Sänger, Schauspieler, Theaterleute. In der Weimarer Marie

D I E T O P - P F L EG E H E I M E E I N H A U S D E R M U S I K
Das Leben eine Bühne
A
uftritt Martha Böcking von
rechts. Leicht gebeugt bewegt
sich die alte Dame zum Flügel
und lehnt ihren Gehstock an
die Klaviatur. Frau Böcking ist nicht
mehr so gut zu Fuß. So wie das Gros
ihrer Mitsängerinnen und Mitsänger,
von denen die Mehrheit heute Morgen
mit Rollatoren und Rollstühlen zur Chorprobe angerückt ist. Drei Männer und
15 Frauen, die meisten gut in den 80ern.
Chorleiter Björn Werner hat sie sich
ein wenig warm singen lassen. „Abendstille“ erst und dann „Viva la Musica“
– den Kanon, der wie eine Überschrift
ist zu diesem Ort, an dem die Musik nie
aufhört. Schon seit 120 Jahren nicht.
Die Marie-Seebach-Stiftung im thüringischen Weimar ist ein einzigartiges
Haus. Seine Stifterin Marie Seebach,
zu ihrer Zeit berühmte und zu großem
Wohlstand gekommene Schauspielerin und Sängerin, gründete es 1895 als
Altersheim für „unschuldig in Not geratene Bühnenkünstler“. Seither beherbergt die Stiftung bevorzugt ältere
Menschen, die ihr Leben der Musik,
dem Theater und den schönen Küns88
Sängerin mit einer Mission
1895 gründete Marie Seebach ein
Altersheim für Bühnenkünstler
ten gewidmet haben. Sängerinnen und
Schauspieler, Theatermacher und Musikerinnen, Diven, Dirigenten und passionierte Kulturbürger.
Martha Böcking, die jetzt auf dem
Klavierhocker Platz genommen hat, arbeitete Jahrzehnte als Kantorin. Jetzt
ist sie 86, die Hände sind etwas zittrig
und der Kopf ein wenig zerstreut. Aber
sobald sie die ersten Töne auf dem Klavier anschlägt, scheint alle Gebrechlichkeit vergessen. Routiniert spielt sie
vom Blatt, die Augen auf die Noten
geheftet, der Rücken aufrecht. Björn
Werner steht am Flügel und dirigiert
den dreistimmigen Chor. „Singen Sie
mit freudiger Überraschung“, ermuntert
er die betagte Sängerschar. „Veronika,
der Lenz ist da“ – das geht auch noch
im Herbst des Lebens.
„Uns geht es um den Spaß am Musizieren“, sagt der Chorleiter, der an
der Hochschule für Musik in Weimar
Gesang studiert hat und in der MarieSeebach-Stiftung zwei Chöre betreut.
Björn Werner ist 37, er singt selbst erfolgreich in einem Renaissance-Ensemble und arbeitet mit Profis. Er könnte
FOCUS-SPEZIAL
Fotos: Sven Döring für FOCUS-Spezial
Sänger, Schauspieler, Theaterleute. In der Weimarer Marie-SeebachStiftung zelebrieren Routiniers des Rampenlichts ihren Lebensabend.
Zumeist untermalt von reichlich Kultur. Und im Bewusstsein, dass es
sich damit schöner alt werden lässt
„Ich habe
hier viele Abende
moderiert. Und
meine Texte
immer auswendig gelernt.
Das hält den
Kopf wach“
Die Sängerin und Schau­
spielerin Gitta Krohn lebt seit
29 Jahren im Haus der
Marie-Seebach-Stiftung
einen dezenten Dünkel gegenüber den
alten Herrschaften hegen, deren Stimmen und Stand doch merklich wackeliger sind. Aber er begegnet ihnen voller
Respekt. „Diese Menschen hier sind
gewohnt an Kunst und Kultur“, sagt
er. Sie seien offen für Neues, sogar für
moderne Musik.
In Weimar, diesem kulturbesessenen
Ort, gibt es auch davon reichlich – neben der erwartbaren Wucht der Klassik.
Stiftsgründerin Marie Seebach, so erzählt es die Haushistorie, habe diesen
Ort bewusst gewählt. Zu ihrer Zeit war
die Seebach ein Star. Tourneen führten sie bis nach Amerika. In Weimar
gastierte sie häufig am Hoftheater, als
Gretchen im „Faust“, als Schillers Luise
Miller, als Maria Stuart. Das Grundstück
für ihren Künstler-Altersruhesitz bekam
die Mimin von Großherzog Carl Alexander geschenkt, zwei Jahre vor ihrem Tod
wurde das Gründungshaus der MarieSeebach-Stiftung eingeweiht.
„Uns geht es
um den Spaß am
Musizieren“
Der hauseigene Chor trifft sich jeden
Montag zur Probe unter der Leitung
von Björn Werner (u.). Die ehemalige Kantorin
Martha Böcking begleitet am Klavier (o.)
„Hier lässt es sich kultiviert leben“,
sagt Gitta Krohn. Und wer wüsste das
besser als sie? Frau Krohn wohnt seit
29 Jahren im Marie-Seebach-Haus –
und ist, nicht weniger unglaublich,
wenn man sie so sieht, 97 Jahre alt.
Bis vor Kurzem hatte sie ein Theaterund ein Konzertabonnement für die
beiden großen Häuser in Weimar. Nun
machen die Beine nicht mehr mit, nun
benötigt auch Frau Krohn ein bisschen
mehr Pflege und einen Rollator, den sie
augenzwinkernd „mein Auto“ nennt.
Die alte Diva hat noch immer ein Gespür für Pointen und Posen. Viele Jahre
hat die ausgebildete Opernsängerin auf
der Bühne gestanden, als schöne Helena in Dresden und später in unzähligen Theaterrollen an verschiedenen
ostdeutschen Häusern. Das mag ein
Weilchen her sein, aber die große Geste
des Rampenlicht-Routiniers hat Gitta
Krohn immer noch drauf. „Was will man
machen?“, sagt sie lachend und rollt
Fotos: Sven Döring für FOCUS-Spezial
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die Augen. „Es wird ja hoffentlich nicht
mehr so lange dauern.“ Madame hat ein
wenig Make-up aufgelegt, die Nägel
sind dezent lackiert, die Haare hübsch
gelegt. Für das Foto wirft sie sich gern
noch einmal in Positur. „Moment, habe
ich nicht einen Spiegel?“, sagt sie und
wühlt in ihrem Rollatorkörbchen. Keiner
da. „Das ist aber leichtsinnig“, murmelt
sie. Nein, auch den kultivierten Umgang mit sich selbst hat sie keinen Tag
vernachlässigt.
Vielleicht bleibt ein Leben mit und für
die Kultur länger schön. Altersforscher
berichten, dass kulturell interessierte
und aktive Menschen langsamer altern. Sie fallen auch später der Demenz
anheim. Im Haus der Marie-SeebachStiftung – wo der Anteil der Demenzkranken annähernd so hoch ist wie in
jedem anderen – finden fast täglich kulturelle Veranstaltungen und erlesene
Konzerte statt. Der hauseigene Konzertsaal beherbergt einen Steinway-Flügel
und 200 Sitzplätze, externe Gäste sind
gern und häufig gesehen. Das Kulturprogramm ist anspruchsvoll. Fast jede
Woche konzertieren Studenten der Weimarer Musikhochschule. Oft kurz vor
ihren Bachelor-Konzerten, um sich das
Lampenfieber im Auditorium der Alten etwas abzutrainieren. Dabei sind
die durchaus nicht unkritisch. Ob Profi
oder Passionist – die meisten von ihnen
haben zeitlebens Theater- und Orchesterabonnements besessen und ein geschultes Ohr. Auch wenn hinter manchem inzwischen ein Hörgerät klemmt.
„Wir sprechen neben den ehemaligen
Bühnenangehörigen ganz bewusst die
Kulturbürger an“, beschreibt es Günter
Moderegger, Vorstand der Marie-Seebach-Stiftung. Moderegger ist Opernsänger, gerade hat er seinen Abschied
am Deutschen Nationaltheater in Weimar gefeiert, wo er 28 Jahre lang auf
der Bühne stand. Der 65-Jährige leitet
die Stiftung seit 15 Jahren und fühlt sich
einem großen Erbe verpflichtet. Hatte
doch einer seiner Vorgänger die Institution mehr als ein halbes Jahrhundert
lang durch die Unwägbarkeiten schwieriger Zeiten navigiert, von 1919 bis 1971.
Den Nazis gefiel die Idee, vormalige
Bühnen-Heroen zu unterstützen (ArierNachweis vorausgesetzt), Hermann Göring machte sich persönlich dafür stark.
Zu DDR-Zeiten wollte man die Stiftung
FOCUS-SPEZIAL
„Wo habe ich denn meinen
Spiegel?“ Stiftsdame Gitta
Krohn achtet auch mit 97
auf eine gepflegte Erscheinung
„Nur weil
man alt ist,
muss man
das Schöne
nicht verbannen“
kassieren, weil sie den Ruch des Elitären hatte. Auch nach der Wende gab es
Begehrlichkeiten und die Frage, ob eine
Schließung nicht schlauer wäre. Erst mit
der Einführung der Pflegeversicherung
änderten sich die Existenzvoraussetzungen. Und auch die Klientel: Heute sind
nur ein Viertel der gut 100 Bewohner
ehemalige Bühnenkünstler. Unter den
Stiftsdamen und -herren, wie man sie
hier nennt, überwiegen die Akademiker und unter diesen die Pädagogen.
Ehemalige Bühnenprofis werden auf
der Warteliste jedoch grundsätzlich bevorzugt. Viele melden sich lange vor
ihrem Ruhestand an und kommen von
weit her.
„Nur weil man alt ist, muss man das
Schöne nicht verbannen“, sagt der
91
„Er hat mich
angelächelt beim
Konzert. Und ich
habe zurückgelächelt“
Die Musikerin Brigitte Kücken
lernte ihren Mitspieler Gerhard Kurze
bei einem Hauskonzert kennen.
Seit 13 Jahren musizieren die beiden
nun gemeinsam
Fotos: Sven Döring für FOCUS-Spezial
junge Einrichtungsleiter Alexander
Hoffmeister. Der 38-Jährige sitzt an einem antiken Sekretär in seinem kleinen
Büro, das nur durch eine große Glaswand von der Eingangslobby getrennt
ist. Ein Teil des Mobiliars stammt noch
von der Gründerin, gerahmte Besetzungslisten an den Wänden erzählen
von ihren Erfolgen. „Licht, Liebe, Leben“ wolle man in diesem Haus leben,
scheut Hoffmeister nicht die großen
Worte des Dichters und Denkers Johann
Gottfried Herder, der in Weimar begraben ist. Kürzlich hat Hoffmeister seinen
Plattenspieler von zu Hause mitgebracht
und im Empfangsbereich aufgestellt,
damit jeder seine alten Vinylscheiben
auflegen kann. In der Ecke seines Büros steht eine Gitarre, manchmal musiziert er nach Dienstschluss mit dem
Chorleiter. Einfach so. „Musik hat viel
mit Würde und Selbstwert zu tun“, sagt
Hoffmeister. Und dass es wichtig sei,
das Schöngeistige im Alltag zu haben.
Hoffmeister kommt aus der Altenpflege, er war lange Pflegedienstleiter.
Er weiß, dass Musik manches überdauert, was das Alter nimmt. Dass altersverwirrte Menschen, selbst wenn sie
kaum mehr klar sprechen, oft noch gut
aus der Erinnerung singen können. Und
dies auch gern tun: Schlager aus ihrer
Jugend, Volkslieder, Filmmusik. Eine
Musiktherapeutin kommt regelmäßig
ins Haus, Samstagmorgen gibt es ein
Frühstück mit Gesang und immer dienstags einen Chor für Demenzkranke. Auf
jeder Etage läuft ein Radioprogramm,
auf das man sich mit den Bewohnern
geeinigt hat, und an vielen Tagen klingen die Töne der probenden Musikstudenten durch das Foyer. „So wie wir das
machen“, meint Hoffmeister, „gibt es
das kein zweites Mal in Deutschland.“
Im Konzertsaal verklingen die letzten
Töne eines Nachmittagskonzerts. Fünf
Studenten der Flötenklasse der Musikhochschule haben eine Kostprobe
ihres Könnens gegeben. Gerhard Kurze
ist immer noch ganz beseelt.„Das war
ein außergewöhnlich schönes Konzert“,
sagt er. „Es war eine große Freude.“
Der 69-Jährige findet hier vieles, das
ihm Freude bereitet. Sehr oft hat es mit
Musik zu tun. Dabei hat es das Leben
nicht immer gut mit ihm gemeint. Vor 15
Jahren schoss ein schwerer Autounfall
den promovierten Wirtschaftsjuristen
FOCUS-SPEZIAL
Auftritt der Flötenklasse:
Studierende der Weimarer FranzLiszt-Musikhochschule konzer­
tieren im hauseigenen Saal
„Musik hat
viel mit Würde
zu tun.
Sie über­dauert
manches,
was das Alter
nimmt“
aus der Normalität, lange lag Gerhard
Kurze im Koma. Als er aufwachte, hatte
er den Großteil seines Lebens vergessen
– auch die Art, wie man ein eigenständiges führt. Er kam als Pflegefall ins
Marie-Seebach-Haus.
An einem Abend lauschte der Neuankömmling dem Flötenkonzert der Hausbewohnerin Brigitte Kücken im Konzertsaal. Wenn die zartgliedrige 93-jährige
Musikerin heute davon erzählt, funkeln
ihre Augen fast schelmisch. „Herr Kurze
saß in der ersten Reihe und hat mich
die ganze Zeit angelächelt“, sagt sie.
Die Flötistin lächelte zurück. So begann
eine von der Musik getragene Freundschaft. Brigitte Kücken ermunterte den
24 Jahre jüngeren Herrn, gemeinsam
zu musizieren.
Anfangs hielt Gerhard Kurze nicht
mehr als fünf Minuten auf der Querflöte
durch. Unendlich viel Geduld habe es
gebraucht, sagt Frau Kücken, die im
Gründungshaus eine schmucke Wohnung mit Service hat. „Sie war eine hervorragende Lehrerin“, setzt Herr Kurze
ein weiteres verzücktes Adjektiv hinzu,
er hat davon so viele. Brigitte Kücken,
die 40 Jahre Flöte und Geige unterrichtet
hat und im Haus ein kleines HausmusikEnsemble betreut, übte täglich mit dem
Amateur. „Es war wie eine Musiktherapie“, sagt sie. Heute geben die beiden
einstündige Konzerte. „Es ist“, sagt Frau
Kücken und lächelt ihren Mitspieler an,
„fast ein Wunder.“

BARBARA ESSER 93