I 7 - All You Need Is Love

I 7 - All You Need Is LOVE. > Uncool sein.
Nur Menschen, die keine Ahnung von der Natur des Theaters haben, machen bei der Arbeit im höchst
persönlichen (nicht privaten!) Medium der Darstellenden Kunst einen Unterschied zwischen Mensch
und Kunst-Handwerker. Und das hieße, die Kunst selber verleugnen. Wo Handwerk ist, ist keine
Kunst. Sondern eine Töpferwarenfabrik.
Jeder hat selbstverständlich das Recht auf seine Arbeitsweise und jeder Darsteller hat seine eigene
„Methode“, ob erfolgreich oder nicht. Viele können allerdings nicht begreifen, dass nicht alle Welt so
denkt, handelt und arbeitet wie sie selbst, einfach, weil doch ihre eigene Methode so toll „funktioniert“.
Warum sollte das bei anderen nicht zu den gleichen Resultaten führen? Die Antwort ist müßig.
„Warum machen es nicht alle wie ich?“ Die Frage spiegelt den Grundirrtum, der allen echten
Konflikten zugrunde liegt.
Jemand geht uns gegen den Strich oder vertritt eine andere Meinung. Daraus folgt: wir können
denjenigen/diejenige nicht leiden, fühlen uns hinterfragt, unsicher, angegriffen, sind zu feige, das unter
Leuten zuzugeben und diffamieren sie/ihn also auf beruflichem Gebiet. Konflikte liegen immer tiefer
als die geäußerten Argumente es den Außenstehenden weismachen wollen.
Jedem Konflikt liegt eine Verunsicherung zugrunde. Eine Uneinsichtigkeit und Blindheit. Wo genau
sitzen sie? Sie sind der Anfang, wir müssen sie im Spiel berücksichtigen und ausbauen. Alles was
danach (im Drama) passiert, ist Konsequenz dieser Verunsicherung, der Hilflosigkeit, der
Ungewissheit.Uncoolness ist es, was uns als Zuschauer an einer Darstellung fesselt und der
Schlüssel zur fruchtbaren Auseinandersetzung mit dramatischen Figuren ist.
Gefühle sind unser Sensorium, mit dem wir feststellen können, wo sich die echten Konflikte abspielen,
nämlich immer im individuell emotionalen Bereich einer Figur. Danach erst werden für Abneigungen
und Vorlieben intellektuelle Begründungen gestrickt, die der Welt plausibel gemacht werden soll.
Damit werden Parteien gebildet und unsere Meinung kann verteidigt, verbreitet werden. Wir wollen
keinesfalls eine Veränderung zulassen müssen, das würde eventuell bedeuten, den Titel eines
Verlierers abzubekommen. Wer sich verändert, verliert. Das ist der Irrtum. Und um stattfindende
Umwälzungen, Veränderungen der Welt geht es in jedem Drama.
Natürlich halten wir das, was wir denken für, „objektiv richtig“- überlegt, also vernünftig, in Wirklichkeit
sind sie aber vollkommen subjektiv und gefärbt von unseren Emotionen. Und für das Theater ist das
die Chance, die Wahrheit ans Licht zu bringen, die immer hinter den Fakten liegt.
Immer schön ehrlich sein. Auch wenn wahre Authentizität auf der Bühne immer eine Behauptung
bleiben muss. Auf der Bühne kann sich NIEMAND verstecken. Sie ist da, um Dinge sichtbar zu
machen. Und Etikette oder feines Benehmen sind hier vollkommen fehl am Platz. Es geht um
Wichtigeres. Nicht einschüchtern lassen. Lachen von Kollegen oder im Publikum kann auch eine
Schutzreaktion sein. Viele Leute zeigen ihre Unsicherheit gegenüber Ehrlichkeit auf der Bühne durch
Lachen, ständiges Kichern oder betont lautstarkes Gelächter. Sie sind dann meist schlicht überfordert,
weil sie es gewohnt sind, selber ständig maskiert zu sein.
Wir tun meistens so, als hätten wir bei den Konflikten, die wir erleben, keine Wahl und sie würden uns
aufgedrängt. Ich aber glaube, wir suchen sie uns ganz bewusst aus und verdrängen es, bemerken
das nicht oder zu spät. Danach bauen wir uns eine Philosophie drum herum, die uns in die Position
setzt, die uns nach der Nase steht. Anstatt zuzugeben, dass unsere Emotionen uns wieder kurz
besiegt haben. Weil sie uns in eine Situation gebracht haben, in der wir uns mit einer Seite von uns
beschäftigen müssen, die wir vielleicht noch nicht in unsere Persönlichkeit integriert haben.
Welche Konflikte, Krisen wir durchleben, sagt also oft viel über uns selbst und unser Seelenleben aus.
Diesen psychologischen Ansatz auf die Auseinandersetzung mit einer dramatischen Figur zu
übertragen, finde ich reizvoll.
Warum er/sie? Warum genau dieser Konflikt für diese Person?
Die gedankliche Kontrolle darüber zu behalten, was sich in uns und unserer Figur abspielt, ist
ebenfalls unsere Aufgabe.
Kollektive Konflikte:
Auch Politik ist nur ein Potpourri aus Partikularinteressen einzelner nach Machtstrebender Personen
des öffentlichen Lebens. Was als Konflikt zwischen Bevölkerungsgruppen daherkommt, bedeutet für
die Menschen innerhalb der Gruppe nie dasselbe. Nur Leute, die keine Meinung haben, kämpfen aus
den vollkommen gleichen Gründen für das Gleiche. Eine weitere Aufgabe für uns als Darsteller:
Wo ist das Besondere an unserer Figur? Worin unterscheidet sie sich? Das ist der Kern für den
Konflikt einer Figur.
Und jede Figur braucht einen Konflikt, sowohl mit sich selbst als auch mit ihrem
Umfeld, sonst ist sie nicht dramatisch. Beziehungsweise eine Kopfgeburt.
Diese Konflikte SIND das Drama, der Inhalt des Theaters, das im Laufe einer Vorstellung erst
auftaucht und dann bearbeitet, erlöst oder begraben wird. Nicht die „Geschichte“ oder ein „Plot“, die
sind nur ein Vehikel für den Konflikt. Der wiederum muss getragen und erfahrbar gemacht werden
durch unsere Darstellung, die expressive Übertragung unserer Gefühle und Zustände über das
Medium der Figur. Ohne sie gibt es kein Theater.
Diese Übertragung kann nur einen Funken entzünden, wenn wir zu zweihundert Prozent Energie
geben. Immer genügend kbps übertragen. Wir sind der Sendemast. Ganz oder gar nicht. „Ein
bisschen schwanger“ geht nicht. Beziehungsweise „fast mit dem Internet verbunden.“ Der Funke
braucht eine bedingungslose, blinde Liebe zur Figur, die wir darstellen. Das setzt die Fähigkeit voraus,
den Konflikt einer Figur, eines Menschen verstehen zu lernen und zu unserem eigenen zu machen,
um ihn würdig zu vertreten, und zu verteidigen! Keinesfalls dürfen wir ihn zur Diskussion stellen,
indem wir auf Distanz gehen! (Dafür gibt es das Kabarett oder Brecht.) Oder die Figur pauschal
aburteilenC
Wir müssen Freundschaft mit der Figur schließen oder am besten eine leidenschaftliche
Liebesbeziehung eingehen. Wir haben eigentlich keine andere Wahl. Ja, das geht auch bei den
Bösewichten und Schattenseiten. Da macht es ganz besonders Spaß.
Und bei uns selbst. Vielleicht starten wir nicht gleich mit einer amour fou, eventuell schließt man für
den Anfang Frieden mit sich und das Weitere ergibt sich.
Wer dazu nicht bereit ist, wird nur Handlung präsentieren und keine Erfahrungen, also Darstellungen.
Wir gehen dabei auf die Suche nach etwas, was wir zunächst vielleicht außerhalb unseres Selbst
vermuten, werden es dann aber in uns entdecken.
Zurück zum Thema: Jeder tut das, was er für richtig hält. Und jeder hält anderes für richtig. Manchmal
müssen die Ausführenden ihrer Absichten sich gegenseitig behindern, um an ihr Ziel zu gelangen.
Dann entstehen Konflikte, was allerdings nicht heißen muss, sie wären schlecht. Im Gegenteil: Sie
bringen einen Kampf in Gang. Theater ist Kampf. Wir haben uns nur angewöhnt, ihn unschicklich oder
böse zu finden, was Unsinn ist. Es gibt Konfrontationen einfach und wir sollten
sie nicht bewerten, sondern ihre Entstehung nachvollziehen lernen, um Auswege
oder mögliche Lösungen zu ersinnen.
Wir müssen uns im Klaren sein, dass wir, um einen dramatischen Konflikt zu nähren, also die
Entstehung von Theater zu ermöglichen, diese und andere „Tugenden“ ablegen müssen.
Theaterfiguren sind immer, in jedem Drama Prototypen für menschliche Verfehlungen und Laster. Und
unsere Pflicht ist es, sie zu lieben wie unsere Kinder und für sie zu kämpfen, auch wenn sie „objektiv“
betrachtet, angeblich „Arschlöcher“ sein sollten. Diese Totschlagargumente oder Schubladen können
wir beim Lästern über einen neu erkorenen Cliquenfeind gebrauchen. Im Kontext einer
Figurenanalyse sind sie weder hilfreich noch sinnvoll, weil sie vereinfachen, abkanzeln, verharmlosen,
verachten, arrogantes Desinteresse bedeuten, aber keine differenzierten Überlegungen ermöglichen.
Was zwischenmenschlich bereits unerträglich ist.
Mit Desinteresse an anderen Figuren und Menschen wird man vielleicht Politiker, aber kein Darsteller.
Nein! Nein! Nein!
All You Need Is LOVE. Und diese Liebe kann erst entstehen, wenn wir die Gefühle und
Gedankengänge der uns anvertrauten Figur verstehen lernen wollen. Es ist mit Menschen nicht
anders. Manche müssen sich dieses Interesse am Anderen erst antrainieren. Umso bedauerlicher.
Wenn wir endlich die beschissene Coolness bekämpfen, unsere eigenen Wertmaßstäbe und
Kategorien vergessen und Überlegungen darüber anstellen, wie es unserem „Kind“ oder „Freund“, der
Theaterfigur, gerade gehen könnte. Was er wohl fühlt, was seine Lebensumstände mit ihm anstellen.
Wir müssen leidenschaftlich Partei ergreifen für unsere Figur! Redeschwall gefällig? Bitteschön:
„Coolness ist der Feind der Menschheit. Sie ist schuld an ALLEM. Sie ist nicht intellektuell-analytische
Distanz, die ohnehin bei der Figurenarbeit nichts verloren hat, sondern die Verherrlichung von
emotionaler Eiseskälte. Sie verkauft (seelische) Grausamkeit und Dummheit als Humor. Sie will die
Vielfalt der Welt in wenige Kategorien pressen und vernichten. Sie feiert und kultiviert die Dummheit,
um den Massen noch mehr Blödsinn in den Medien präsentieren zu können, und wer dumm ist, kauft
alles, ohne es zu hinterfragen und setzt Medienpräsenz (Quantität) mit Massengeschmack mit
Vorbildern mit Mode mit Schönheit (Qualität) gleich. Sie behauptet eine selbst entworfene Form der
Perfektion und damit Unmenschlichkeit als erstrebenswerte Eigenschaft. Sie feiert die Brutalität.
Sie definiert auf perfideste Weise Glück über den materiellen Wohlstand und erhebt damit Maschinen
zu Herrschern über die Menschen. Sie ist bequem und hält uns untätig. Und damit ungefährlich.
Schluss damit. Wir müssen anfangen zu denken, zu REFLEKTIEREN! Gefährlich sein! Und den
Erzeugern der Instant-Gedanken ihre Scheiße in die gierige Fresse klatschen! Dank der Coolness
sind wir Sklaven einer Kaste von machtgierigen jugendlichen Idioten geworden, die uns auf VIVA
erzählen, was wir kaufen, hören, denken, anziehen, essen, schön finden, erotisch finden, sagen
sollen. Sie sind unsere Feinde. Sie meinen es NICHT gut mit uns. Sie wollen uns
unterdrücken. Uns zu übergewichtigen, cholesterinkranken, depressiven, schlecht
angezogenen, komplexgeplagten, sozial isolierten Konsumidioten umerziehen.
VIVA liebt dich NICHT!
Das atavistische Krankheitsbild Coolness ist ein Rückfall in die Zeit der Wolfsrudel, Bikini-Weibchen,
Goldketten-Männchen, Kotzen, Killen, Abkratzen. Sie feiert den Untergang der Zivilisation.
Wenn überhaupt, wäre Coolness nur dann Coolness, wenn sie aus der Individualität jeder Person, aus
eigenen Kategorien, aus der eigenen, bewussten und reflektierten Wahl der Dinge und Menschen
meines Lebens erwächst. Dann meinen wir aber eigentlich savoir vivre, Lifestyle, Stil. Sogar der
Begriff Coolness ist also überflüssig. Müll. Weg damit. Genauso wie der von den Hetz-Sendern
verbreiteter Verhaltenskodex, der uns zwingt, so zu tun, als würde uns nichts emotional etwas
anhaben können. Dank ihr sind wir fähig, uns gegenseitig in Massen zu ermorden, aber nicht mehr
fähig, Bedauern über unsere Degeneration zu empfinden und auch zu zeigen. Dagegen müssen wir
kämpfen, wenn die Welt nicht in naher Zukunft mit Pauken und Trompeten vor die Hunde gehen soll.“
Uncoolness ist der wahre Spaß! Was hier der Form wegen verbal geschehen muss, kann in Handlung
umgesetzt in einer Darstellung eine Entsprechung finden. Alle Argumente, alles was geschieht, wird
dabei genutzt, notfalls umgedeutet, und der eigenen Argumentation nutzbar gemacht. Die Wirklichkeit
wird ausgeblendet und nur die eigene Wahrnehmung zählt und gilt uns als real.
Vernunft und Coolness haben hier also verf* nochmal nichts verloren!
Nur Liebe macht blind.