ganznah Landläufige Geschichten vom Berühren Neu ab 19.03

ganznah
Landläufige Geschichten vom Berühren
Neu ab 19.03.2016
„ganznah“ ist nach „Sein & Mein“ die zweite Ausstellung im Format SICHTEN.
Dieses neue Ausstellungsformat, das mit Wiedereröffnung des Hauses im Jahr 2013
startete, hat Vorarlberg zum Thema. Ziel ist es, einen anderen Blick auf das Land zu
werfen: nicht von oben, nicht von außen sondern direkt, wie durch ein Brennglas.
2016 steht das Thema „Berührung“ dabei im Fokus des Interesses.
Ein Trapezkünstler aus Feldkirch, der im weltberühmten Zirkus Sarrasani auftrat;
eine Hebamme, die über 4000 Kindern auf die Welt geholfen hat; eine
Krankenschwester, die Geräte rund um die Pflege sammelt; ein Imam, der rituelle
Totenwaschungen vornimmt; eine Tänzerin, die eine stolze Tradition aufgreift –
und dann doch ganz eigene Wege geht. Diese weit voneinander entfernten
Lebenswelten sind sich in einem doch ganz nah: Berührung verbindet alle ihre
Geschichten.
Die Lippen, die Hände, die Faust – Erzähl- und Erinnerungsfragmente entfalten das
Panorama landläufiger Berührungskulturen. Berührung kann grenzüberschreitend
sein und provozierend, kann Bedrohung oder Lustgewinn bedeuten, für Urvertrauen
stehen wie für Profession. „ganznah“: eine Grammatik des Berührens zwischen
Bedürfnis, Tabu und Verweigerung.
Die Ausstellungskapitel
Tagaus tagein berühren
Vorarlbergerinnen und Vorarlberger schickten Fotografien von dem, was sie im
Laufe eines Tages berührt haben. In der Zusammenschau entsteht eine Vielfalt
visueller „Berührungstagebücher“, die einen leichtfüßigen und alltäglichen Einstieg
in die Ausstellung anbieten und während ihrer Laufzeit anwachsen werden. Richard
Schwarz arbeitete mittels eines eigens geschriebenen Programms gemeinsame
Strukturen in den Berührungsmilieus heraus: von jung bis alt, zwischen Mann und
Frau.
Halt finden und verlieren
Der Feldkircher Artist Karl Zauser trat in den 1930er Jahren weltweit mit dem
berühmten Zirkus Sarrasani auf. Er war Flieger und Fänger am Trapez. Fand hier
Berührung nicht statt, konnte das tödlich enden. Sein Leben nahm während und
nach dem 2. Weltkrieg eine tragische Wendung. Erstmals zu sehen ist das von
Zauser entwickelte Doppelreck und Teile des Familiennachlasses, die vom Sammler
Reinhard Häfele gesichert wurden.
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Schützen, schmücken, schonen
Religiosität, Volks- und Aberglaube – sie alle verwenden Objekte, die Menschen
nahe am Körper tragen, um sich zu schmücken und zu schützen: Berührreliquien,
Breverl, Medaillons, Rosenkränze. Von den Taufhäubchen über die Schäppel
unverheirateter junger Frauen bis zu Ölfässchen, in denen das Chrisam für die letzte
Ölung aufbewahrt wird, begleiten uns ein Leben lang Objekte, die Teil von
Berührungsritualen sind. Tätowierungen zur Abwehr des Bösen spannen den Bogen
schließlich auch ins Profane zu Cremes und Pasten, die zum Schutz aufgetragen
werden.
Wollig, wohlig, warm
Dinge, die unsrem Körper ganz nah sind und zu seinem Wohlbefinden beitragen,
stehen in dieser Zusammenschau unterschiedlicher Privatsammlungen einander
gegenüber. Eine Auswahl von Reformkleidung aus der Sammlung von Huber Trikot
zeigt, dass bereits zu Beginn des vorigen Jahrhunderts „natürliches Wohlbefinden“
auf großes Interesse stieß. Die von Gustav Jäger erfundene, wollene
„Normalkleidung“ erfreute sich über Jahrzehnte großer Beliebtheit. Aus der
Sammlung, die Maria Hagleitner in der Krankenpflegeschule Bregenz über viele
Jahre zusammengetragen hat, ist neben allerlei wärmendem Gerät auch ein
besonderes, in Vorarlberg hergestelltes, Objekt zu sehen: eine Körpersauna aus den
1960er Jahren.
Heidenspaß und Höllentanz
Im Tanz kommen sich die Menschen nahe. Die Obrigkeit, sei es Kirche oder Staat,
wollte diese Ausschweifungen immer schon regulieren, kontrollieren und oft auch
untersagen. In der Tanzlaube ist eine Auswahl von Verboten durch die Zeiten zu
sehen: Predigten aus dem 19. Jahrhundert, das Swing- und das Twistverbot im 20.
Jahrhundert bis hin zum sogenannten Tanzkursgesetz in jüngster Vergangenheit.
Aber: Mit den Verboten ging immer auch die Auflehnung, der Widerstand gegen sie
einher. Einer jener Orte, an denen ausgiebig getanzt und gefeiert wurde, war der
Gasthof Sonne, der in den späten 1950ern Mellau den Beinamen „das sündige Dorf“
einbrachte. Die Videoperformance „Folta“ der Tänzerin Veronika Larsen mit dem
Musiker Philipp Lingg bildet schließlich den visuell-akustischen Rahmen dieses
Ausstellungsbereiches.
Sehnsüchte
Ein assoziativer Bilderreigen lässt eintauchen in ein Panorama der Nähe, ausgehend
von der Ursehnsucht nach mütterlicher Geborgenheit über Ängste vor zu großer
Nähe bis hin zu Ausbeutung und dem tabuisierten Thema der in Vorarlberg
verbotenen Prostitution. Bilder aus Beständen des Museum und eigens für die
Ausstellung entstandene Arbeiten, etwa von Dietmar Walser und Petra Rainer,
werden verwebt mit Erfahrungen Jugendlicher, die in Workshops mit der Autorin
Daniela Egger entstanden sind.
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In Liebe, für immer
Neben einer Videoarbeit von Hans-Joachim Gögl und Mark Riklin, in der Paare von
ihren Liebesanfängen berichten, erzählt eine Audioinstallation von der Sehnsucht
nach Nähe, wenn diese am größten ist: dann, wenn die geliebten Person weit
entfernt ist. Ein Aufruf in Kooperation mit dem Bregenzerwald Archiv führte zu
einer Vielzahl an Liebesbriefen aus beinahe zwei Jahrhunderten, die die
Besitzerinnen und Besitzer dem Museum zur Verfügung stellten. Daraus formte der
der Künstler Nik Hummer ein intimes akustisches Bekenntnis zwischen Sehn- und
Eifersucht, einsamem Schmerz und dem Bedürfnis nach Berührung.
Lebenslang berühren
Den Abschluss der Ausstellung bildet eine Reflexionszone aus Videointerviews mit
Professionistinnen und Professionisten der Berührung. Eine Altenpflegerin, ein
Imam, der rituelle Totenwaschungen vornimmt, eine Kickbox-Weltmeisterin, eine
Sexualbegleiterin, ein Tanzlehrer, eine Körpertherapeutin, die mit Babys arbeitet,
ein Tätowierer, eine Psychotherapeutin, die Kindern hilft, die Opfer von sexuellem
Missbrauch wurden und eine Strömerin sprechen über ihre Erfahrungen und die
spezielle Rolle von Berührungen in ihrer Arbeit.
SICHTEN – Ein Ausstellungsformat sucht neue Dialogformen mit dem Land
Das Format sichtet regionale Potentiale und Partner, thematisiert Sichtweisen,
zeichnet überraschende und unvermutete Bilder von Vorarlberg. Damit steht
SICHTEN für ein neues Verständnis des vorarlberg museums. Es versteht sich als
aktives Suchen und Freilegen von materiellen und personellen Ressourcen im
gesamten Land. Dies können Erinnerungen und Erzählungen ebenso sein wie
Sammlungen und interessante Projektpartner.
SICHTEN bezeichnet aber auch ein Darstellen unterschiedlicher Sichtweisen. Das
Format inkludiert eine permanente Selbstbefragung, was uns definiert, was wir gern
wären, und wie wir uns selbst darstellen. Die „Deutungshoheit“ kann dabei breit
gelagert sein. Und es liegt in der Natur solcher Intentionen, dass sich das Museum
damit auch gegenwärtigen Phänomenen, Sichtweisen und aktuellen Fragestellungen
widmet.
SICHTEN ist nicht nur Format, es ist auch ein Prinzip des Hauses, gewissermaßen
mit dem Charakter einer Versuchsanordnung. Dies hat sich bereits in zahlreichen
Projekten des vorarlberg museums manifestiert.
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Partner
Die Ausstellung verdankt sich vieler Personen und Institutionen im Land, die daran
als Leihgeber, Interviewpartner, Wissens- und Erfahrungsexperten oder als
Gestalter mitgearbeitet haben. Besonders erwähnt seien das Bregenzerwald Archiv,
die Sammler Reinhard Häfele und Maria Hagleitner, die vielen privaten und
institutionellen Leihgeber. Im Rahmen der Umsetzung der Ausstellung entstanden
Arbeiten unter Einbeziehung unterschiedlicher Gesellschaftsgruppen in
Zusammenarbeit mit Künstlerinnen und Künstlern, wie etwa Brigitta Soraperra,
Daniela Egger, Nik Hummer, Richard Schwarz, Petra Rainer, Hans Joachim Gögl,
Mark Riklin oder Veronika Larsen.
Projektleitung: Theresia Anwander
Kuratorische Leitung: Robert Gander
Co-Kuratoren: Theresia Anwander, Bruno Winkler
Gestaltung: Julia Landsiedl
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Bildnachweis
Die Fotografien stehen zum Download auf unsere Website bereit:
http://www.vorarlbergmuseum.at/museum/presse.html
Sollten Sie weitere Informationen wünschen, wenden Sie sich bitte an:
Sarah Frei, +43 5574 46050-516, [email protected]
Irma und Edwin Raich, Hard
Oktober 2015
Petra Rainer
Liebespostkarte in Notenschrift von
Josef Fröwis an seine Braut Theresia
Metzler um 1900, Original im
Privatbesitz Wilhelm Hollenstein
Haussponsor
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