Zu einigen ethischen Aspekten im Umgang mit Flüchtlingen

Pfr. Thomas Feld
Theologischer Vorstand des Diakonischen Werkes der Ev.-Luth. Kirche in Oldenburg e.V.
Impuls für die Kreissynode des Ev.-Luth. Kirchenkreises Oldenburg-Stadt am 7. Okt. 2015
Zu einigen ethischen Aspekten im Umgang mit Flüchtlingen
Zur Orientierung dient mir folgende Erzählung von der Begegnung Jesu mit einer Frau
aus einer der syrophönizischen Städte im Norden Israels:
Und Jesus ging weg von dort und zog sich zurück in die Gegend von
Tyrus und Sidon. Und siehe, eine kanaanäische Frau kam aus diesem
Gebiet und schrie: Ach Herr, du Sohn Davids, erbarme dich meiner! Meine
Tochter wird von einem bösen Geist übel geplagt. Und er antwortete ihr
kein Wort. Da traten seine Jünger zu ihm, baten ihn und sprachen: Lass
sie doch gehen, denn sie schreit uns nach. Er antwortete aber und sprach:
Ich bin nur gesandt zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel. Sie
aber kam und fiel vor ihm nieder und sprach: Herr, hilf mir! Aber er antwortete und sprach: Es ist nicht recht, dass man den Kindern ihr Brot nehme
und werfe es vor die Hunde. Sie sprach: Ja, Herr; aber doch fressen die
Hunde von den Brosamen, die vom Tisch ihrer Herren fallen. Da antwortete Jesus und sprach zu ihr: Frau, dein Glaube ist groß. Dir geschehe, wie
du willst! Und ihre Tochter wurde gesund zu derselben Stunde.
Matthäus 15, Vers 21 - 28
In den letzten Wochen habe ich oft die Frage gehört, wie es gelingen kann, die gute
Stimmung gegenüber Flüchtlingen aufrecht zu erhalten. Nach der Lektüre des unseres
Textes ist man versucht, umgekehrt zu fragen: wie bringt Jesus es fertig so herzlos zu
sein? Wie schafft er es, stumm zu bleiben? Die Frau hat Angst um das Leben ihrer
Tochter und Jesus sagt – nichts.
Wir erfahren, dass Jesus sich nach einer Auseinandersetzung mit den Pharisäern und
Schriftgelehrten zurückzieht. Er geht aus Galiläa in das Gebiet um die Städte Sidon und
Tyrus, von Israel aus gesehen: ins Ausland. Vielleicht war es ihm einfach zuviel geworden, zuviel der Auseinandersetzung, zuviel der Anfeindungen. Und trotzdem: wie bringt
Jesus das fertig, gegenüber der Frau einfach stumm zu bleiben?
Eigentlich können wir uns der Bitte eines anderen nur schwer verweigern. Und gerade
die Bitten bedürftiger Menschen gehen uns ans Herz. Erst Recht die Bitte einer Mutter
in Sorge um ihr Kind. Dies steckt hinter der gegenwärtigen sogenannten „Willkommenskultur“. Wir sehen bedürftige Menschen, bei den meisten müssen wir schlimme und
schlimmste Erfahrungen vermuten. Die Flüchtlinge kommen zu uns und bitten um
das, was wir teils im Überfluss haben: Kleidung, Nahrung und darüber hinaus: ein
soziales und politisches System, das jedem einzelnen Sicherheit, Freiheit und
Gerechtigkeit verspricht – all dies wird in den Herkunftsländern bitter vermisst.
Es ist die natürlichste, menschliche Reaktion, dieser Bitte entsprechen zu wollen.
Der Philosoph Emanuel Levinas beginnt seine Philosophie mit dieser Erfahrung. In der
drastischen Sprache Levinas’ werden wir vor dem Antlitz des Anderen zu seiner Geisel.
Wir werden verhaftet, werden verpflichtet, uns seiner Not zu erbarmen. Sich der Not
des Anderen zu verweigern ist immer ein Gewaltakt, ein mutwilliges sich losreißen von
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einem Blick, der mir alles abverlangt. Des- halb noch einmal die Frage: Wie schafft
Jesus es, der doch sonst so sensibel jede Not anderer Menschen wahrnimmt, angesichts der Not dieser Frau stumm zu bleiben?
Jesus nennt eine Regel, ein Gesetz, das für ihn und die Frau Gültigkeit haben soll: Ich
bin nur gesandt zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel. So begründet Jesus sein
Tun. Er führt eine Regel ein, bezieht sich auf einen Maßstab der Gerechtigkeit und beginnt abzuwägen zwischen den Ansprüchen der Frau und den Ansprüchen Israels. Und
gemessen an dem Anspruch der Israeliten, muss der Anspruch der kanaanäischen
Frau zurücktreten. Sie ist Ausländerin, kommt aus einem anderen Land und einem anderen Kulturkreis. Als Ausländerin hat sie keinen Anspruch auf Jesu Zuwendung.
Man könnte es als eine Form der ausgleichenden Gerechtigkeit verstehen, die Jesus
auf seine Regel von der Begrenzung seines Auftrags Bezug nehmen lässt. Sobald sich
in der Beziehung des Einen zum Anderen die Ansprüche eines Dritten melden, müssen
wir abwägen, werten, einen Maßstab finden. Das ist ein Gebot der Gerechtigkeit. So
wägen wir vielleicht ab zwischen den Ansprüchen der Steuerzahler in unserem Land
und der Not der Flüchtlinge. Und in der gegenwärtigen Situation ist es aus meiner Sicht
notwendig darauf zu verweisen, dass auch unser Land, die Bundesrepublik Deutschland, in ein hoch differenziertes Rechtssystem eingebunden ist. Das Asyl- und Ausländerrecht, die Genfer Flüchtlingskonvention, Verpflichtungen aus dem Europäischen
Recht versuchen hier einen Ausgleich herzustellen. Einerseits muss das im Grundgesetzt gewährte Recht auf Asyl und müssen die Ansprüche der Flüchtlinge aus der
Flüchtlingskonvention sicher gestellt werden, andererseits ist aber dafür Sorge zu tragen, dass diese Rechte nicht überstrapaziert oder durch Missbrauch ausgehöhlt werden. Gerade angesichts der Angst, dass die gegenwärtige Bereitschaft zur Aufnahme in
Ablehnung umschlagen könnte ist darauf zu verweisen: ob Flüchtlinge in Deutschland leben und bleiben dürfen, ist zum wenigsten von politischen Stimmungen
abhängig. Es gibt einen rechtlichen Rahmen, an den immer wieder zu erinnern ist.
Allerdings, darauf macht unsere Geschichte aufmerksam: Jede auch noch so gerechte
Entscheidung kann den Anderen verletzen. So beruft sich Jesus in unserer Geschichte
auf ein nachvollziehbares, verständliches Recht, der Fortgang der Geschichte aber
zeigt, auf welch schmalem Grat Jesus sich bewegt:
Die Frau lässt nicht nach. Sie hört nicht auf zu bitten: Herr hilf mir! Und nun antwortet
Jesus mit einem Bildwort, dessen Zynismus ihm erst durch die Antwort der Frau vollends bewusst wird: „Es ist nicht recht, dass man den Kindern ihr Brot nehme und werfe
es vor die Hunde“. Darauf antwortet die Frau: „Ja, Herr; aber doch fressen die Hunde
von den Brosamen, die vom Tisch ihrer Herren fallen.“
Die Frau nimmt Jesus genauer beim Wort, als es ihm lieb sein kann: „Wenn du mich
schon“ so scheint sie zu sagen, „mit den Hunden vergleichst, wenn du schon die Gefahr
eingehst, mich wie einen Hund zu behandeln, dann sei auch bitte konsequent, dann gib
mir wenigstens den Teil, der auch den Hunden zusteht.“
Hinter Jesu Vergleich zeigt sich die Gefahr in der wir stehen, wenn wir uns der Not
des Anderen unter Rückgriff auf das Gesetz verweigern: wir verwandeln ihn von
einem lebendigen Menschen zum Anwendungsbeispiel einer Regel, wir machen
aus seiner Not einen Fall, dessen Anspruch und sei es im Namen der Gerechtigkeit ruhig gestellt wird. Wir stehen in Gefahr, die Menschen, deren Not uns anspricht,
unmenschlich, in den Worten der Frau: wie Hunde zu behandeln.
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Vielleicht ist es etwas überzogen, Jesu
Handeln als zynisch zu bezeichnen, doch
verhält er sich nicht zunächst genauso? Er sieht zwar die Not der Frau in seinem Verhalten aber geht er über sie hinweg. Ich sehe zwar Deine Not – doch ich bleibe stumm;
ich sehe zwar deine Not – aber sie fällt ich in mein Ressort; ich höre zwar dein Schreien
– aber für dich gelten keine andern Regeln als für Hunde. Gegen Zynismus kann man
sich schlecht wehren. Es ist ja nicht so, als würde der zynische Mensch meine Not nicht
sehen – er sieht sie wohl, aber er tut nichts.
Auch in der gegenwärtigen Situation fällt es nicht schwer, Beispiele für solchen Zynismus zu finden:
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Unser Ausländerrecht ist voll zynischer Regelungen und Fallstricke. So ist zwar
das Recht auf politisches Asyl in unserem Grundgesetzt verankert, so sind wir
zwar wir der Genfer Flüchtlingskommission beigetreten, aber wenn ein leibhaftiger Flüchtling in Deutschland Zuflucht sucht, sieht er sich einer undurchdringlichen rechtlichen Situation gegenüber. Nun muss er glaubhaft schildern, dass er
nicht nur Tod und Folter zu befürchten hat, er muss auch darlegen, dass er aus
politischen Gründen in diese Not geraten ist. Und selbst wenn ihm das gelingt,
kann schon eine kurze Zwischenlandung in einem weniger gefährlichen Land zur
Ausweisung führen: er wäre ja schon in diesem sogenannten Drittland sicher
gewesen.
•
Zynisch erscheint mir, dass, kaum sind die Zahlen der in unser Land kommenden Flüchtlinge angestiegen, sich auch diakonische Organisationen finden, die
versuchen, aus der Not der Flüchtlinge Profit zu ziehen.
•
Zynisch erscheint mir, dass gegenwärtig Flüchtlinge pauschal als „traumatisiert“
bezeichnet werden. Hier wird die für jeden angemessenen therapeutischen Umgang wesentliche Unterscheidung zwischen Traumatisierung und einem daraus
resultierenden Störungsbild, der Posttraumatischen Belastungsstörung, aufgegeben. Jeder Flüchtling wird so zu einem Behandlungsfall gemacht und auf den
Opferstatus festgelegt. Hier wird vergessen, dass uns in vielen Flüchtlingen aktive, kompetente Menschen begegnen, die sehr wohl aktiv für die Gestaltung ihres
Lebens eintreten.
Aber zurück zu unserer Geschichte. Sie ist ja nicht allein eine Geschichte gefährdeter
Menschlichkeit. Sie erzählt vor allem von großem Glauben. Die Geschichte nimmt eine
wunder bare Wendung. Es ist als hätten die Worte der Frau Jesus deutlich gemacht, in
welcher Gefahr er sich befand. Er drohte, die Menschlichkeit der Frau aus dem Blick zu
verlieren. „Frau, dein Glaube ist groß!“ – bewundernd, anerkennend, vielleicht auch etwas erleichtert über das nun mögliche gute Ende der Geschichte klingen Jesu Worte.
Die frühen Ausleger unserer Geschichte sind der Frage nachgegangen, worin denn nun
der große Glaube der Frau besteht. Und die Theologen der alten und mittelalterlichen
Kirche kommen zu einer für mich erstaunlichen Entdeckung. Erstaunlich in einer Zeit, in
der man Religion und Glaube eher damit verbindet, Vernunft und Verstand auszuschalten. Sie loben nämlich beim Glauben der Frau ihre Klugheit. Sie loben ihren Wortwitz,
ihre Gewandtheit, ihren gewitzten und geistreichen Umgang mit der Sprache. Sie loben
ihre Hartnäckigkeit, die Fähigkeit, zu fordern, zu klagen, aufzubegehren – das alles zusammen ist für sie großer Glaube. Und dazu gehört noch eine Fähigkeit, die Martin Luther mit folgenden wunderbaren Worten beschreibt: Unser Herz „meint, es sei lauter
Nein da, und ist doch nicht wahr. Darum muss sich das Herz von seinem Fühlen abkehren und das tiefe heimliche Ja unter und über dem Nein mit festem Glauben auf Gottes
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Wort fassen und halten, wie dies Weiblein tut.“ – „das tiefe heimliche Ja unter und
über dem Nein mit Vertrauen auf Gottes Wort fassen und halten“ - das ist für Luther
großer Glaube. Glaube als die Fähigkeit, das tiefe, heimliche Ja unter und über
dem Nein entdecken. Ihn finden wir bei dieser Frau.
Aber, so habe ich mich gefragt, finden wir solchen Glauben nicht auch bei unseren
Flüchtlingen? Ich glaube dort finden wir nicht selten die gleiche Gewitztheit, Hartnäckigkeit, ja sogar Unverfrorenheit der Frau aus der fernen syro-phönizischen Stadt; die
Fähigkeit nämlich, hinter dem kalten Nein unseres Paragrafendschungels ein tiefes,
heimliches Ja zu vermuten, das es nur hervorzutreiben gilt. Vielleicht könnten wir etwas
gnädiger auf manche halblegale Praxis unserer Flüchtlinge blicken, wenn wir auf ihrem
Boden etwas von diesem Vertrauen aufblitzen sähen. Dafür aber ist es geradezu notwendig, die Flüchtlinge und ihre Geschichten kennenzulernen. Die persönliche Bekanntschaft ist der beste Schutz gegen Diskriminierung und Stigmatisierung.
Und in noch einer anderen Hinsicht ist unsere Geschichte die Geschichte einer wunderbaren Wendung. Im Hintergrund der Erzählung steht ein Konflikt, mit dem sich die
ersten christlichen Gemeinden zu beschäftigen hatten: Sind in Jesu Mission tatsächlich
nur „die verlorenen Schafe des Hauses Israel“ eingeschlossen oder geht sein Auftrag
und darin Gottes Liebe darüber hinaus? Die Geschichte von der Syro-Phönizischen
Frau nimmt schon etwas von dem vorweg, was im Taufbefehl am Ende des Matthäusevangeliums deutlich ausgesprochen wird: Geht hin in alle Welt, machet zu Jüngern alle
Völker... ! Gottes Liebe zu den Menschen überschreitet die Grenzen der Nationalität, des Volks, der Religion, ihm sind alle Menschen willkommen. Und vielleicht
wohnt ja in unserer Willkommenskultur ein später Abglanz der Freude darüber.