküste brachte uns zurück zu unserem Ferienhaus.
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In Berlin vereinbarten wir sofort einen Termin beim Neurologen, wurden ins Krankenhaus
eingewiesen, machten einen erfolglosen EEG-Versuch, weil es viel zu hektisch zuging und
John deshalb nicht kooperierte, wurden dann ins Epilepsiezentrum überwiesen, wo wir
erfolgreich ein 24-Stunden-EEG erhielten, das aber wie erwartet keine neuen Erkenntnisse
brachte. Wieder wurden verschiedene Medikamente gegeben, die wieder nicht wirkten. Die
Spezialisten wussten nach wie vor keinen Rat. Da John die Medikamente nicht schlucken
wollte, wurde vorgeschlagen, ihm wieder eine PEG-Magensonde zu legen, wie wir es früher
schon einmal gemacht hatten. Wir entschieden uns dagegen. Fünf Monate später hörten
die Krampanfälle auf genauso rätselhafte Weise auf wie beim ersten Mal.
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