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Formen von Zwang und
Maßnahmen zu seiner Vermeidung
- Ergebnisse einer parallelen Befragung von Betroffenen und Behandlern -
Menschenrechte, Psychiatrie und Autonomie
Workshop in Bonn am 29.02.2016
Maria Teichert
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Definition
Maßnahmen gegen den erklärten oder gezeigten Willen
betroffener Patienten
• Freiheitsbeschränkende Maßnahmen (Einweisung, Isolierung,
Fixierung)
• Zwangsbehandlung (Medikation, Ernährung, EKT)
• Informeller/wahrgenommener Zwang (Überzeugungsversuche,
Erpressung)
> Gefahrenabwehr: Selbst- oder Fremdgefährdung
> (Unaufschiebbarkeit einer Behandlungsmaßnahme)
Steinert & Kallert, 2006
Gesetzliche und politische Entwicklungen
2013: Anpassung des §1906 (BGB) zur Zwangsmedikation nach Betreuungsrecht
Zwangsmedikation anzuwenden wenn
1)
der Betreute aufgrund einer psychischen Erkrankung (...) die Notwendigkeit der ärztlichen
Maßnahme nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln kann,
2)
die ärztliche Zwangsmaßnahme (...) erforderlich ist, um einen drohenden erheblichen
gesundheitlichen Schaden abzuwenden,
3)
dieser durch keine andere zumutbare Maßnahme abgewendet werden kann,
4)
wenn der zu erwartende Nutzen der ärztlichen Zwangsmaßnahme die zu erwartende
Beeinträchtigung deutlich überwiegt
(§1906 Abs. 3 Nrn. 1–4 BGB)
Gesetzliche und politische Entwicklungen
• Forderung nach neuer Gesetzeslage:
Zwang als Ultima Ratio, Alternativen ausschöpfen
• Reaktionen aus Fachwelt:
− Gute Abwägung zwischen Persönlichkeitsrechten und medizinisch
notwendiger Behandlungsindikation (DGPPN, 2013)
− Chancen für strukturelle Veränderungen und den Ausbau präventiver
Maßnahmen vertan (Bock, 2012; BPtK, 2013, Zinkler, 2013)
• UN-BRK bleibt Herausforderung (Aichele, 2013; Zinkler & Koussemou, 2014)
Vorkommen von Zwangsmaßnahmen
• Erhebliche Differenzen in der Prävalenz von ZM zwischen verschiedenen
Kliniken, Regionen und Ländern von 1,9 – 13,5 % aller behandelten Patienten
(Martin et al., 2007; Steinert et al., 2010; Ketelsen et al., 2011)
− Klinikkultur, Stationskultur?
• Wahrnehmung betroffener Patienten: oft zu früh durchgeführt (Haglund et al.,
2003; Naber et al., 1996)
Mildere Maßnahmen
Primäre
Prävention
• Im Vorfeld (bspw. Stationsangebote,
Regeln, Risikoerfassung)
Sekundäre
Prävention
• In akuter Situation (bspw.
Deeskalation)
Tertiäre
Prävention
• Im Anschluss (bspw.
Nachbesprechung, Krisenpläne)
Ketelsen, Schulz und Zechert, 2004
Was sind andere zumutbare Maßnahmen?
•
•
•
•
•
•
•
•
•
•
Regeln erklären
Beruhigen
Interesse signalisieren
Gesprächsangebot
„Auszeit“ anbieten
Tätigkeit anbieten
Sedierung anbieten
Empathisches Einfühlen
Bedürfnisse berücksichtigen
Essen/Trinken/Rauchen
• Patientenautonomie
tolerieren
• Aktivität/Bewegung anbieten
• Entspannung anbieten (Bad)
• Kontakt zu Vertrauensperson
• Gefühle zurückmelden
• Überzeugungsversuch zur
Einnahme von Medikamenten
Anderl-Doliwa B, Breitmaier J, Elsner S et al. Leitlinien für den Umgang mit Zwangsmaßnahmen. Psych Pflege 2005; 11: 100–102.
Welche dieser Maßnahmen werden in Deutschland genutzt?
Psychiater (n=343)
Von
Zwangsmaßnahmen
betroffene
Patienten mit
(n=83)
Antworten von Psychiatern:
Anwendung zumutbarer Maßnahmen
Interesse signalisieren
Empathisches Einfühlen
Vorgehen erläutern
Überzeugungsversuch
Regeln erläutern
Toleranz für Patientenautonomie
Alternative Maßnahmen
Beruhigung
Essen/Trinken/Rauchen
Bedürfnisse erfüllen
Sedierung anbieten
Gefühle zurückmelden
Gespräche anbieten
Auszeit anbieten
Selbstberuhigung (Arzt)
Bewegung anbieten
Kollegen einschalten
Tätigkeit anbieten
Entspannung (Bad) anbieten
1
1,5
2
2,5
3
3,5
4
Häufigkeit der Anwendung von 1 (fast nie) bis 5 (fast immer)
4,5
5
Teichert, M., Schäfer, I. & Lincoln, T.M. (in press). Where there’s a Will, there’s a Way?. A nationwide Online-Survey of Psychiatrists about the Use of Alternatives to Coercive Measures.
Psychiatrische Praxis. DOI: 10.1055/s-0034-1387431
Antworten von Psychiatern:
Gründe, weshalb Maßnahmen „nicht funktionieren“
Stress, hohe Arbeitsbelastung
Strukturell
Unklarheit über Vorgehen
Anweisung von oben
Fehlen von adäquater Vorbereitung
Keine Unterstützung von Mitarbeitern
Individuell
Keine Erfahrung in Deeskalation
Angst vor rechtlichen Konsequenzen
Unsicherheit im Umgang mit Patienten
Angst Fürsorgepflicht zu verletzen
Suizidalität, affektive Labilität
Niedrige Frustrationstoleranz
Patientenbezogen
Gründe für dsa Scheitern von Alternativen
Fehlen von Deeskalationsschulung
Schweregrad der Psychopathologie
Erregung, Agitation
Wahn, Verfolgungsideen
Mangelnde Einsichtsfähigkeit
Feindseligkeit, Aggression
1
1,5
2
2,5
3
3,5
Grad der Zustimmung (1-5)
4
4,5
5
Antworten von Betroffen: Häufigkeit zumutbarer Maßnahmen
Zeit lassen
Gespräch mit Patientenvertreter
Bedürfnisse berücksichtigen
1:1-Betreung
Shared Decision
Info über Behandlungsmöglichkeiten
Alternative Maßnahmen
Frei bewegen (offene Türen)
Auf Erleben & Ängste eingehen
Information über Rechtslage
Entspannung/Warmes Bad
Gespräch mit vertrautem Behandler
Gespräch mit Freunden/Angehörigen
Gespräch mit anderem Behandler
Rückzugsmöglichkeit
Beruhigen
Grenzsetzung
Essen/Trinken/Zigarette
Bewegung anbieten
Tätigkeit anbieten
Sedierung anbieten
Überzeugungsversuch
0
20
40
60
Relative Häufigkeit in % (N=83)
80
100
Heumann, K., Bock, T. & Lincoln, T.M. Please do SOMETHING! A nationwide online survey of mental health service users about the use of alternatives to coercive measures .
In press
Antworten von Betroffen: (potentiell) hilfreiche zumutbare Maßnahmen
Auf Erleben & Ängste eingehen
Bewegung anbieten
Gespräch mit vertrautem Behandler
Bedürfnisse berücksichtigen
Shared Decision
Frei bewegen (offene Türen)
Zeit lassen
Mildere Maßnahmen
Gespräch mit Patientenvertreter
Gespräch mit Freunden/Angehörigen
Essen/Trinken/Zigarette
Information über Rechtslage
Rückzugsmöglichkeit
Beruhigen
Info über Behandlungsmöglichkeiten
Gespräch mit anderem Behandler
Grenzsetzung
1:1-Betreung
Tätigkeit anbieten
Entspannung/Warmes Bad
Sedierung anbieten
Überzeugungsversuch
0
1
2
Einschätzung der Wirksamkeit von 0 (schädlich) bis 3 (hilfreich)
3
Antworten von Betroffenen: Gründe, weshalb Maßnahmen „nicht
funktionieren“
unruhige Atmosphäre
verständnislos
zu wenig Zeit
erregt, unruhig
unklare Regeln
gestresst
zu wenig Platz
zu wenig Mitarbeiter
misstrauisch, ängstlich
inkompetent
unklarer Behandlungsplan
ungeduldig
unsicher, überfordert
aggressiv, impulsiv
zurückgezogen, verletzlich
schlechte Zusammenarbeit
besorgt um rechtliche Konsequenzen
selbstgefährdend
unklar, ohne klare Haltung
ängstlich
fremdgefährdend
0
0,5
1
1,5
2
2,5
Mittelwert & Standardfehler
3
3,5
4
4,5
5
Fazit
•
Nicht alle möglichen Alternativen werden erschöpfend eingesetzt
– Gegenwärtige Praxis ≠ Forderungen des § 1906 BGB
•
Betroffene Patienten schätzten viele und verschiedene Maßnahmen als potentiell hilfreich
ein – insbesondere im Vergleich zu den befragten Ärzten
•
Positivere Einstellung zur Wirksamkeit von Alternativen sind mit deren vermehrten Einsatz
assoziiert  Trainings und Schulungen, Forschung
 Um Zwang zu vermeiden, sollte ein breites Spektrum an Maßnahmen angeboten werden
 Verbesserung der Praxis auf verschiedenen Ebenen: individuell, strukturell, juristisch
 Politische & Fachliche Diskussion weiterführen
Herzlichen Dank für Ihre
Aufmerksamkeit
Kontakt:
[email protected]