1 Nach diesen Geschichten begab sich`s, dass zu Abram das Wort

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Mit unerfüllten Träumen leben
Predigt zu Genesis 15, 1 – 6 am 13. September 2015 in Wädenswil
(unter Verwendung einer Predigthilfe von Dagmar Sydow und Katrin
Hildebrand)
Kanzellesung Genesis 15, 1 – 6 (Lutherbibel):
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Nach diesen Geschichten begab sich's, dass zu Abram das Wort des HERRN kam
in einer Offenbarung: Fürchte dich nicht, Abram! Ich bin dein Schild und dein
sehr großer Lohn.
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Abram sprach aber: HERR, mein Gott, was willst du mir geben? Ich gehe dahin
ohne Kinder und mein Knecht Eliëser von Damaskus wird mein Haus besitzen.
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Und Abram sprach weiter: Mir hast du keine Nachkommen gegeben; und siehe,
einer von meinen Knechten wird mein Erbe sein.
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Und siehe, der HERR sprach zu ihm: Er soll nicht dein Erbe sein, sondern der
von deinem Leibe kommen wird, der soll dein Erbe sein.
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Und er hieß ihn hinausgehen und sprach: Sieh gen Himmel und zähle die
Sterne; kannst du sie zählen? Und sprach zu ihm: So zahlreich sollen deine
Nachkommen sein!
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Abram glaubte dem HERRN und das rechnete er ihm zur Gerechtigkeit.
Liebe Gemeinde
Und er hieß ihn hinausgehen und sprach: Sieh gen Himmel und zähle die Sterne;
kannst du sie zählen? Im Angesicht des Sternenhimmels und im Bewusstsein der
Gegenwart Gottes denkt Abram über sein Leben nach. Immer wieder gibt es im
Leben von Menschen solche Augenblicke, da wird Bilanz gezogen. Und wie bei
Abram ist diese Bilanz eher ernüchternd. Ich habe drei Beispiele von Menschen
heute ausgewählt:
(1) Das Hochschulstudium hat ihm richtig Spass gemacht. Wie ein trockener
Schwamm hatte er das Wissen aufgesogen. Wenn er sich in ein
Forschungsthema vertiefte, kam er so in den Flow, dass er nichts anderes
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brauchte. Seine Seminararbeiten wurden auch von den Mitstudierenden
geschätzt und seine Prüfungsergebnisse waren sehr gut. Viel zu schnell
gingen die fünf Jahre an der Hochschule vorüber. Sein Professor hätte ihn
gern für eine Promotion empfohlen. Er selber hatte schon einige Ideen für ein
Forschungsprojekt. Aber nun wurde er erst einmal dringend in der
beruflichen Praxis gebraucht. Die akademische Karriere könnte er ja später
noch fortsetzen. – Drei Jahre später wollte ihn ein anderer Professor für ein
Doktorat nach Amerika holen. Aber es war keine gute Gelegenheit, die
Arbeitskollegen im Stich zu lassen. Ausserdem hatte er gerade seine
zukünftige Frau kennengelernt. Er lehnte ab. Im Beruf wurden ihm neue
verantwortungsvolle Aufgaben übertragen. Die Kinder wurden geboren und
wuchsen heran. – Inzwischen ist er über 50. Und es ist nicht so, dass er völlig
unzufrieden wäre. Er hat viel getan und erreicht im Leben. Aber da war doch
dieses wichtige Forschungsprojekt, das er immer im Kopf hatte. Soviel er
weiss, hat sich noch niemand anderes darangemacht. Er selbst hat
inzwischen wohl den wissenschaftlichen Anschluss verpasst, das Lesen der in
den Jahren erschienenen Bücher würde ihn wohl überfordern. Wahrscheinlich
würde kein Professor ihn heute als Doktoranten nehmen. Den Traum muss er
wohl begraben. Zeitpunkt verpasst. Was aber will er eigentlich noch erreichen
im Leben? Unruhe kommt in ihm auf.
„Und er hieß ihn hinausgehen und sprach: Sieh gen Himmel und zähle die
Sterne, kannst du sie zählen?“
(2) Sie hatte sich alles so einfach vorgestellt. Heiraten, ein Haus kaufen und
dann Kinder bekommen. Schon immer hat sie von einer eigenen Familie
geträumt. Dass etwas daran nicht in Erfüllung gehen könnte, hat sie sich nie
klargemacht. Aber nun ist sie 37 Jahre alt – und alleinstehend, single. In
ihrem Freundeskreis haben fast alle schon Kinder, auch ihr sechs Jahre
jüngerer Bruder ist schon verheiratet. „Du findest schon noch den Richtigen“
sagen die einen, etwas verlegen angesichts ihres eigenen privaten Glücks.
„Vielleicht musst du deine Ansprüche etwas runterschrauben“ die anderen,
mit leicht vorwurfsvollem Unterton. „Mach doch mal einen Kurs an der
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Volkshochschule“ ist ihr Lieblingsratschlag. Als ob dort alle netten und
ledigen Männer ihres Alters zu finden seien. Aber alles andere war auch nicht
besser: Fitness-Studio? Da hat jeder seinen Kopfhörer im Ohr. Internet? Bitte!
– das Leben ist für sie kein Online-Shop! Sie hatte durchaus einige
Beziehungen – aber der Mann fürs Leben war eben nicht dabei. Und so
gingen die Monate dahin und die Jahre – und ihr blieb nur, reihum
Freundinnen zu gratulieren und auf anderer Leute Hochzeiten zu tanzen. So
langsam sickert der Gedanke in ihr durch, dass es dabei bleiben könnte. Und
dass sie – selbst wenn sie bald jemanden kennenlernt – wohl kaum noch eine
Großfamilie gründen wird. Wie wird sie es aushalten, die Kinder der anderen
beim Aufwachsen zu begleiten? Die Vorstellung bedrückt sie und fällt ihr
immer noch schwer. In solchen Momenten hadert sie mit sich und ihrem
Schicksal. Und gleichzeitig… ihr Leben ist erfüllt. Sie fühlt sich beschenkt
durch ihren großen Freundeskreis und ihre Familie. Sie reist gerne. Sie tanzt,
da fühlt sie sich lebendig und frei. Sie arbeitet gern! Wird es ihr Beruf
auffangen, dass ihr privater Traum unerfüllt bleibt?
„Und er hieß ihn hinausgehen und sprach: Sieh gen Himmel und zähle die
Sterne, kannst du sie zählen?“
(3) Er muss sich setzen. Dort auf die Bank im Park. Im ist drümmelig, er ist zu
schnell gelaufen. Mal wieder. Er spürt seine Knochen, die Muskeln, der Atem
geht schnell. Das ist das Älterwerden. Der Körper zwingt ihn in ein
langsameres Tempo. Nicht nur beim Laufen. Er setzt sich hin und schaut auf
die Wiese. Schmetterlinge fliegen. Vögel zwitschern. Er atmet tief durch. Ja,
diese Grenze da, die er deutlich spürt, ist wohl keine vorübergehende, so wie
bisher. Immer konnte er gut mit seinen Grenzen umgehen. Jetzt ist er 63.
Bald wird er pensioniert. Seine Frau und er freuen sich darauf. Viel haben sie
noch vor. Doch jetzt lässt er die Frage zu: wird er das alles noch so können? So
wie sie sich das vorgestellt haben? Geht es wirklich einfach so weiter das
Leben? In ihrem Freundeskreis ist es auch spürbar. Das Leben hat ein Ende.
Und das kommt manchmal ganz plötzlich. Oder die Gesundheit spielt nicht
mehr mit. Schlaganfall, und schon ist der Traum vom gemeinsamen Verreisen
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zu Ende. Sein bester Freund ist deshalb in den Planungen nicht mehr dabei.
Und wenn ihm selbst das passiert? Oder seiner Frau? Plötzlich der
Tagesablauf nicht mehr selbstbestimmt. Der Pflegedienst kommt.
Er schaut auf die Schmetterlinge. Ein Lächeln stiehlt sich auf sein Gesicht.
Schmetterlinge im Bauch. Ja, die hat er immer noch, wenn er an seine Frau
denkt. Das gemeinsame Altwerden haben sie sich immer schön vorgestellt.
Mehr Zeit miteinander. Zu zweit und mit den Freundinnen und Freunden.
Und natürlich mit den Enkeln. Doch die wohnen weit weg. Besuche werden
schwieriger, merkt er. Oder wird er nur bequemer? Scheut den Aufwand, die
lange Reise, das Übernachten in fremden Betten. Ja, auch da ist diese Grenze
zu spüren. Es wird Zeit, sich ihr zu stellen, denkt er. Aber heißt das nicht
aufgeben? Er schaut wieder den Schmetterlingen zu. Nein. Er will leben. Gut
leben. Auch im Alter. Da muss doch was zu machen sein. Da gibt es doch noch
diesen Gedanken, den sie neulich beim Wein miteinander hatten. Da saßen
sie mit seinem besten Freund und dessen Frau zusammen und kamen ins
Träumen. Wie wäre es, wenn wir alle in einem Haus wohnen würden, und
eine große gemeinsame Küche hätten? Und wenn das Haus groß genug wäre,
könnten junge Leute auch da wohnen, Studentinnen, oder Leute aus dem
Ausland. Flüchtlinge vielleicht, oder Familien mit kleinen Kindern. Und alle
können sich gegenseitig unterstützen. Ob sich das vielleicht doch realisieren
lässt? Oder ist es nun zu spät, um so etwas zu planen? Älterwerden – das war
nie so geplant. Doch es geschieht. Was geht noch?
„Und er hieß ihn hinausgehen und sprach: Sieh gen Himmel und zähle die Sterne,
kannst du sie zählen?“
Liebe Gemeinde
Gemeinsam mit Abram stehe ich unter dem Sternenhimmel, stehen wir alle dort
und überlegen, wie Gott das wohl gemeint hat? Wie Gott es mit meinem, mit
Eurem, mit Deinem Leben gemeint hat. Jede und jeder von uns geht den ganz
eigenen Lebensweg. Wir fragen nach dem, was für uns ganz persönlich
dazugehört: Was ist für dich, was ist für mich ein erfülltes Leben? Die Antwort
auf diese Frage zu finden, ist schwer genug.
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Zu viele Möglichkeiten tun sich vor uns auf, wenn wir mit Abram aus dem Zelt
treten und auf das blicken, was vor uns liegt. Zu viele Sterne stehen über
unserem Horizont. So viele Wege könnten wir einschlagen, wenn die Umstände
oder der Mut es zuließen. Und sobald wir ihn eingeschlagen haben, unseren Weg,
befragen uns andere dazu. Dann müssen wir uns rechtfertigen mit unserem
persönlichen Lebensentwurf – vor Menschen, die uns nahestehen wie vor
Fremden gleichermaßen. „Was, du willst etwas ganz Neues, hast du dir das auch
genau überlegt?“ oder „Möchtest du eigentlich keine Kinder?“ … „Ach, du
arbeitest schon wieder? Ist dein Sohn nicht erst 8 Monate alt?“ … „Na, ob das
klappt, was ihr euch das vorstellt...“ – „so weit wegziehen, muss das denn sein?“
„In eurem Alter, nochmal einen Neuanfang?“ Unzählige dieser Sätze werden den
Leuten um uns herum einfallen und einige werden sie auch aussprechen.
Die Rechtfertigung unseres Lebensweges fällt uns gerade dann besonders
schwer, wenn wir selbst damit ringen, dass nicht alles so gekommen ist, wie wir
es uns erhofft haben. Dann stehen wir unter dem Himmel, fühlen uns klein und
verloren und hadern mit unserem Leben, mit unserem Lebensweg. So wie es
Abram im Predigttext tut: Mein Gott, so sagt er zu ihm, was willst du mir geben?
Was hat es auf sich mit all deinen Segens-Verheißungen, wenn ich davon doch
nichts spüre? Wo bleiben die Nachkommen, die du mir versprochen hast, so
zahlreich wie der Sand am Meer? Nicht ein Kind haben Sarai und ich bekommen.
Leere Versprechungen sind das doch. Was soll das sein: ein großer Lohn? Es fällt
mir schwer, auf dich und auf dein Versprechen zu vertrauen. Das sind harte
Worte, durchtränkt von Enttäuschung, Müdigkeit und vielleicht auch Bitterkeit.
Wohl dem, der einen Adressaten für diese Gefühle hat.
„Und er hieß ihn hinausgehen und sprach: Sieh gen Himmel und zähle die Sterne,
kannst du sie zählen?“
Nein, Abram kann sie nicht zählen. So viele Nachkommen wird er haben,
verspricht Gott ihm. Und wir wissen: Es kam so. Abram durfte erleben, dass sein
großer Traum in Erfüllung geht. Er durfte seine eigenen Kinder doch noch im
Arm halten. Das Wunder des Sternenhimmels.
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Für mich überdauert dieses Wunder Zeit und Raum und ereignet sich ebenso
hier in dieser Kirche, ebenso in meinem Leben. Gott will, dass es gut ist, für
mich, für dich und für alle. Ein erfülltes, sinnvolles Leben für jede und jeden.
Dazu gehört, dass ich erkenne, dass manches im Leben bruchstückhaft bleibt.
Entscheidungen, die ich treffe, kann ich nicht mehr rückgängig machen. Die
Folgen habe ich zu tragen. Und manche Träume kann ich nicht verwirklichen. Ja
sagen zu einer Möglichkeit heisst eben auch Nein sagen zu anderen
Möglichkeiten. Manches im Leben lässt sich eben nicht erzwingen, wir haben es
nicht selbst in der Hand. Aber dennoch sind und bleiben meine Träume und
Pläne ein Teil von mir, die erfüllten und die unerfüllten. Gott verspricht mir,
dass es einen Weg für mich gibt; egal, was kommt. Es sagt: Träum weiter! Mal
dir dein Leben bunt! Da sind immer noch Sterne. Du darfst hadern, du darfst
trauern um nicht gelebte Träume und verpasste Gelegenheiten! Aber lass dich
nicht verbittern. Gott will dich unbedingt begleiten. Er will dir Sterne schenken.
Pflücke dir ein oder zwei von ihnen, von den vielen Möglichkeiten, die über dir
leuchten. Entscheide sich dafür. Entscheide dich für einen Weg, auch wenn du
nicht weißt, ob er wirklich der richtige und endgültige ist. Eine solche
Entscheidung ist immer besser als gar nicht entscheiden. Lass es gut sein damit.
Und dann verfolge zumindest diese weiter. Das muss reichen, und es wird
reichen. Denn Gott hat sich doch schon für dich entschieden. Bevor du an ihn
denken konntest, hat er schon an dich gedacht. Und er will deine
Entscheidungen segnen.
Amen.