HEIMATGEFÜHLE Als ich fünfzehn, vielleicht sechzehn Jahre alt war, schrieb ich auf kleinen Zetteln Zitate auf, die dann die Wand in meinem Zimmer in Hoffenheim schmückten. Fast alle Zettel auf der Wand beschäftigten sich mit dem Verlust. Dem Verlust von Geborgenheit, Heimat, Vergangenheit. Von dem was hätte sein können. Meine Eltern sprachen damals von ihrem Leben in Deutschland als „Leben im Exil“. Ich erinnere mich an die Zeilen von Jean Amery, dem österreichischen Schriftsteller und Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus: „Wer das Exil kennt, hat manche Lebensantwort erlernt, und noch mehr Lebensfragen. Zu den Antworten gehört die zunächst triviale Erkenntnis, dass es keine Rückkehr gibt, weil niemals der Wiedereintritt in einen Raum auch ein Wiedergewinn der verlorenen Zeit ist.“ Am 18. September 1980 landete eine Maschine der Lufthansa in Frankfurt. An Bord meine Mutter und ich.Wir wussten nicht, dass es die letzte Maschine war, bevor der Flughafen Teheran geschlossen wurde. Stunden später griff Saddam Hussein Iran an, auch der Flughafen der Hauptstadt wurde bombardiert. Die neue Regierung in Iran untersagte kurze Zeit später allen Bürgern, ins Ausland zu reisen. Mein Vater war bereits hier. Ihm war gedroht worden, dass man ihn vor ein Revolutionsgericht bringen und verurteilen würde. In Iran wurden damals vermeintliche Revolutionsverräter, angebliche Gegner des neuen Regimes hingerichtet. Zu tausenden hingerichtet. Wie wenig wissen wir darüber hier. In seiner Tasche hatte mein Vater unsere Tickets für einen Weiterflug in die USA. Die letzten Monate in Teheran müssen für meine Eltern traumatisierend gewesen sein. Jedenfalls erlebe ich sie noch heute verstört, wenn sie von den Rissen in ihrer eigenen Familie erzählen. Da sprachen Väter nicht mehr mit ihren Söhnen. Großmütter nicht mehr mit ihren Enkeln. Meine Eltern erzählten von Revolutionären mit Waffen. Von einem Marsch für Frauenrechte, auf dem meine Mutter bedroht, als Prostituierte beschimpft worden war. Von der Auflösung der Deutschen Schule Teheran, die ich kurz besucht hatte. Von der Flucht von Freunden in einem Bus über Pakistan, von der plötzlichen Ausreise deutscher und amerikanischer Freunde aus ihrem Land. Wer hätte damals gedacht, dass die Großfamilie bald in aller Welt verstreut sein würde: London, Paris, Oklahoma, Toronto, Calgary, Charlotte, Los Angeles, New York, und: Hoffenheim. Die deutschen Freunde und Kollegen in Teheran waren es, die meinen Vater wohl dazu bewegt hatten, von der Millionenstadt Teheran in ein kleines Dorf nach Süddeutschland zu ziehen – damit er zumindest in ihrer Nähe sein konnte. Das Ticket für den Weiterflug in die USA verfiel, meine Mutter wollte nicht auch noch durch einen ganzen Ozean von ihrer Heimat getrennt sein. Überhaupt war das alles, war Deutschland ja ein Provisorium, sagten sie. An der Wohnzimmerwand hingen Bilder der Heimat. Das biedere deutsche Sofa schmückten bunte persische Teppiche. Im Dorf waren wir die Exoten aus Persien, die zur Verwunderung aller Hoffenheimer ebenfalls Geranien an ihrem Balkon anbrachten. Meine Mutter lernte Deutsch mit Friedlinde und Günther, den Nachbarn. Den regionalen Zungenschlag lernte sie nie, und verstand ihn auch nie. Im Supermarkt gab es nur selten Honigmelonen, Basmatireis oder gute Gewürze. Im türkischen Laden fand meine Mutter ganz beglückt eingelegte Weinblätter für meine Leibspeise. Ich wurde drei Tage nach unserer Ankunft eingeschult, irrtümlich ein Jahr zu früh. Als der Rektor meinen Vater fragte, ob ich denn Deutsch könne, forderte mich mein Vater spontan auf, zu singen. Von der Deutschen Schule Teheran kannte ich ein paar Kinderlieder – aber ich wusste nicht, was ich da sang. Meine Lehrer meinten später, ich hätte in wenigen Wochen Deutsch gelernt. Zuhause wurde persisch gesprochen. Ich kämpfte mich durch persische Lehrbücher aus der Islamischen Republik. Darin Geschichten von Märtyrern des Iran-Irak-Kriegs, palästinensischen Selbstmordattentätern, die als Helden dargestellt wurden, und von schiitischen Heiligen. Einen Tag nach unserer Ankunft in Deutschland hatte Saddam Hussein begonnen, den Iran anzugreifen. Später auch mit Chemikalien, die Deutschland an den Irak verkauft hatte. Eine Telefonverbindung nach Teheran war mühsam und teuer, die Telefonate meiner Eltern mit der Familie waren hastig, abgehackt, eine Flut von Fragen, Tränen, Sorgen blieb zurück. Jeder Luftpostbrief aus der Heimat war ein Ereignis, und wurde mindestens zehn Mal gelesen. Fünf Jahre später hatten meine Eltern das Gefühl, dass das Exil doch nicht das kurze Provisorium werden würde, das sie sich erhofft hatten. Und dass Deutschland vielleicht doch nicht die beste Wahl war für die Verlängerung ihres Exils. Alle unsere Verwandten emigrierten damals in die USA. Jene, die schon dort waren, hatten eigene Geschäfte und Eigentum. Sie wurden dort auch nicht ständig gefragt, wann sie denn in ihre Heimat zurückkehren würden. Wir trafen eine Entscheidung. Saßen auf gepackten Koffern. Bis ein Unglück in der Familie unsere weitere Wanderung nach Amerika stoppte. Also doch Deutschland. Und dieser verdammte Iran-Irak-Krieg wollte nicht aufhören. Ich hatte es gerade noch aufs Gymnasium geschafft, aber meine Lehrer blieben skeptisch. Mein Deutschlehrer attestierte mir, eigentlich kein Deutsch zu können. Und dann machte es Klick in mir. Dem zeige ich´s, sagte ich mir. Deutsche Literatur, deutsche Geschichte, und das Grundgesetz – das Wenige in meinem Leben, über das ich, als Teenager, Kontrolle zu haben schien. Schnell lernte ich, dass ich anders bin. Mit meinem iranischen Pass konnte ich am Schüleraustausch mit Frankreich nicht teilnehmen. Aus Sorge, ich würde bald einen deutschen Freund haben, erlaubten mir meine Eltern auch nicht, mit den Klassenkameraden ins Skilandheim zu fahren. Am 21. März, dem Tag an dem in Iran der Frühling und das neue Jahr anfängt, durfte ich zuhause bleiben, und einen Tag später kam ich ganz neu eingekleidet und viel zu schick zur Schule. In meiner Schulakte hatte mein Vater damals das Kästchen Religion nicht ausgefüllt. Aber schnell wurde ich zur „Islamerklärerin“ an der Schule. Ich brachte Gebetsutensilien mit, einen Stein mit Erde aus Mekka, einen Blümchen-Tschador und einen Rosenkranz, alles gehüllt in einen Gebetsteppich. Schnell lernte ich von einigen meiner Mitschüler, dass die in meinem Land alle Terroristen waren, ungebildet, schmutzig, dass sie auf Kamelen ritten. Neue Nachbarn kamen. Hoffenheim wurde bunter. Meine Eltern verbrachten viel Zeit bei einem Äthiopier und seiner Frau aus Eritrea. Auswanderer erzählen sich immerzu die Geschichte ihrer Flucht, und analysieren immer wieder das Gleiche: wie es dazu kommen konnte. Mit dem Paar aus Ostafrika verband uns Weltpolitik, persische und äthiopische Küche, die gehässigen Deutschen und die warmen Deutschen, und der mühsame, banale Alltag der Integration. Das Paar aus Ostafrika brachte drei Söhne zur Welt. Sie hatten es ungleich schwerer auf meiner Grundschule als ich damals. Sie waren schwarz, sie waren männlich – und sie wurden von den Lehrern auf die Hauptschule empfohlen. Weil die Eltern damit nicht einverstanden waren, verließen sie Hoffenheim, zogen nach Nordrhein-Westfalen, fingen von vorne an. Wenig später fielen die Brüder mit guten Noten auf, zwei von ihnen haben jetzt das Abitur. Meine erste Heimat wurde die deutsche Sprache. Über acht Jahre gab ich Deutsch-Nachhilfe, meistens für Kinder aus zugewanderten Familien. Ich sah, wie der Kampf der drei Nachbarskinder mit der deutschen Schule, die erste Ablehnung, der späte Erfolg, sich bei anderen Kindern wiederholte. Erst nach meinem Abitur fiel meinen Eltern auf, dass sie nicht länger im Provisorium leben konnten. Dass sie eine Entscheidung treffen mussten. Auch eine innere Entscheidung: für Deutschland. Und wohl auch deshalb beantragten wir die deutsche Staatsbürgerschaft erst so spät. Der Prozess war kompliziert, dauerte Jahre. Denn aus der iranischen Staatsbürgerschaft konnten wir nicht heraus. Unsere Verwandten in den USA waren schon lange amerikanische Staatsbürger geworden, reisten aber ab und zu mit ihrem iranischen Pass nach Iran. Ebenso die Tante in London, die Kusine in Paris, der Cousin in Toronto. Warum müssen wir uns für das eine, und gegen das andere entscheiden, fragten wir das Landratsamt Heidelberg. Meine Eltern reisten nur noch selten in den Iran, waren weniger physisch als emotional mit der Heimat verbunden. Über das Trauma, über die Vergangenheit. In mancher Hinsicht waren sie deutscher als deutsch geworden. Als wir - erst - vor zehn, fünfzehn Jahren endlich deutsche Pässe bekamen, empfanden wir das wie eine verspätete Ankunft im Hier und Jetzt. Meine Familie war schon immer politisch, verfolgte schon immer rege, was in der deutschen Öffentlichkeit passiert, wie die deutschen Medien berichten. Aber als sie an Landtags- und Bundestagswahlen teilnahmen, da fühlten sie sich nicht mehr als Beobachter, eher als Gestalter. Ich erinnere mich, wie meine Mutter mit - ja mit Stolz – von ihrer Einbürgerung erzählte. Eine schlichte Urkundenübergabe, ein paar Fragen zum Grundgesetz, zur Geschichte – sie sagte sie hätte noch viel mehr antworten können, „ich weiss doch so viel mehr als ich gefragt wurde“. Dass die Zeremonie ihr ja viel zu kurz gewesen sei. Der feierliche Moment fehlte ihr sichtlich. Im September werden es also 35 Jahre Deutschland. Und manchmal fühle ich mich immer noch als Beobachterin, die am Rande, oder die im unbequemen Dazwischen steht. Vielleicht deshalb wurde das Beobachten zu meinem Beruf. Vielleicht deshalb wurde ich eine - ständig grenzüberschreitendeBeobachterin - mit einem Leben jenseits nationaler Container-Kategorien. Manchmal fragte ich mich, wie ich mich hier finden soll, wenn die deutsche Selbstfindung so seltsam unausgesprochen, so kompliziert, so verdrängt zu sein scheint. Wenn die Deutschen sich in einen regionalen Provinzialismus flüchten, und mit einer vereinigenden Idee, einer gemeinsamen Erzählung hadern. Flüchtlingsschicksale, Heimatverlust, Kriegserfahrung und die Illusion der Sicherheit – all das prägt doch soviele deutsche Familien. Millionen Ostdeutsche verloren ihre Heimat, etwas ging jäh zu Ende für sie, wurde abgewickelt, und ich frage mich oft, ob dieser Verlust je genug in dieser Gesellschaft aufgearbeitet wurde. Es gab einmal einen Bundespräsidenten, der meinte, die Deutschen sollten ihre nationale Identität in der Verfassung suchen. Der Moment, wo diese Verfassung geschrieben und diskutiert wurde, die Entscheidung, die Arme damals füreinander auszubreiten – das ist mein Schlüsselmoment der eigenen Deutschwerdung - wenn man diesen Prozess so nennen mag. Entfremdung ist immer wieder da. Entfremdung von der deutschen Gesellschaft. Entfremdung, wie diese Gesellschaft über Thilo Sarrazins „Deutschland schafft sich ab“ debattiert. Entfremdung, als Redaktionskollegen mir nahelegten, nicht über die Sarrazin-Debatte zu berichten: Aufgrund meiner Herkunft fehle mir die Objektivität dafür. Lieber sollten das deutsche Journalisten machen. Entfremdung, wenn ich wieder von einem angezündeten Flüchtlingsheim höre. Wenn Menschen mit deutschen und russischen Flaggen „Ausländer raus“ rufen. Wenn ich hierzulande eine seltsam große, einfühlende Sympathie für Autokraten beobachte. Oder sehe, dass die deutsche Suche nach Identität und Verortung manchmal weg von Europa führt. Entfremdung, wenn ich beobachte, wie beliebt wieder festgezurrte Rollenidentitäten geworden sind: Volk, Nation, Abendland, moralische Überlegenheit. Und wie anstrengend viele neuerdings Pluralität finden. Entfremdung, wenn ich mir ausmale, wie der Sprengstoff des Nationalsozialistischen Untergrunds das Gesicht einer Iranerin entstellte. Entfremdung, wenn ich erfahre, dass die Zeugen des NSUUntersuchungsausschusses – die Eliten der Bundesrepublik Deutschland - kein einziges Mal den Satz „Ja, ich trage persönliche Verantwortung“ sagten. Entfremdung über lügende Verfassungsschützer und merkwürdige Ermittlungspannen. Entfremdung über deutsche Leitmedien, die von Griechen als „ein seltsames Volk“ sprechen. Oder von Politikern, die meinen, der Grieche habe „lange genug genervt“. Entfremdung und … vertraute Nähe. Nähe, wenn Bürger aus dem schleswig-holsteinischen Boostedt Flüchtlinge empfangen, aufnehmen, mitfühlen, weil deren Leid sie an das Flüchtlingstrauma ihrer Eltern nach dem Krieg erinnert. Nähe, wenn unsere alte Nachbarin, eine Schwäbin, damals in den Achtzigern den Spott ihrer Familie ertrug, um einer afrikanischen Familie zu helfen. Nähe, wenn ausgerechnet ein iranischer Schriftsteller im Bundestag über „65 Jahre Grundgesetz“ redet. Und ich sehe, wie meine Eltern die Rede verfolgen, und dabei Tränen fließen. Dass es möglich ist: Ein Migrant redet, zur deutschen Feierstunde, im Bundestag! Nähe, als meine Mutter und ich vor Jahren einmal aus einem Urlaub in Teheran zurückkehrten, aus dem iranischen Flugzeug stiegen (in dem wir zwangsverschleiert sein müssen), die Kopftücher schon auf dem Rollfeld in Frankfurt entfernten, und uns so köstlich frei fühlten, die Wucht der Erleichterung spürten, hier leben zu dürfen. Im Konflikt und Hadern mit der einen Welt fanden wir Linderung in der anderen Welt. Nähe, wenn ich Nachwuchsjournalisten darüber unterrichte, wie wir am besten berichten über Zuwanderer, Flüchtlinge, über die Fremden und das Fremde überhaupt. Und wie wir erkunden – radikal ehrlich uns selbst gegenüber erkunden - , welche Bilder und Urteile von den „anderen“ wir eigentlich im Kopf haben. Und wie sie sich in die ganz alltägliche Berichterstattung schleichen können. Nähe und Entfremdung nicht nur den Deutschen gegenüber. Auch den Zugewanderten gegenüber. Nähe, wenn ich in einer griechisch-türkisch-ägyptisch-kroatisch-palästinensisch-persischen Düsseldorfer Freundinnen-Runde sitze, und wir mit viel Humor das Deutschsein parodieren. Wenn wir dann über Deutschland meckern, dann nicht weil wir uns ausschließen wollen. Sondern weil das Land uns teuer ist. Entfremdung aber dann, wenn ich sehe, wie gleichgültig vielen Zugewanderten Deutschland ist. Ich meine hier nicht den traumatisierten Flüchtling, der in seiner Vergangenheit gefangen ist. Ich meine jene, die Möglichkeiten genug haben, sich mit Deutschland zu beschäftigen – die es aber vorziehen, auf Jahrzehnte in ihrer eigenen Blase zu leben. Im September dieses Jahres werden es 35 Jahre Deutschland. Das Gefühl der Heimatlosigkeit, des Abgeschnittenseins ist immer noch da. Aber es ist schwächer geworden. Irgendwann entdeckte ich andere Zeilen von Jean Amery, dem ausgewanderten österreichischen Schriftsteller. Er schrieb, dass er sich auch der Bereicherungen und Chancen, welche die Heimatlosigkeit ihm bot, wohl bewußt sei: „Die Öffnung auf die Welt hin, die die Emigration uns gab – ich weiß sie zu schätzen.“ Ich begreife: Mein ständiges Wechseln der Perspektive hat mir die Welt geöffnet, mich der Welt geöffnet. Ich lernte, dass ich Heimat in mir trage, und sie sogar überall mitnehmen kann, auf all meinen Reisen. Heimat ist mir eigentlich kein Ort mehr, keine Sehnsucht, ein wenig Gefühl, vor allem Verbundenheit. Heimat ist Verantwortung, genauso wie Freiheit Verantwortung ist. Heimat ist eine Aufforderung geworden, sie fordert von mir, täglich neu geschaffen und gestaltet zu werden. Und so breite ich meine Arme aus.
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