Nach einer langen Flucht: UmF zwischen

Nach einer langen Flucht:
UmF zwischen Stabilisierung
und Integrationsdruck
Dr. Hartmut Quehl
Fachforum “Bildung junger Menschen
im Kontext von Flucht”
Kassel, 28.1.2016
Nach einer langen Flucht:
UmF zwischen Stabilisierung und Integrationsdruck
Drei Teile:
•
Warum kommen die Jugendlichen? Wie ist die Bildungssituation im Heimatland?
•
Was geschieht während der Flucht?
•
Welchen Herausforderungen müssen sie sich nach ihrer Ankunft in Deutschland
stellen?
Zum Beispiel
Syrien und Iraq…
Zum Beispiel
Eritrea…
Gewaltkontexte in Eritrea:
•
1961 – 1991 Unabhängigkeitskrieg
•
1991 Sieg der Befreiungsfront EPLF und
Machtübernahme
•
1993 formelle Unabhängigkeit
•
1998 – 2000 II. eritreisch-äthiopischer Krieg
•
•
2001 Niederschlagung der Opposition
ab 2001 Wandlung in eine offene Militärdiktatur
Militarisierung der Gesellschaft nach
dem Vorbild der “Kämpferideale” aus
der Zeit des Unabhängigkeitskrieges
•
2002 Schließung der Universität Asmara und
Militarisierung des Bildungswesens
•
ab 2003 Ausweitung des Militärdienstes auf
alle Männer (und Frauen) bis 45.Lebensjahr
Schule in Eritrea –
Eindrücke
Grafik: Bildungssystem in Eritrea
Kindergarten
Primary School
Junior High School
Secondary School
Warsay-Yek‘alo-School in Sawa (Militärlager) +
Abschlussprüfungen
Bestandenes Examen
5 Technical Colleges
Bestandenes Examen
bis zu 2 Jahre
Klasse 1-5
Klasse 6-8
Klasse 9-11
Klasse 12
Nicht bestandenes Examen
CEVOT Center for
Vocational Trainng
Nicht bestandenes Examen
Zuweisung in den
National Service (18 Monate) Militär
Öffentlichen Dienst unter
Zuweisung in den Öffentlichen
Militärkontrolle
Dienst unter Militärkontrolle
Nominell bis zum 45. Lebensjahr, de facto länger
Flüchtlingsproduzent Eritrea:
• Erziehung: Kultur der Härte, “Secrecy and
Conspiracy”
• Militarisiertes Bildungssystem
• Bildungslethargie und Bildungsverweigerung
vs. projiziertes Bildungsideal
• Maoistischer Modernisierungsanspruch
vs. realer Qualitätsverlust
• Nicht “Fluchtursachen”
sondern Fluchtmotivation”:
= Entkommen aus dem Gewaltkontext,
= Entkommen aus der Ausweglosigkeit
• Die Menschen wissen, was sie erwartet:
das Prinzip Hoffnung
= “Der Traum vom guten Leben”
Eritrea verlassen …. nach Äthiopien: Tod
„Wir waren zu fünft, 2 Frauen und 3 Männer. Der Mann meiner Freundin Firtuna
ist in England, sie waren schon lange Zeit getrennt und er sagte ihr, sie soll
illegal nach Äthiopien gehen, dann würde er sie dort holen. Firtuna wußte, dass
es ihrer Ehe schaden würde wenn sie ablehnte. Also akzeptierte sie, die Grenze
nach Äthiopien mit einem Schmuggler zu überqueren. Als wir versuchten, über
die Grenze zu gelangen, entdeckten uns die eritreischen Soldaten. Sie riefen
“Stop!”, aber die Männer rannten los. Firtuna und ich folgten. Die Soldaten
schossen, Firtuna wurde getroffen und starb sofort. Wir wurden von den
Äthiopiern gerettet.“
(Interview Mahlet, in: Mulu Getachew, 2014)
Eritrea
Shegerab
Refugee Camp
Shimelba
Refugee Camp
Mai Ayni
Refugee Camp
Äthiopien
Flüchtlingslager Shimelba / Äthiopien
Wege nach Europa
Vom Sudan nach Libyen ….: Erpressung und Menschenhandel
„Die Reise von Khartoum nach Kufra dauerte 15 Tage, es war unbeschreiblich.
40 Personen auf einem kleinen Auto (Pick-up). Wir mußten in allem gehorchen,
was die Schmuggler sagten. Sie gaben uns kein Essen. Abd Salam … sagte er
würde mich für 150 USD nach Tripoli bringen. Ich zahlte, und ich und die
anderen Flüchtlinge wurden nach Misrata gebracht, wo wir nochmal 100 USD
zahlen mußten. … Wir verstanden, dass wir so von einem Schmuggler an den
nächsten weiter verkauft wurden. Alle verlangten Geld.“
(Interview Andom, in: Tesfagiorgis, 2013)
Im Sinai….: Entführung, Vergewaltigung, Erpressung
„Ich verließ Eritrea vor 7 Monaten um dem Militärdienst zu entkommen. Als ich
mit anderen Eritreern über die Grenze in den Sudan gelangte, erschienen
Beduinen mit einem Wagen und entführten uns. Sie schlossen uns in einem
Haus in Kassala ein, sie schlugen uns täglich und sagten: “Du zahlst 35.000
USD oder du wirst unsere Frau”. Ich gab ihnen die Telefonnummer meiner
Familie, aber die sagten sie können nicht soviel Geld auftreiben. Ich blieb 4
Monate in einem dunklen Raum bis ich feststellte, dass ich schwanger war. Ich
hatte eine Fehlgeburt. Sie brachten mich in den Sinai. Meine Familie zahlte 3
Monate später und sie ließen mich und ca. 30 andere an der israelischen Grenze
raus. Dort war ein großer Zaun, wir konnten nicht rüber, die israelischen
Soldaten sagten uns: “Geht zurück!” Mit uns waren auch Kinder, die es nicht
aushielten und zurück wollten, die ägyptischen Soldaten schrien: “Ihr dürft nur
zurück wenn ihr uns vorher die Frauen aus eurer Gruppe gebt!”
(Interview G., in: Tesfagiorgis, 2013)
Auf dem Sinai:
kriminelle
Organentnahme
Übers Meer….: Tod im Meer, Inhaftierung, neuer Versuch
„Ich
versuchte nochmal in 2005 übers Meer zu gehen, ich wurde zum
Mazra’a gebracht. Das Boot kam, aber sie warfen viele Kinder und
Frauen einfach über Bord, weil es voll war. Ich und ein paar andere
schwammen zur libyschen Küste zurück. Viele ertranken, besonders
Frauen und Kinder. Die Libyer suchten nach Überlebenden, wir
versuchten zu fliehen aber wir wurden gefangen und sie brachten mich
erneut ins Gefängnis, in einen Container. … Wieder zahlte ich Geld und
wurde nach Bengazi geschmuggelt. Dort traf ich einen eritreischen
Schmuggler, der 500 USD verlangte. Sie machen gar nichts, bevor du
nicht zahlst. Ich musste immer Geld von meinen Verwandten im
Ausland erbetteln. …“
(Interview Weini, in: Tesfagiorgis, 2013)
Fluchterfahrungen
Fluchterfahrungen = sequentielle Traumatisierung und Schulentwöhnung
Kein Zugang zu formaler Bildung, aber: „das Leben lehrt ….“
• Zerfall der Sozialstrukturen, Verlust von Vertrauen
• Aneignung von Überlebens- und Assimilationsstrategien: Informalität
ersetzt Formalität
• Spracherwerb als Komponente der Überlebenssicherung: unstrukturierte
Mehrsprachigkeit (Zweit-Dritt-Viert-Sprache)
Integrationsdruck in Deutschland
Definition im “Nationalen Integrationsplan” (NIP vom 12. Juli 2007):
“Integration ist eine Aufgabe von nationaler Bedeutung. Grundlage ist
neben unseren Wertvorstellungen und unserem kulturellen
Selbstverständnis unsere freiheitliche und demokratische Ordnung …
Bildung ist der entscheidende Schlüssel zur sozialen, kulturellen und
wirtschaftlichen Integration … Das Erlernen der deutschen Sprache
und der sichere Umgang mit ihr ist eine der wichtigsten
Voraussetzungen … für gesellschaftliche Integration.
… Angesichts des demografischen Wandels und des wachsenden
weltweiten Wettbewerbs um die besten Köpfe müssen wir auch
zukünftig Zuwanderung gezielt für die wirtschaftlichen und
gesellschaftlichen Interessen Deutschlands nutzen …“
Trianguläre Konstellationen
Informalität/
Assimilationskompetenz
(=Überlebensstrategie)
Integrationsdruck
& Berufszwang
Bildungsideal
Utopie vom
besseren Leben
sequentielle
Traumatisierung
Bildungserfahrung
(1. formale Bildung = Bedrohung in
Eritrea
2. „die Schule des Lebens“
auf der Flucht)
Bildungsrealität
durchökonomisiertes
System in
Deutschland
Symptome psychischer Belastung im Unterricht
• Konzentrationsstörungen
• Aufmerksamkeitsdefizite
• Unruhe, Nervosität und ständiges Entfernen aus dem Unterricht
• Fehlende Kompetenz zu einer realistischen Selbsteinschätzung
• Unentschuldigtes Fehlen, Zu-Spät-Kommen, vorzeitiges Abbrechen des
Unterrichtstages
• Unvermögen, Strukturen und Regeln zu erkennen und einzuhalten
• Fehlendes Abstraktionsvermögen
• Aggressivität
• Schwere Persönlichkeitsstörungen / Psychosen
• Suizidalität
• Eigen- und Fremdgefährdung (gewaltsame Übergriffe, schwere
Körperverletzung
Hospitationsbeobachtungen
(Theorie-Praxis-Seminar November 2015)
Positiv:
Negativ:
Hohes Engagement
Selbstüberschätzung
Hohe Motivation
Unruhe und hoher Laustärkepegel
Gegenseitige Hilfe
Zu-Spät-Kommen
Respekt
Disziplinprobleme
gute Konzentration
Konzentrationsschwierigkeiten
Ständiger Hinweis auf Schulregeln
Interviews Verbleibstudie (Wolfstein 2013)
Focus
Bewertung Unterricht
Sofortbeschulung
Erstreaktion
alles gut
Bewertung Unterricht
Regelschule
alles gut
Allgemeines Befinden?
alles gut
Verhältnis zu Lehrern?
alles gut
Verhältnis zu Mitschülern?
Probleme im Unterricht?
alles gut
Sprachschwierigkeiten, zu
geringe
Deutschkenntnisse
Keinen Schulabschluss zu
schaffen
Schulabschluss + Beruf
Angst?
Ziel in der Zukunft?
Zweitreaktion
Zu wenig Deutsch,
zu wenig Pausen,
kein Mathe und andere Fächer
Intensivklasse ist nicht gut,
Unterricht zu schwierig (bes. Mathe und Englisch),
keine Sportmöglichkeit in den Pausen, überfüllte
Cafeteria,
zu wenig Regeln, Orientierung ist schwierig
Die ersten Monate waren schwer, weil TN die
Menschen nicht verstanden haben
Probleme mit einzelnen Lehrern
Keine Probleme
dto.
dto.
Konkrete Ziele: Maler, Koch, Mechatroniker,
Raumausstatter, Automechaniker, Schauspieler, Pilot,
Chemiker, Apotheker, Realschulabschluss, Studium
Stabilisierung …..
= Durchbrechen der sequentiellen Traumatisierung :
• Der Überlebensdruck muss aus dem Alltag verschwinden --- hierzu gehört
eine sichere Bleibeperspektive.
• Der Widerspruch zwischen Informalität und Formalität muss sich
auflösen, das Verhältnis zwischen beiden muss zu Recht gerückt werden.
• Das utopische Bildungsideal der UMF und die standardisierten
Erwartungshaltungen der Aufnahmegesellschaft müssen sich der Realität
anpassen
= Spracherwerb und Bildungsbiographie müssen
kompetenzorientiert verlaufen.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
Dr. Hartmut Quehl
Felsberger Institut für Bildung und Wissenschaft e.V.
Untergasse 31, D-34587 Felsberg
Telefon: 05662 - 6629
Email: [email protected] --- www.fibw.eu