"Schmerzerkennung bei Demenz" Definition: Demenziell erkrankte Senioren empfinden Schmerzen mit der gleichen Intensität wie kognitiv nicht eingeschränkte Menschen. Dennoch erhalten Demenzpatienten in vielen Fällen keine ausreichende Analgetikaversorgung. Mehrere Faktoren sind dafür primär verantwortlich: Die hirnorganische Degeneration führt dazu, dass betroffene Senioren ein massives Unwohlsein spüren, dafür aber nicht den Schmerz als Auslöser identifizieren. Darüber hinaus führt eine fortschreitende Demenz zum Verlust der Sprachfähigkeit. Der Betroffene vergisst die Bedeutung des Begriffs "Schmerz". Er kann Pflegekräften nicht sinnvoll antworten, wenn ihn diese nach "Schmerzen" fragen. Es bleiben nur noch Gesten und Mimik, um auf die Beschwerden hinzuweisen. Nonverbale Kommunikation ist jedoch häufig zweideutig und niemals so präzise wie eine verbale Kommunikation. Schmerzen und Demenz teilen sich überdies ein ähnliches Symptombild, wie etwa Unruhe, Rückzug oder Aggressionen. Bezugspersonen ordnen solche Auffälligkeiten eher der Demenz zu und vermuten keine Schmerzen. Wenn Schmerzen nicht therapiert werden, können sie den kognitiven Zustand erheblich verschlechtern. Überdies kann es zu Depressionen und zu Schlafstörungen kommen. Es bildet sich ein Teufelskreis aus Demenz und unbehandelten Schmerzen, die wiederum die Demenz intensivieren. Die Demenz erschwert überdies nicht nur die Schmerztherapie. Auch die Erkennung und die Behandlung der auslösenden Grunderkrankung werden erheblich behindert. Ein demenziell erkrankter Bewohner kann sich ggf. nicht verständlich machen, wenn z.B. ein Zahn von Karies befallen ist oder wenn sich eine Harnwegsinfektion entwickelt. Ohne eine ärztliche Intervention jedoch schreiten solche Erkrankungen voran. Die Schmerzen intensivieren sich ebenfalls. Grundsätze Jeder Mensch, ob demenzkrank oder nicht, hat das Recht auf eine : angemessene Therapie seiner Schmerzen. Wenn der Schmerzstatus eines Bewohners unklar ist, sollte vom Arzt im Zweifel stets für eine Schmerztherapie entschieden werden. Wir vertrauen niemals blind auf Assessmentskalen. Diese können uns helfen, den Schmerzzustand des Bewohners strukturiert zu erfassen. Skalen vereinfachen jedoch eine komplexe Problematik auf wenige Kriterien. Es kann daher dazu kommen, dass ein Schmerzzustand unerkannt bleibt. Vor allem Senioren mit fortgeschrittener Demenz sowie mit umfangreichen Lähmungen zeigen selbst bei erheblichen Beschwerden nur wenige der dafür typischen Anzeichen. Wir vertrauen daher stets auf unser Bauchgefühl. Dazu zählt insbesondere die "unbestimmte Ahnung", dass mit einem dementen Bewohner "irgendetwas nicht stimmt". Wir arbeiten eng mit dem behandelnden Hausarzt zusammen. Dieser ist auf unsere Beobachtungen und auf unsere genaue Dokumentation angewiesen. Der Arzt sieht den Bewohner nur wenige Minuten pro Woche. Er kann überdies einen Demenzpatienten nicht zu seiner Schmerzbelastung befragen, wenn dieser seine Sprachfähigkeit verloren hat. Der Mediziner ist folglich nicht in der Lage, die Effektivität der von ihm verschriebenen Analgetika ohne unsere Hilfe einzuschätzen und ggf. anzupassen. Ziele: Wir erkennen es, wenn ein demenziell erkrankter Bewohner Schmerzen hat. Wir unterscheiden sicher zwischen den Symptomen der Demenz und den Verhaltensauffälligkeiten, die durch die Schmerzen ausgelöst werden. Gemeinsam mit dem Bewohner entwickeln wir eine nonverbale Form der Kommunikation. Es ist dem Bewohner möglich, uns trotz des Verlusts der Sprachfähigkeit den Ausgangpunkt von Schmerzen und deren Intensität mitzuteilen. Der Bewohner erhält eine angemessene Schmerztherapie. Vorbereitu ng: Möglichst noch vor Aufnahme der Pflege suchen wir den Kontakt zu den Angehörigen. Wir befragen diese, wie sich Schmerzen bei dem Bewohner bislang bemerkbar gemacht haben. Überdies bitten wir Freunde und Familienangehörige, sich bei uns zu melden, wenn sie das Gefühl haben, dass es dem Bewohner nicht gut geht. Sofern der Bewohner in der Vergangenheit ärztlich oder pflegerisch versorgt wurde, bitten wir um Informationsweitergabe. Oftmals kann man anhand früherer ärztlicher Anordnungen erkennen, dass der Bewohner ein potenzieller Schmerzpatient ist. Dieses insbesondere, wenn die Analgetikaversorgung über längere Zeiträume als Dauermedikation erfolgte. Bei einem solchen Patienten wurde später oftmals die Schmerzmittelversorgung eingestellt, weil dieser nicht mehr über Beschwerden klagte. Dieses lag ggf. aber nicht am Nachlassen der Schmerzen, sondern am Verlust der Sprachfähigkeiten. Wir versuchen auch zu klären, welche biografischen Prägungen ggf. Einfluss darauf nehmen, wie der Bewohner mit Schmerz umgeht. Viele Senioren wurden in ihrer Jugend dazu erzogen, "die Zähne zusammenzubeißen" und nicht über Schmerzen zu klagen. Diese Prinzipien können dazu führen, dass ein Bewohner seine Bezugspflegekraft nicht über seine Beschwerden informiert. Darüber hinaus werden solche Senioren versuchen, so normal wie möglich zu wirken. Bereits im Rahmen des Erstgesprächs verschaffen wir uns einen möglichst umfassenden Überblick über den Gesundheitszustand des Bewohners. Wir achten dabei auf Grunderkrankungen, die üblicherweise mit einer erheblichen Schmerzbelastung verbunden sind. Dazu zählen z.B. Leiden aus dem rheumatischen Formenkreis, Osteoporose, Tumorerkrankungen sowie Neuralgien. Bei diesen Patienten ist stets davon auszugehen, dass sie starke Schmerzen haben. Wir setzen das System der Bezugspflege um. Wenn der Bewohner von nur wenigen Pflegekräften versorgt wird, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Mitarbeitern Verhaltensänderungen als Folge von Schmerzen auffallen. Wir beachten dabei, dass sich ein verlässliches "Gespür" für die Schmerzbelastung dementer Bewohner i.d.R. erst nach vielen Berufsjahren einstellt. Die Nutzung von Fremdeinschätzungsskalen sollte erst erfolgen, nachdem dieses im Team geübt wurde. Ansonsten kann es durch Anwendungsfehler zu falschen Ergebnissen kommen. Der Gebrauch von Selbstauskunftsskalen hingegen ist erfahrungsgemäß deutlich weniger fehleranfällig. Durchführu Schmerzerfassung ng: Das verlässlichste Mittel zur Schmerzerfassung ist immer die Eigeneinschätzung durch den Bewohner selbst. Auch bei einer fortschreitenden demenziellen Erkrankung sollte so lange wie möglich der Pflegebedürftige zu etwaigen Beschwerden befragt werden. Dieses erfolgt mehrmals pro Schicht durch die Fragen "Haben Sie jetzt Schmerzen?", "Tut etwas weh?" o.Ä. Ggf. nutzen wir ein Symbolsystem, insbesondere ein "Schmerzlineal" oder eine "Smiley-AnalogSkala". Ein lächelndes Smiley steht für Schmerzfreiheit, ein neutrales Gesicht für geringe Beschwerden und ein weinendes Smiley für unerträgliche Schmerzen. Der Bewohner zeigt auf seinen Zustand. In vier von zehn Fällen können Demenzpatienten damit ihre Schmerzen sinnvoll beschreiben. Erst wenn der Bewohner offensichtlich den Sinn der Fragen nicht mehr erfassen kann, sollte eine Fremdeinschätzung durch die Pflegekraft erfolgen. Es ist ggf. sinnvoll, eine zweite Pflegekraft an der Erhebung zu beteiligen. Bei einer Mobilisierung ist es einer einzelnen Pflegekraft nicht möglich, gleichzeitig das Gesicht des Bewohners zu beobachten. Eine Grimasse als Folge eines plötzlichen Schmerzimpulses bliebe so unentdeckt. Die Schmerzbelastung eines Bewohners wird im Rahmen von Fallbesprechungen sowie bei der Pflegevisite thematisiert. Symptome Wir achten auf Symptome, die für eine erhebliche Schmerzbelastung sprechen. Wichtig ist dabei der Vergleich mit dem üblichen Verhalten eines Bewohners. Eine demenzielle Erkrankung wird dazu führen, dass sich die Symptome langsam und kontinuierlich entwickeln. Wenn der Bewohner jedoch (akute) Schmerzen hat, wird sich sein Verhalten binnen weniger Tage deutlich ändern. Der Bewohner flucht. Die Sprache des Bewohners ist abgehackt. Der Bewohner stöhnt, weint oder schreit. Viele Betroffene winseln oder seufzen. Der Bewohner hat keinen Appetit. Er möchte nichts mehr essen und trinken, etwa bei Schmerzen im Mund- und Rachenraum. Der Pflegebedürftige reagiert nicht wie gewohnt auf Ansprache. Er lässt sich nicht trösten, ablenken oder beruhigen. Der Pflegebedürftige ist völlig in sich zurückgezogen, was sonst unüblich ist. Wir beobachten beim Bewohner Unruhezustände. In der Nacht kann der Bewohner nicht schlafen. Der Bewohner bevorzugt eine bestimmte Lagerung, etwa auf der rechten Seite. Andere Lagerungen akzeptiert er nicht mehr, etwa die auf der linken Seite. Er rollt sich eigenständig auf die bevorzugte Seite. Wir sehen eine Schonhaltung. Etwa werden die Beine bei Bauchschmerzen angezogen. Oder aber ein Arm wird über eine längere Zeit schützend festgehalten und nicht normal bewegt. Der Bewohner sucht nach einer Schonhaltung, kann diese aber offensichtlich nicht finden. Der Bewohner berührt ständig eine bestimmte Körperstelle. Der Bewohner möchte nicht berührt werden, oder nur an bestimmten Stellen nicht berührt werden. Er nestelt, z.B. an seiner Bettdecke oder an der Kleidung. Der Bewohner leistet Widerstand bei Pflegemaßnahmen, insbesondere wehrt er sich gegen Mobilisierungen und gegen Lagerungen. Er wiegt und schaukelt sich ununterbrochen. Der Bewohner will nicht gehen oder stehen wie üblich. Der Bewohner ballt die Fäuste. Er schlägt um sich und ist wütend. Er ruft ohne Unterlass; insbesondere nach seiner Mutter oder nach Personen, die in seiner Jugend die Schmerzen gelindert hätten. Der Puls und der Blutdruck des Bewohners sind erhöht. Der Kopf des Bewohners ist hochrot. Wir sehen einen ängstlichen Gesichtsausdruck, etwa geweitete Augen. Der Bewohner zeigt einen angespannten, weinerlichen oder traurigen Ausdruck. Der Bewohner schneidet Grimassen oder runzelt mit der Stirn. Die Lippen, die Zähne oder die Augen sind zusammengekniffen. Der Bewohner erbricht sich. Wir erkennen Schweißausbrüche, ohne dass es dafür eine Erklärung gäbe. Die Gesichtsfarbe ist blass. Der Muskeltonus ist erhöht. Es kommt zu Zuckungen. Im Bereich des Abdomens ist eine Abwehrspannung spürbar. Die Atmung ist beschleunigt und angestrengt. Nachbereit ung: Der Mitarbeiter, der die Beobachtung durchführt, gibt an, in welcher Situation der Betreffende sich gerade befindet (liegend im Bett oder etwa beim Waschen). Er beobachtet den dementen Pflegebedürftigen zwei Minuten lang und kreuzt die entsprechenden Verhaltensweisen an. Bei der Auswertung werden nach einer festgelegten Regel Punkte vergeben. Ab einem definierten Punktwert muss der Bewohner in Bezug auf Schmerzzustände näher untersucht und ggf. behandelt werden. Es ist wichtig, den Bewohner zu beobachten, ohne dass sich dieser beobachtet fühlt. Es könnte sonst zu einer bewussten oder unbewussten Verhaltensänderung kommen. Direkt vor der Schmerzeinschätzung sollten keine anstrengenden oder unangenehmen Pflegemaßnahmen durchgeführt werden. Während der Beobachtung sollte der Bewohner keinen Außenreizen ausgesetzt sein, die das Schmerzempfinden beeinflussen. Angenehme Musik etwa kann Schmerzen für begrenzte Zeit lindern. Streit mit Mitbewohnern oder Straßenlärm hingegen steigern ggf. das Schmerzempfinden und somit die Symptomatik. Der Aussagewert eines einzelnen Assessments ist gering. Bei Senioren mit einem hohen Risiko von unentdeckten Schmerzzuständen sollte die Erhebung mehrmals wöchentlich erfolgen. Es ist überdies wichtig, dass das Assessment immer von der gleichen Person, i.d.R. von der Bezugspflegekraft, durchgeführt wird. Wenn wir vermuten, dass ein demenziell erkrankter Bewohner Schmerzen hat, prüfen wir gemeinsam mit dem Arzt, ob der Bewohner eine Versuchsmedikation erhalten sollte. Der Bewohner erhält also "auf Verdacht" ein Analgetikum. Wenn die Auffälligkeiten die Folge von Beschwerden waren, sollte in den folgenden Tagen eine Normalisierung des Verhaltens beobachtet werden. In diesem Fall erhält der Bewohner eine dauerhafte Schmerzmittelapplikation. Ggf. wird die Schmerzmitteltherapie gemeinsam mit dem behandelnden Arzt langfristig umgestellt. Unverzichtbar ist immer eine inhaltliche Beteiligung der jeweiligen Haus- und Fachärzte, da einzelne Maßnahmen vom Arzt angeordnet werden müssen.
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