ST. ANNA-GEMEINDE ZÜRICH Wem die Stunde schlägt! Predigt

ST. ANNA-GEMEINDE ZÜRICH
Wem die Stunde schlägt!
Predigt von Pfarrer Walter Gisin
gehalten am 22. November 2015
Schriftlesung: Jesaja 11,1-10
Predigttext:
Lukas 17,20-24
„Als er von den Pharisäern gefragt wurde, wann das Reich Gottes
komme, antwortete er ihnen: Das Reich Gottes kommt nicht so,
dass man es beobachten könnte. Man wird auch nicht sagen können: Hier ist es! oder: Dort ist es! Denn seht, das Reich Gottes ist
mitten unter euch. Zu den Jüngern aber sagte er: Es werden Tage
kommen, da werdet ihr danach verlangen, auch nur einen der Tage des Menschensohnes zu sehen, und ihr werdet ihn nicht sehen.
Und man wird zu euch sagen: Dort ist er! oder: Hier ist er! Geht
nicht hin, lauft nicht hinterher! Denn wie der Blitz, wenn er aufflammt, von einem Ende des Himmels bis zum anderen leuchtet, so
wird es mit dem Menschensohn sein an seinem Tag.“
Liebe Gemeinde
„Wem die Stunde schlägt!“ Ein geflügeltes Wort. Ursprünglich
stammt es von einem englischen Dichter aus dem 16. Jahrhundert.
In diesem Gedicht schreibt er, dass jeder Mensch ein Stück des
Kontinents ist, darum soll man nicht fragen, wem die Stunde
schlägt, denn sie schlägt für dich. Dieses Wort „Wem die Stunde
schlägt“ ist uns aber erst durch den amerikanischen Schriftsteller
Ernest Hemingway bekannt geworden. Er schrieb um 1940, zu
Beginn des Zweiten Weltkrieges, einen Roman mit diesem Titel.
Bei ihm kann man dieses Wort so verstehen: Jedes Mal, wenn ein
Mensch stirbt, läuten die Glocken. Frage dann nicht, wem die
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Glocken läuten; sie läuten für dich. Das war die Situation des
Zweiten Weltkriegs, der soeben begonnen hatte. „Wem die Stunde
schlägt!“ Wir sind miteinander verbunden.
Wenn wir im Fernsehen die vielen Flüchtlinge sehen, dürfen wir
auch nicht wegschauen. Ich bemerkte ein Mädchen unter ihnen,
das etwa so gross war, wie unsere kleine Enkelin Maja. Sie könnte
unter ihnen sein. Da war auch ein Knabe, etwa so gross wie unser
Enkel Ilan. Er könnte unter ihnen sein; ich könnte unter ihnen sein
– wir alle! Diese Verbindung unter uns Menschen sollen wir uns
bewusst machen, dann wird das Wort von Paulus klarer: „Weinet
mit den Weinenden … aber auch: Freut euch mit den Fröhlichen.“
Ein Freund von mir hat sich nicht nur als Teil der Menschheit verstanden, sondern sich auch mit seinem Hund eng verbunden gefühlt. Er erzählte mir von seinem Erlebnis. Da sei er mit seiner
Frau und dem Hund mit dem Auto nach Flaach ans Ufer des
Rheins gefahren, um dort ein wenig spazieren zu gehen. Es war
November, eiskalt, aber die Sonne schien herrlich. Plötzlich sei
der Hund ins Wasser gesprungen. Auf einmal habe er bemerkt,
dass ihn das Wasser mitriss und er nicht mehr ans Ufer schwimmen konnte. Da haben bei ihm die Glocken geläutet. Er habe sich
bis auf die Unterhosen entkleidet und sei ins Wasser gesprungen.
Nur noch einen Ausweg habe er gesehen: mit dem Hund auf die
andere Rheinseite schwimmen! Dort floss das Wasser langsamer.
Darum schwamm er dem Hund voraus und konnte mit ihm das
andere Ufer erreichen. Er sei beinahe gestorben, so kalt war das
Wasser. Dann lachte er! Es war eine ganz komische Situation. Er
sei in seinen Unterhosen auf dem Bänkli am Ufer gesessen und
habe auf seine Frau gewartet, die mit dem Auto und seinen Kleidern zu ihm hingefahren sei. Er habe geschlottert, und die vorbei-
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gehenden Spaziergänger hätten ihn ungläubig und auch schmunzelnd angesehen. Ja, ja, wem die Stunde schlägt! Der Hund jedenfalls war gerettet! Da mein Freund Arzt war, wusste er, dass das
auch ganz daneben hätte gehen können. Aber nun war er gerettet!
Er und der Hund!
So ist es: Wir sind im gleichen Boot, wir alle, wir Menschen!
Manchmal scheint es, als wenn die Menschen sich mehr mit den
Haustieren verbunden wissen, als mit ihren Mitmenschen. Es gibt
wohl Männer, die eher wegen ihres Hundes in den Rhein springen,
als wegen ihrer Frau. Äxgüsi! Eine solche Verbundenheit stellt
eine wichtige geistliche Wahrheit dar: Jesus Christus weiss sich
mit uns sehr verbunden. Was an uns und mit uns geschieht, ist ihm
nicht gleichgültig. Er weiss darum, und es trifft ihn zutiefst, ja es
betrifft ihn. Der Apostel Paulus sagt es so: „Durch die Taufe sind
wir mit Jesus gestorben und mit ihm auch wieder auferstanden.“
Man kann es noch weiterführen: Mit ihm sind wir auch zum
Himmel aufgefahren. So eng sind wir mit ihm verbunden.
Frage nicht: Wem die Stunde schlägt, wenn du in deinen Gedanken Jesus am Kreuz sterben siehst. Sie schlägt für dich! Wenn du
die Glocken läuten hörst, weil Jesus am Kreuz stirbt, sind es die
Glocken, die für dich läuten. Denn du bist mit ihm gestorben. So
eng sind wir mit ihm verbunden. Aber auch wenn die Osterglocken läuten, weil Jesus auferstanden ist, dann läuten sie für dich.
Denn wir sind mit ihm auferstanden. Und wenn du ins kalte Wasser fällst und beinahe untergehst, dann springt er hinterher und ist
bei dir in den kalten Fluten, die dich umgeben. Er bringt dich ans
andere Ufer und sorgt für deine Rettung. Wenn er sieht, wie du
ohne ihn auf verlorenem Weg gehst, geht er mit dir, spricht ein-
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dringlich zu dir und bringt dich zur Umkehr – auf den guten Weg,
den Weg mit ihm.
Nun aber wollten die Pharisäer von Jesus wissen, wann das Reich
Gottes kommt. Ihre Frage ist für uns nicht leicht verständlich. Was
meinten sie mit dem Reich Gottes? Bedenkt man ihren kulturellen
und religiösen Hintergrund, so hilft uns das Alte Testament. Dort
erwartet Israel das Reich Gottes als irdische Wirklichkeit. Man
kann es vereinfacht mit der Rückkehr ins Paradies bezeichnen.
Am Anfang des Gottesdienstes haben wir einen Bibeltext aus Jesaja gehört. Sie beschreibt es ganz eindrücklich: Der Wolf wird beim
Lamm sein, die Raubkatze beim Geisslein liegen. Das Kalb, der
junge Löwe und die Kühe sind beieinander. Ein junger Knabe
führt sie auf die Weide. Kuh und Bärin werden miteinander weiden und ihre Jungen beieinander liegen. Der Löwe wird Stroh
fressen wie das Rind und das Kleinkind wird sich am Loch der
Viper vergnügen und seine Hand in die Höhle der Otter strecken.
Das ist eine erstaunliche Botschaft. Kann ein Löwe Stroh fressen?
Früher hat man darüber gelacht. Heute aber weiss man, dass auch
ein Löwe einen Blinddarm hat, einfach nur verkümmert. Aber er
kann durchaus auch wieder zu einem Pflanzenfresser werden und
sogar Stroh fressen. Das wird eine ganz neue Situation sein. Es ist
ein paradiesischer Zustand, sodass sogar die Giftschlangen für das
Kleinkind nicht mehr gefährlich sind. Jesaja fährt weiter: Nirgendwo wird man Böses oder Zerstörerisches tun. Das Land, ja,
die ganze Erde, ist dann voll von der Erkenntnis Gottes. An jenem
Tag wird man nach dem Nachkommen des berühmten Isais fragen, nach dem Sohn Davids. Er wird wie ein Feldzeichen der Völker dastehen. Die Völker werden durch seine Herrlichkeit, das
heisst durch sein Machtwort, zur Ruhe kommen.
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„Feldzeichen der Völker“, das habe ich nicht mehr vergessen, das
heisst in Hebräisch Nes-Ammim. Als junger Mann habe ich diesen
Kibbuz besucht. Es waren Christen aus der Schweiz, die in Israel
einen Kibbuz aufgebaut und ihm den Namen Nes-Ammim gegeben haben. Sie wollten ein Zeichen der Völker in Israel setzen, ein
Zeichen, dass Christen zum jüdischen Volk stehen wollen. Jesaja
aber spricht vom Nachkommen des berühmten Isai, er spricht vom
Sohn Davids. Er wird wie ein Feldzeichen der Völker dastehen!
„Wann kommt das Reich Gottes?“, fragen die Pharisäer Jesus.
Dabei sehen sie Jesus an und wissen ganz genau, was die Menschen über ihn sagen. Sie nennen ihn den Sohn Davids. Wenn der
Sohn Davids, der Messias, kommt, dann sollte doch bald auch das
Reich Gottes kommen. Das war ihre Überzeugung, die sie auf
Jesaja 10 abstützen konnten.
Jesu Antwort ist sibyllinisch, geheimnisvoll: „Wenn dieses Gottesreich kommt, kann man das nicht beobachten und auch nicht
genau lokalisieren.“ Und dann fügt er geheimnisvoll bei: „Denn
seht, das Reich Gottes ist mitten unter euch.“ Eigentlich hätten es
die Pharisäer auch wissen müssen. Was sie ja von Jesus gehört
hatten, war aussergewöhnlich. Es war, wie wenn das Reich Gottes
schon angebrochen wäre. Er hat viele Menschen gesund gemacht,
grosse Wunder sind durch ihn geschehen. Er hat sogar Tote auferweckt. Ja, er hat die Elemente überwunden, ist auf dem Wasser
gegangen. Er hat Wind und Wellen geboten, und sie haben ihm
gehorcht. Das kann nur einer, der die Schöpfung im Griff hat.
Wenn das Reich Gottes kommt, dann muss einer da sein, der diese
Schöpfermacht hat.
Jesus sagt geheimnisvoll, aber doch ganz bestimmt: „Man kann
nicht sagen: Hier ist es. Oder: Dort ist es.“ Man kann es nicht mit
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den Augen sehen und mit unserem Verstand erkennen. Es ist
trotzdem da. Da wo Jesus ist, ist das Reich Gottes. Als Christen
wissen wir: Jesus lebt, mit ihm auch ich! Das Reich Gottes hat
durch seine Präsenz unter uns begonnen. Es ist da. Man sieht einem Menschen nicht von aussen an, dass Jesus in ihm wohnt. Man
kann das nicht beweisen, auch wenn es eine Realität ist. So ist es
heute mit dem Reich Gottes! Es ist mitten unter uns. Das sagte er
den Pharisäern.
Dann aber zieht er sich mit seinen Jüngern zurück und redet mit
ihnen ganz persönlich: Er spricht von einer Zeit, da er nicht mehr
unter ihnen weilen würde. Dann wird die Sehnsucht seiner Jünger
und der Christen in dieser Welt nach ihm sehr gross sein. Auch die
Sehnsucht nach dem Reich Gottes, in dem er der König sein wird.
„Und man wird zu euch sagen: Dort ist er! oder: Hier ist er! Geht
nicht hin, lauft nicht hinterher!“ Es ist wie man in unseren Zeitungen nach dem ersten April jeweils lesen kann. Da werden die
Leute durch die Medien zum Narren gehalten. Sie rennen hierhin
und dorthin. Aber es ist doch der erste April! Ha, ha, ha!
Als ich noch ein Bub war, etwa zehn oder vielleicht elf Jahre alt,
hatten mein Bruder und ich eine Idee. Ich war ein Schlingel, wie
eben Buben es manchmal sind. Es war der erste April, ich erinnere
mich genau. Wir wohnten damals in einem dreistöckigen Haus.
Zuunterst wohnte unsere Familie, in der Mitte waren Freunde, und
zuoberst hatte unsere liebe Grossmutter eine kleine Wohnung. Wir
läuteten zuunterst bei der Eingangstüre die Glocke unserer Grossmutter und freuten uns schon auf die Überraschung, die wir ihr
bereiten wollten. Wirklich, wir hörten wie sie mit ihren alten
Schuhen die drei Treppen herunterkam: klack, klack, klack! Die
Türe ging auf. „Erscht Aprille gschprängt, erscht Aprille gsch-
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prängt!“, riefen wir ihr und lachten ihr ins Gesicht. Ha, ha! Unsere
Freude war riesig. Sie war eine gutmütige Grossmutter und verstand unseren Spass und lachte mit. – Dies ist kein Beispiel zur
Nachahmung, bitte!
So ist es doch mit uns Menschen. Da sagt einer: „Hier ist das
Wahre!“ Der andere sagt: „Nein, das musst du ausprobieren, das
hilft bestimmt!“ So werden auch junge Moslems verführt. Sie rennen dann hin: klack, klack, klack! Wie am ersten April. So werden
auch Christen verführt, wenn ein Guru oder sonst ein Mensch auftritt, der vorgibt, die Welt zu retten. Jesus aber sagt: „Geht nicht
hin! Lauft ihnen nicht nach!“ Und dann fügt er noch bei: „Wie der
Blitz, wenn er aufflammt, von einem Ende des Himmels bis zum
anderen leuchtet, so wird es mit dem Menschensohn sein an seinem Tag.“ Mit dem Menschensohn meint er sich selbst. Er war
„der echte, wahre Mensch“, das bedeutet Menschensohn. Er ist der
Menschensohn und Gottessohn zugleich, der wahre Mensch und
wahre Gott.
Jetzt gehen wir mit Riesenschritten wieder einmal Weihnachten
entgegen. Damals kam der Retter ganz im Geheimen. Verborgen
in einem Stall wurde er geboren. Nur wenige gingen hin und sahen
das kostbare Kind. Am Tag des Menschensohnes wird es anders
sein. Wenn Jesus wieder kommt, wird er aufleuchten wie ein Blitz
und alle werden ihn sehen. Er wird für die Seinen kommen, die
mit ihm gelebt haben und Vergebung ihrer Sünden erfahren haben.
Dann wird seine Himmelfahrt auch unsere Himmelfahrt sein, der
Tag unserer Entrückung. Er wird uns mitnehmen, aus dem kalten,
gefährlichen Wasser und uns ans andere Ufer bringen. Das ist unsere Rettung. Dann fragen wir nicht: Wem schlägt die Stunde? Sie
schlägt dann für uns! Dann bricht das Reich Gottes an.
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Bibelkenner werden damit sofort das Tausendjährige Reich verbinden. Es wird ein Reich sein, das der Situation des Paradieses
gleicht, ein Reich, wo das geschieht, was Jesaja vorausgesagt hat.
Es wird ein Reich des Friedens sein, wo alle Aggressivität der
Menschen und auch der Tiere ein Ende haben wird. Es wird dann
auf dieser Welt so sein, wie Gott es bei der Schöpfung gewollt hat.
Damals sagte er: „Siehe, es war alles sehr gut!“ Wie freuen wir
uns auf seinen grossen Tag! Es ist wie Weihnachten, nein, es ist
noch schöner als Weihnachten, unbeschreiblich schön.
Ich habe mir das so vorgestellt wie ein Sonnenuntergang an einem
friedlichen Ort, wo die Menschen staunend und anbetend auf der
Wiese ruhen und diese Pracht der untergehenden Sonne geniessen.
Oder: Da ist eine Gruppe von Menschen, die friedlich und ohne
Gefahr das Matterhorn ersteigen. Dann stehen sie zuoberst, und
vor ihnen liegt die herrliche Schöpfung. Welch eine Pracht, welch
ein Staunen! Aber in ihrem Mittelpunkt ist Jesus Christus, der
Menschensohn, der den Sieg über Schuld, Sünde und Tod am
Kreuz errungen hat.
Fassen wir die Botschaft unseres Textes in zwei Sätzen zusammen: 1. Das Reich Gottes ist mitten unter uns – weil Jesus in und
bei uns wohnt. 2. Der Menschensohn kommt wie ein Blitz aus
heiterem Himmel und bringt uns sein Reich! Wir wollen bereit
sein und so in die Weihnachtszeit hinein gehen. Amen.
ST. ANNA-GEMEINDE ZÜRICH
St. Anna-Kapelle, St. Annagasse 11, 8001 Zürich
Gottesdienste: Sonntag 10.00 Uhr, Bibelstunden: Mittwoch 15.00 Uhr
Sekretariat St. Anna, Grundstrasse 11c, 8934 Knonau, Telefon 044 768 22 37