Öffentliches recht - vergaberecht

Oktober 2015
Öffentliches Recht - Vergaberecht
Liebe Leserinnen und liebe Leser,
das Thema Flüchtlinge betrifft uns alle!
Neben humanitären Gesichtspunkten
ist auch in juristischer Hinsicht unter
anderem die Frage der Unterbringung
von Asylsuchenden zu beachten. In
unserem Oktober-Mandantenrundbrief
können Sie lesen, welche Möglichkeiten
das Baurecht hierzu bereithält.
Ein ganz anderes, aber ebenfalls
wichtiges Thema stellen umwelt- und
naturschutzrechtliche Zulässigkeitsfragen von Windenergieanlagen dar.
Lassen Sie sich auf den nächsten
Seiten sowohl über die Notwendigkeit
sogenannter
Umweltverträglichkeitsprüfungen als auch über viele weitere
interessante Themen aus den Bereichen
Öffentliches Recht und Vergaberecht
auf den neuesten Stand bringen.
Übrigens - haben Sie schon von dem
BRANDI-Erfahrungsaustausch gehört?
Was sich dahinter verbirgt und wie dies
mit „Schrottimmobilien und alten Schätzchen“ in Zusammenhang steht, verraten
wir Ihnen gleich zu Beginn der neuesten Ausgabe unseres Mandantenrundbriefes.
Wir wünschen Ihnen viel Vergnügen bei
der Lektüre!
Herzliche Grüße
Ihr
Prof. Dr. Martin Dippel
www.brandi.net
Bielefeld | Detmold | Gütersloh | Paderborn | MINDEN | hannover | Leipzig | Paris | Peking
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Oktober 2015
Öffentliches Recht
Daniela Deifuß-Kruse
Schrottimmobilien und alte Schätzchen.....................................................................Seite
3
Dr. Jörg Niggemeyer
Ausübung des gemeindlichen Vorkaufsrechts in nichtöffentlicher Sitzung?........Seite
4
Dr. Nils Gronemeyer
Baurechtliche Zulässigkeit von Unterkünften für Asylsuchende.............................Seite
Entwurf einer neuen Bauordnung für Nordrhein-Westfalen....................................Seite
5
5
Nina Drüke
Konkurrierende Windenergieanlagen –
Beurteilung unter dem Blickwinkel des UVP-Rechts.................................................Seite
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Prof. Dr. Martin Dippel
EuGH-Urteil zur Weservertiefung –
Aus für jedes industrielle Vorhaben oder Infrastrukturvorhaben?.........................Seite
Die Untersuchung gewerblichen/industriellen Abwassers durch die Kommune –
die Kommune untersucht, das Unternehmen zahlt die Kosten?..............................Seite
Veröffentlichung von Berichten über behördliche
Umweltinspektionen bei Industrieanlagen................................................................Seite
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9
Andreas Wiemann
Presserechtliche Auskunftsansprüche vs. Geheimhaltungsinteressen..................Seite 11
Dr. Christoph Worms
„Scheinzwerge“? – Kleine und mittlere Unternehmen in der Rechtspraxis ...........Seite 12
Daniela Deifuß-Kruse
Umgang mit Staatlichen Fördermitteln:
Besonderheiten des Weiterleitungsverhältnisses.....................................................Seite 14
Dr. Jörg Niggemeyer
Not macht erfinderisch –
Aktuelles zum „Steuererfindungsrecht“ der Kommunen.........................................Seite 15
Vergabe- und Beihilferecht
Dr. Christoph Jahn
Die Modernisierung des Vergaberechts – ein weiteres Mal......................................Seite 16
Prof. Dr. Martin Dippel
Lange Leitung? – Aktuelle Rechtsprechung zur Vergabe
von „Strom- und Gaskonzessionen“ für die Nutzung
öffentlicher Verkehrswege (Update)...........................................................................Seite 18
Dr. Christoph Worms
Untersagung durch die Hintertür - Verhinderung gewerblicher
Sammlungen durch fragwürdige straßenrechtliche Praxis......................................Seite 19
Dr. Christoph Jahn
EU-Kommission erweitert Spielräume für die
öffentliche Finanzierung kommunaler Unternehmen..............................................Seite 20
Dr. Annette Mussinghoff-Siemens
TVgG NRW weiter auf dem Prüfstand –
Verstoß gegen EU- und Landesverfassungsrecht?....................................................Seite 21
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Oktober 2015
Schrottimmobilien und alte Schätzchen
Am 03.06.2015 fand in unserem Paderborner Büro der erste
BRANDI-Erfahrungsaustausch zum Thema „Schrottimmobilien und alte Schätzchen“ statt. Der BRANDI-Erfahrungsaustausch ist ein neues Format in unserem Angebot: Kein
Frontalseminar im großen Plenum, sondern ein reger Austausch mit Praktikern in kleinerer Runde. Ziel ist es, die praktischen Erfahrungen der Teilnehmer zu hören, gemeinsam
über rechtliche und tatsächliche Lösungsmöglichkeiten und
erfolgreiche Herangehensweisen zu diskutieren und die
Gelegenheit zur Vernetzung unter Praktikern zu nutzen.
Kurze Impulsvorträge aus verschiedenen Perspektiven führen jeweils in das Thema ein. Jeder Impulsvortrag wird sofort
im Anschluss mit allen Teilnehmern besprochen und die
Gedanken hierzu ausgetauscht und diskutiert. Nach vielfältigen mandatsbezogenen Nachfragen zum Thema „Schrottimmobilien“, teilweise auch in Verbindung mit dem Denkmalschutzrecht, war dies Ansatzpunkt für uns, dieses Thema
für den Erfahrungsaustausch aufzugreifen.
Herr Rechtsanwalt Dr. Manfred Schröder (BRANDI
Minden) beleuchtete zunächst baurechtliche Mittel zum
Umgang mit Schrottimmobilien. An Einzelbeispielen aus dem
Kreis der Teilnehmer wurde dies in der direkt anschließenden
Diskussion näher beleuchtet. Insbesondere die neueren Entwicklungen im Baurecht lassen eine erste Tendenz des
Gesetzgebers erkennen, sich der Fragestellung annehmen
zu wollen. Es zeigte sich jedoch, dass die bisherigen gesetzgeberischen Änderungen lediglich ein erster Ansatz sein
können, um einen geeigneten Umgang mit Schrottimmobilien
zu finden.
Insbesondere dann, wenn die Schrottimmobilie Denkmalwert besitzt oder zumindest besitzen könnte, kann der Fall in
der Praxis kompliziert werden. Allerdings bietet auch das
Denkmalschutzrecht durchaus Handlungsmöglichkeiten für
die betroffenen Städte und Gemeinden. Die denkmalschutzrechtlichen Mittel zum Umgang mit Schrottimmobilien wurden in einem zweiten Impulsvortrag von Herrn Rechtsanwalt
Dr. Jörg Niggemeyer (BRANDI Paderborn) vorgestellt. In der
anschließenden Diskussion wurden insbesondere anhand
eines auch in der Presse bekannt gewordenen Beispielfalls
die Möglichkeiten (und auch Restriktionen) bei einem denkmalgeschützten Objekt rege diskutiert.
Frau Rechtsanwältin Daniela Deifuß-Kruse (BRANDI
Paderborn) erläuterte dann in einem dritten Impulsvortrag die
Möglichkeit ordnungsrechtlicher Mittel zum Umgang mit
Schrottimmobilien. Hier wurden das Wohnungsaufsichtsrecht
auf der einen Seite und die allgemeinen ordnungsrechtlichen
Mittel, aber auch besondere Regelungsgegenstände wie das
Infektionsschutzrecht beleuchtet. Die Wortbeiträge der Teilnehmer machten erkennbar, dass letztlich nur ein Ineinandergreifen verschiedener Mittel und auch ein situatives Anpassen der Maßnahmen zum Erfolg führen. An einem krassen
Beispiel aus dem Bereich Ostwestfalen-Lippe wurde die
Handlungsnotwendigkeit im ordnungsrechtlichen Bereich
erörtert.
Zum Abschluss führte Herr Rechtsanwalt Simon Schmollmann (BRANDI Paderborn) im Rahmen eines kurzen Impulsvortrages zu den zivilrechtlichen Mitteln zum Umgang mit
Schrottimmobilien aus. Insbesondere dann, wenn die Eigentümerstrukturen schwierig sind und die Gemeinde das Eigentum an der Immobilie erwerben will (um auch den möglichen
Wertzuwachs bei einer bauleitplanerischen Begleitung in
Anspruch nehmen zu können) sind auch die Möglichkeiten
des Zivilrechts zu prüfen und auszunutzen.
Die regen Diskussionen der Teilnehmer zeigten, dass die
Problematik von „Schrottimmobilien und alten Schätzchen“ in
einer Vielzahl von Städten und Gemeinden angekommen ist.
Die vergammelte alte Villa im Eigentum der zersplitterten
Erbengemeinschaft, die ungepflegten Hochhäuser am Ortseingang, in denen sich ein problematischer Bewohnerkreis
angesiedelt hat oder aber die verfallende Industriehalle der
aus dem Handelsregister gelöschten Gesellschaft – die Fallgestaltungen sind so vielschichtig wie häufig. Es wurde auch
deutlich, dass oftmals auf politischer Ebene das Ziel schnell
definiert ist: Die Immobilie soll weg – und dies möglichst kurzfristig und auch möglichst ohne Kosten für die Gemeinde.
Gerade kleinere Städte und Gemeinden geraten dabei allerdings an ihre personellen und finanziellen Leistungsgrenzen.
Verfügen größere Städte teilweise über ganze Abteilungen
der kommunalen Wohnungsbaugesellschaften, die sich mit
der Problematik beschäftigen, fehlt dies bei kleineren und
mittleren Gemeinden häufig. Der Konflikt zwischen den politischen Forderungen aus den Gremien mit der Realität und
den rechtlichen Rahmenbedingungen auf der einen Seite
und die finanzielle und personelle Leistungsfähigkeit kleinerer
und mittlerer Kommunen auf der anderen Seite wurden vielfach genannt. Zum Abschluss der Veranstaltung stand fest,
dass es eine inhaltliche Patentlösung, die auf alle Fallgestaltungen passt, nicht geben kann. Es wurde aber auch deutlich,
dass der Problematik durchaus vielgestaltig zu Leibe gerückt
werden kann. Hier sind sorgfältige Sachverhaltsermittlungen
und Planungen des eigenen Handelns, auch in rechtlicher
Hinsicht, auf der einen Seite gefragt, aber auch ein proaktives und mutiges Herangehen auf der anderen Seite.
Unser Eindruck dieses ersten BRANDI-Erfahrungsaustausches war ein positiver: Die Diskussion war rege, es wurde
deutlich, wie viele unterschiedliche Gesichtspunkte hier zu
berücksichtigen sind. Auch aus anwaltlicher Sicht war dieser
Erfahrungsaustausch bereichernd und soll als Format weiter
beibehalten werden. Wir sind für Vorschläge zu den nächsten
Themen offen und freuen und über Anregungen hierzu.
Daniela Deifuß-Kruse, BRANDI Rechtsanwälte
[email protected]
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Ausübung des gemeindlichen Vorkaufsrechts in
nichtöffentlicher Sitzung?
Die rechtmäßige Ausübung eines gemeindlichen Vorkaufsrechts bereitet vielen Städten und Gemeinden in der Praxis
erhebliche Probleme. Im Vordergrund steht dabei weniger die
Frage, ob den betroffenen Gemeinden Vorkaufsrechte nach
§§ 24 ff. Baugesetzbuch (BauGB) zustehen (dies wird sich in
der Regel recht einfach aus dem Gesetz ergeben), vielmehr
sind es häufig die formellen Ausübungsanforderungen, an
denen die rechtmäßige Ausübung eines gemeindlichen Vorkaufsrechts scheitert.
Wenn sich die Gemeindeverwaltung dazu entschließt, der
Ausübung eines Vorkaufsrechts näher zu treten, bestimmt in
der Regel großer Zeitdruck das Geschehen. Das Gesetz
erlaubt nämlich die Ausübung eines Vorkaufsrechts nur
binnen zwei Monaten nach Mitteilung des Kaufvertrags,
vgl. § 28 Abs. 2 Satz 1 BauGB. Bei dieser Frist handelt es
sich um eine sog. materielle Ausschlussfrist, d.h. eine vom
materiellen Recht gesetzte Frist, deren Nichteinhaltung den
Verlust einer materiell-rechtlichen Rechtsposition zur Folge
hat. Materiell-rechtliche Ausschlussfristen sind für Behörden
und Beteiligte gleichermaßen verbindlich und stehen nicht
zur Disposition der Verwaltung oder der Gerichte. Nach
Ablauf der Frist kann der Anspruch nicht mehr geltend
gemacht werden, so dass innerhalb der Frist des § 28 Abs. 2
Satz 1 BauGB sämtliche für die Ausübung des Vorkaufsrechts erforderlichen rechtlichen Voraussetzungen gegeben
sein müssen. Die mit einem Vorkaufsrechtsfall konfrontierte
Gemeinde muss daher innerhalb der zwei Monate die notwendigen Ausübungsvoraussetzungen schaffen. Selbst eine
einvernehmliche Fristverlängerung – etwa durch Verständigung mit den Vorkaufsrechtsbetroffenen – ist unzulässig.
Bevor es überhaupt (im Außenverhältnis) zur Ausübung
des Vorkaufsrechts durch den sog. privatrechtsgestaltenden
Verwaltungsakt kommen kann, muss (im Innenverhältnis)
die Ausübungsentscheidung durch das intern zuständige
Gemeindeorgan getroffen werden. Da diese Entscheidung
eine Angelegenheit der kommunalen Selbstverwaltung ist, ist
grundsätzlich der Gemeinderat zuständig (vgl. § 41 Abs. 1
Satz 1 Gemeindeordnung (GO) NRW). Diese sog. Allzuständigkeit kann der Gemeinderat allerdings durchbrechen: Der
Rat kann Entscheidungen über bestimmte Angelegenheiten
auf Ausschüsse oder den Bürgermeister übertragen. Dazu
kann auch die Entscheidung über die Ausübung von gemeindlichen Vorkaufsrechten zählen. Ferner muss der Gemeinderat nicht entscheiden, wenn es um Angelegenheiten der sog.
laufenden Verwaltung geht. Darunter versteht man gemeinhin solche Geschäfte, die mehr oder weniger regelmäßig wiederkehrend nach Größe, Umfang der Verwaltungstätigkeit
und Finanzkraft der Gemeinde von sachlich wenig erheblicher Bedeutung sind. Gerade in kleineren und mittleren
Gemeinden dürfte indes die Entscheidung über die Ausübung eines gemeindlichen Vorkaufsrechts regelmäßig kein
Geschäft der laufenden Verwaltung sein. Insofern ist in der
Regel (vorbehaltlich der Übertragung auf Ausschüsse bzw.
den Bürgermeister) der Gemeinderat zur Entscheidung berufen.
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Oktober 2015
In jüngerer Zeit ist in der Rechtsprechung die Frage
behandelt worden, ob der Gemeinderat in öffentlicher oder
nichtöffentlicher Sitzung über die Ausübung entscheiden
muss. Dazu hat sich das Verwaltungsgericht (VG) Aachen
mit Urteil vom 22.05.2012 – 3 K 347/11 – geäußert. Diese
Entscheidung wird viele Kommunen überraschen. Das Verwaltungsgericht hat nämlich die Auffassung vertreten, dass
die Ausübung eines gemeindlichen Vorkaufsrechts in öffentlicher Sitzung zu erfolgen hat. Denn in Nordrhein-Westfalen
entscheidet der Gemeinderat grundsätzlich in öffentlicher
Sitzung, vgl. § 48 GO NRW. Ausnahmen von diesem Grundsatz der Sitzungsöffentlichkeit hat das VG Aachen in Bezug
auf die Ausübung eines Vorkaufsrechts nicht erkennen können: Der öffentlichen Debatte komme im politischen Willensbildungsorgan „Rat“ eine besondere Bedeutung zu, da das
Vorkaufsrecht nur zum Wohl der Allgemeinheit ausgeübt werden dürfe. Die Ausübung des Vorkaufsrechts sei daher eine
hoheitliche Maßnahme des Bauplanungsrechts und gerade
keine reine Liegenschaftsangelegenheit. Ein besonderes
Geheimhaltungsbedürfnis bestehe nicht, da bei der Ausübung des Vorkaufsrechts die Gemeinde ohne weitere Dispositionsmöglichkeiten in einen bereits abgeschlossenen
und damit feststehenden Kaufvertrag eintrete.
Aus unserer Beratungspraxis ist uns allerdings bekannt,
dass viele Kommunen nach wie vor über die Ausübung eines
gemeindlichen Vorkaufsrechts in nichtöffentlicher Sitzung
beraten, weil diese Angelegenheiten entsprechend der
(Muster-)Geschäftsordnung als Grundstücksgeschäfte eingeordnet werden. Diese Vorgehensweise ist problematisch.
Eine Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts (OVG)
NRW gibt es zwar noch nicht, gleichwohl ist das Urteil des VG
Aachen nachvollziehbar begründet. Im Übrigen sehen andere
Oberverwaltungsgerichte es genau so wie das VG Aachen,
zuletzt der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg
(Urteil vom 23.06.2015 – 8 S 1386/14).
Für die Ausübungspraxis in den Kommunen kann daher
nur die Empfehlung ausgesprochen werden, das Urteil des
VG Aachen zur Kenntnis zu nehmen und vorsorglich über die
Ausübung des Vorkaufsrechts in öffentlicher Sitzung zu
beschließen.
Dr. Jörg Niggemeyer, BRANDI Rechtsanwälte
[email protected]
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Oktober 2015
Baurechtliche Zulässigkeit von Unterkünften für
Asylsuchende
Nach einer Schätzung der Bundesregierung werden im Jahr
2015 rund 800.000 Menschen in Deutschland Asyl beantragen. Diese Menschen mit ausreichendem (Wohn-)Raum zu
versorgen, stellt die Behörden vor immer größere Herausforderungen, zumal in der Bevölkerung die Einrichtung von
Flüchtlingsunterkünften nicht auf ungeteilte Zustimmung
stößt.
Flüchtlinge, die nach Nordrhein-Westfalen kommen, werden zunächst auf die sog. Erstaufnahmeeinrichtungen in
Dortmund und Bielefeld verteilt. Dort sollen sie registriert
und medizinisch versorgt werden und ihren Asylantrag
stellen. Von dort werden sie in - über das Land verteilte - zentrale Unterbringungseinrichtungen verlegt. Sobald das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge entschieden hat, dass
ein Asylverfahren durchgeführt wird - spätestens aber nach
drei Monaten - werden die Flüchtlinge auf die Städte und
Gemeinden verteilt.
In welchen Baugebieten Flüchtlingsunterkünfte errichtet
oder eingerichtet werden können, hängt davon ab, ob die Art
und Organisation des Aufenthalts der Flüchtlinge als „Wohnen“ oder als „Unterbringung“ zu bezeichnen ist. Der Begriff
des „Wohnens“ wird definiert als „eine auf Dauer angelegte
Häuslichkeit, die Eigengestaltung der Haushaltsführung und
des häuslichen Wirkungskreises sowie die Freiwilligkeit des
Aufenthaltes“. Von einem „Wohnen“ der Flüchtlinge ist also
auszugehen, wenn sie einzeln oder als Familie in getrennten
Räumen untergebracht sind und sich selbst verpflegen oder
die von den Kommunen bereitgestellten Lebensmittel zumindest selbst zubereiten und verarbeiten. Werden jedoch in der
Unterkunft sich ansonsten fremde Personen in einem Zimmer
zusammengelegt, gibt es nur gemeinschaftliche Sanitäranlagen und erfolgt die Versorgung durch eine Gemeinschaftsküche, so liegt kein selbstbestimmtes Wohnen mehr vor. Vielmehr handelt es sich um eine „Unterbringung“. Diese Kriterien
sind Anhaltspunkte, die nicht immer und vollständig erfüllt
sein müssen. So können die Flüchtlinge z.B. ihren Aufenthaltsort in der Regel niemals selbst bestimmen. Die Grenzen
zwischen „Wohnen“ und „Unterbringung“ sind deshalb fließend.
Qualifiziert man die Aufenthaltsqualität der Asylbewerber
als „Wohnen“, können die Unterkünfte letztendlich überall
außer in Industriegebieten eingerichtet werden. Dabei werden von der Rechtsprechung auch größere Anlagen mit z.B.
100 oder 150 Bewohnern in einem Wohngebiet für gebietsverträglich gehalten. Unterkünfte, in denen nach den obigen
Kriterien die Flüchtlinge nicht wohnen, sondern untergebracht
werden, sind Anlagen für soziale Zwecke. Solche Anlagen
sind in allgemeinen Wohngebieten, Mischgebieten und Dorfgebieten regelmäßig zulässig. In reinen Wohngebieten sind
sie nach der Baunutzungsverordnung (BauNVO) nur ausnahmsweise zulässig. Wegen der „Wohnähnlichkeit“ der
Unterbringung liegen die Voraussetzungen für die Erteilung
einer solchen Ausnahme jedoch regelmäßig vor. Nach den
bis Ende 2019 befristeten Regelungen des § 245 Abs. 8 bis
10 Baugesetzbuch (BauGB) sind Anlagen zur Unterbringung
von Flüchtlingen regelmäßig auch in Gewerbegebieten, im
unbeplanten Innenbereich und sogar im Außenbereich am
Rande von Siedlungsflächen zulässig. Selbst in Industriegebieten können solche Einrichtungen geschaffen werden,
sofern Gründe des Immissionsschutzes nicht entgegenstehen.
Unterkünfte für Asylsuchende können somit überall errichtet oder eingerichtet werden. Einschränkungen ergeben sich
höchstens im Hinblick auf die Anzahl der Flüchtlinge in einer
Einrichtung.
Dr. Nils Gronemeyer, BRANDI Rechtsanwälte
[email protected]
Entwurf einer neuen Bauordnung für NordrheinWestfalen
Das Ministerium für Bauen, Wohnen, Stadtentwicklung und
Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen hat im Juni 2015
den Entwurf einer neuen Bauordnung vorgelegt. Nach der
letzten umfassenden Novellierung im Jahr 2000 wurde das
Gesetz mehrfach punktuell geändert. Im nun vorgelegten
Entwurf wird die Bauordnung erneut insgesamt überarbeitet
und in wesentlichen Teilen an die von der Bauministerkonferenz beschlossene Musterbauordnung angepasst.
Eine wichtige verfahrensrechtliche Änderung besteht in
der Abschaffung des in § 67 Bauordnung (BauO) NRW geregelten „Freistellungsverfahrens“. Zukünftig bedürfen auch
Wohngebäude mittlerer und geringer Höhe, die im Geltungsbereich eines Bebauungsplanes errichtet werden sollen, wieder einer Baugenehmigung. Hierdurch sollen vor allem die
Bauherren vor Fehlplanungen und erheblichen wirtschaftlichen Schäden geschützt werden. Ferner soll die Errichtung
barrierefreier Wohnungen besser überwacht werden können.
Die Umsetzung der Barrierefreiheit ist ein Schwerpunkt
der Änderung der Bauordnung. Öffentliche Gebäude
müssen zukünftig nicht nur in den Teilen, die dem allgemeinen Besucherverkehr dienen, sondern insgesamt barrierefrei
sein. Bei Gebäuden mit mehr als zwei Wohnungen müssen
die Wohnungen eines Geschosses barrierefrei sein. Bei
Wohngebäuden mit mehr als vier Wohnungen muss künftig
eine Wohnung, bei Wohngebäuden mit mehr als 19 Wohnungen müssen künftig zwei Wohnungen uneingeschränkt
mit dem Rollstuhl nutzbar sein.
Als Grundlage der neuen Vorschriften zum Brandschutz wird zukünftig zwischen fünf Gebäudeklassen unterschieden. Baustoffe werden im Hinblick auf ihr Brandverhalten in nicht brennbar, schwer entflammbar und normal
entflammbar eingeteilt. Hinsichtlich ihrer Feuerwiderstandsfähigkeit wird zukünftig zwischen feuerbeständig, hochfeuerhemmend und feuerhemmend zu unterscheiden sein. An
diese Brandklassen und Feuerwiderstandsfähigkeitsklassen
werden die Anforderungen an Bauteile, Wände, Decken und
Dächer angepasst. Grundlegende Änderungen, teilweise
aber auch Vereinfachungen gibt es ferner für Rettungswege,
Treppen, Aufzüge und Öffnungen.
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Im Abstandsflächenrecht reagiert der Gesetzesentwurf
insbesondere auf die Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Münster. So werden sog. Zwerchhäuser (untechnisch gesprochen sind dieses Dachgauben, die jedoch nicht
auf der Dachkonstruktion, sondern auf der Außenwand aufstehen) in der Größe von üblichen Dachaufbauten abstandsflächenrechtlich privilegiert und damit den Dachaufbauten
gleichgestellt. Sie können damit errichtet werden, ohne dass
sie seitliche Abstandsflächen auslösen. Ferner sollen zukünftig die Dächer von Grenzgaragen auch zu anderen Zwecken,
z.B. als Dachterrasse genutzt werden können, wenn ein
Abstand von mindestens 3 Metern zur Nachbargrenze bleibt.
Die nachträgliche Anbringung von Solaranlagen auf Dächern
und an Außenwänden ist zukünftig unter gewissen Voraussetzungen auch zulässig, wenn dadurch die eigentlich einzuhaltenden Abstandsflächen unterschritten werden.
Der Begriff des „Vollgeschosses“ wird vereinfacht. Vollgeschosse sind Geschosse, die über mindestens zwei Drittel
ihrer Grundfläche eine Höhe von mindestens 2,30 Meter
haben. Die Unterscheidung zwischen „Staffelgeschoss“ und
Dachgeschoss entfällt.
Bei der Ermittlung der Anzahl der notwendigen Stellplätze ist nach dem zukünftigen Gesetzeswortlaut neben
den örtlichen Verkehrsverhältnissen auch die Beurteilung der
Parkplatzsituation in der Umgebung zu berücksichtigen. Der
Gesetzgeber will damit erneut versuchen, auf eine individuelle Ermittlung der Stellplatzzahl hinzuwirken. Darüber hinaus
gibt das neue Gesetz den Gemeinden die Möglichkeit, durch
eine Satzung nicht nur eine Regelung über Zahl und Ausstattung von Kraftfahrzeugstellplätzen zu treffen, sondern
auch von Fahrradabstellplätzen.
Schließlich wird das Recht der Baugenehmigungsbehörde, ein rechtswidrig versagtes Einvernehmen der
Gemeinde zu ersetzen, ausdrücklich im Gesetz verankert.
Ob der Gesetzesentwurf in der vorgelegten Fassung
beschlossen wird, ist noch ungewiss. Zurzeit erfolgt die Beteiligung der Verbände und Träger öffentlicher Belange, deren
Auswertung wohl noch bis zum nächsten Jahr andauern wird,
sodass mit einem kurzfristigen Inkrafttreten des Gesetzes
nicht zu rechnen ist.
Dr. Nils Gronemeyer, BRANDI Rechtsanwälte
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Konkurrierende Windenergieanlagen – Beurteilung unter dem Blickwinkel des UVP-Rechts
Im immissionsschutzrechtlichen Zulassungsverfahren von
Windenergieanlagen sind sowohl im Naturschutzrecht als
auch im Umweltverträglichkeitsprüfungs(UVP)-Recht besonders hohe Hürden angesiedelt, die es für einen Antragsteller
zu überwinden gilt. Um die Einhaltung dieser Vorschriften zu
überprüfen, ist die Einholung von unterschiedlichen naturschutzfachlichen Gutachten zwingend erforderlich. Für den
Antragsteller geht damit in der Planungsphase ein erheblicher
Kosten- und Zeitaufwand einher, der im Fall einer negativen
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Oktober 2015
Bescheidung seiner
schwer wiegt.
Genehmigungsanträge
besonders
1. UVP-Pflicht von Windenergieanlagen
Wann Windenergieanlagen der UVP-Pflicht unterliegen und
somit - neben landschaftspflegerischen Begleitplänen, Artenschutzgutachten oder Zug- und Rastvogelkartierungen - auch
eine Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) erforderlich ist,
wird im Hinblick auf die hierfür maßgeblichen Schwellenwerte
eindeutig geregelt: Nach Nr. 1.6.3 der Anlage 1 zum Gesetz
über die Umweltverträglichkeitsprüfung (UVPG) knüpft die
Durchführungspflicht einer standortbezogenen Vorprüfung
an das Vorliegen einer Windfarm an, welche zumindest
3 Windenergieanlagen voraussetzt. Sind 6 oder mehr Windenergieanlagen geplant, muss eine allgemeine Vorprüfung
nach Nr. 1.6.2 der Anlage 1 zum UVPG vollzogen werden. Ist
ein Schwellenwert von 20 Windenergieanlagen überschritten,
ist eine Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) zwingend
vorgeschrieben (Nr. 1.6.1 der Anlage 1 zum UVPG).
Während somit die Schwellenwerte im Hinblick auf die zu
erreichende Anzahl von Windenergieanlagen eindeutig
bestimmt sind und eine einfache Handhabung in der Praxis
suggerieren, wird die Frage aufgeworfen, wer überhaupt zur
Durchführung der UV-Vorprüfung oder der Verträglichkeitsprüfung verpflichtet ist. Dieser Konflikt gelangt zwangsläufig
zur Entstehung, sofern die von einem Antragsteller beantragte Anzahl der Windenergieanlagen unterhalb der maßgeblichen Schwellenwerte bleibt, es aber im Zusammenspiel
mit Anlagen anderer Betreiber zu einem Überschreiten der
Schwellenwerte kommt. Denn maßgeblich für die UVP-Pflicht
bzw. die Vorprüfungspflicht ist seit der sog. „Windfarm-Entscheidung“ des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) nicht
die Identität des Antragstellers bzw. des Betreibers, sondern
die Möglichkeit, dass sich die Einwirkungsbereiche der Anlagen überschneiden und sich so die nach der UVP-Richtlinie
maßgeblichen Auswirkungen summieren (vgl. BVerwG, Urteil
vom 30.06.2004 - 4 C 9/03 -, NVwZ 2004, S. 1235). Sofern
also ein Betreiber nur für zwei Anlagen die immissionsschutzrechtliche Zulassung beantragt, unterliegen diese Anlagen
isoliert gesehen nicht der UV-Vorprüfungspflicht. Wird aber
von einem anderen Betreiber nur eine weitere Windenergieanlage beantragt, so würde eine Gesamtbetrachtung der
dann insgesamt 3 beantragten Anlagen - besondere örtliche
Gegebenheiten im Sinne des § 3c Satz 2 UVPG vorausgesetzt - die Durchführungspflicht einer standortbezogenen
Vorprüfung auslösen.
2. Konkurrenzsituation –
welche Anlage ist UVP-pflichtig?
In einer solchen Konstellation stellt sich die Frage, wer im
Zulassungsverfahren Anlagen anderer Betreiber zu berücksichtigen und die notwendigen Prüfungen mit entsprechender
Kostentragung durchzuführen hat.
Während in anderen Konkurrenzsituationen der im Verwaltungsrecht geltende Prioritätsgrundsatz unter Berücksichtigung von einzelfallbezogenen Besonderheiten zu bemühen
ist (so z.B. im Hinblick auf echte Konkurrenzverhältnisse zwischen Windenergieanlagen aufgrund einer geringen Entfer-
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nung: Oberverwaltungsgericht (OVG) Weimar, Beschluss
v. 17.07.2012 - 1 EO 35/12 -), muss hier beachtet werden,
dass das UVPG selbst hinreichende Anhaltspunkte dafür gibt,
wie in der vorliegend geschilderten Konstellation verfahren
werden muss. § 3b UVPG verhält sich in seinen Absätzen 2
und 3 zur Durchführungspflicht der Verträglichkeitsprüfung
bei gleichzeitiger Verwirklichung von kumulierenden Vorhaben sowie auch bei einem „Hineinwachsen“ in den Schwellenwert.
a) Gleichzeitige Verwirklichung von kumulierenden
Anlagen gem. § 3b Abs. 2 Satz 1 UVPG
Für die Lösung des Konflikts scheint sich zunächst § 3b
Abs. 2 Satz 1 UVPG anzubieten, der die UVP-Pflicht bei
gleichzeitiger Verwirklichung von Vorhaben regelt: Hiernach
besteht die Verpflichtung zur Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung auch dann, wenn mehrere Vorhaben
derselben Art, die gleichzeitig von demselben oder mehreren
Trägern verwirklicht werden sollen und in einem engen
Zusammenhang stehen (kumulierende Vorhaben), zusammen die maßgeblichen Größen- oder Leistungswerte
erreichen oder überschreiten. Hiernach müsste somit ein
Antragsteller, auch wenn er mit seinen eigenen Genehmigungsanträgen unterhalb der maßgeblichen Schwelle bleibt,
eine Verträglichkeitsprüfung bzw. eine Vorprüfung durchführen. Anerkannt ist jedoch, dass § 3b Abs. 2 Satz 1 UVPG bei
mehreren Anträgen für Windenergieanlagen nicht anwendbar
ist. Die Voraussetzung „mehrere Vorhaben derselben Art“
wird bei Genehmigungsanträgen von Windenergieanlagen
nicht erfüllt. Denn es muss in dieser Hinsicht der Umstand
beachtet werden, dass bereits nach der Vorhabendefinition
der Windfarm begrifflich vorausgesetzt wird, dass es sich um
eine aus mehreren Anlagen zusammengesetzte Verbindung
handelt, deren Umweltrelevanz sich gerade aus der Verknüpfung der verschiedenen Komponenten ergibt. Bei diesen
auch als Komplexvorhaben bezeichneten Vorhaben sind
mehrere Anträge auf Genehmigung von einzelnen Anlagen,
die einzeln oder zusammen den relevanten Schwellenwert
überschreiten, keine Anträge für mehrere Vorhaben im Sinne
des § 3b Abs. 2 Satz 1 UVPG.
Bei Überschreiten der maßgeblichen Schwellenwerte
ergibt sich daher – wie bereits ausgeführt – die UVP-Pflicht
unabhängig von der Betreiberidentität. Hieraus darf aber
nicht der Schluss gezogen werden, dass ein Vorhaben von
zwei Windenergieanlagen allein deshalb vorprüfungspflichtig
wird, wenn ein anderer Betreiber einen weiteren Antrag auf
Zulassung einer Windenergieanlage in einem engen zeitlichen Zusammenhang stellt. Bei einem solchen Vorgehen
würde ein erheblicher Verlust an Planungssicherheit eintreten. Denn es bestände die fortdauernde Gefahr, dass noch
bis zum Abschluss des immissionsschutzrechtlichen Zulassungsverfahrens andere Antragsteller durch ihre Anträge
die Voraussetzungen der UVP-Pflicht herbeiführen. In diesem Fall müssten selbst bereits abgeschlossene – aber noch
nicht beschiedene – Antragsprüfungen wieder aufgenommen
werden und es müsste eine Aktualisierung der Antragsunterlagen unter Berücksichtigung der nunmehr bestehenden
UVP-Pflicht erfolgen.
b)Hineinwachsen in den Schwellenwert
gem. § 3b Abs. 3 Satz 1 UVPG
Um den Konflikt zu lösen, der einerseits der missbräuchlichen
Zersplitterung von Vorhaben zur Umgehung der UVP-Pflicht
und andererseits der Planungssicherheit von Antragstellern
Rechnung tragen soll, wird im Ergebnis der auch bei Komplexvorhaben anwendbare § 3b Abs. 3 Satz 1 UVPG herangezogen. Dieser bestimmt, dass bei einem erstmaligen
Erreichen oder Überschreiten des maßgebenden Größenoder Leistungswerts durch die Änderung oder Erweiterung
eines bestehenden, bisher nicht UVP-pflichtigen Vorhabens,
für die Änderung oder Erweiterung eine UVP unter Berücksichtigung der Umweltauswirkungen des bestehenden,
bisher nicht UVP-pflichtigen Vorhabens durchzuführen ist.
Schlüsselbegriff der Vorschrift ist mithin das „bestehende
Vorhaben“, welches zur Lösung des Konflikts dienen soll.
Wann aber ein Vorhaben als bestehendes Vorhaben einzuordnen ist, wird durch das UVPG nicht vorgegeben. Für die
Definition des Begriffs wird in der Rechtsprechung daher auf
den Rechtsgedanken zurückgegriffen, der auch zur Klärung
der Frage entwickelt worden ist, wie im Fall von zeitlich parallel laufenden und konkurrierenden Antragsverfahren eine
Abgrenzung zwischen § 3b Abs. 2 Satz 1 UVPG und § 3b
Abs. 3 Satz 1 UVPG vorzunehmen ist (vgl. z.B. OVG Weimar,
Beschluss vom 02.09.2008 - 1 EO 448/08 -). Denn bei zeitlich parallel laufenden und konkurrierenden Antragsverfahren ist die Frage zu klären, ob es sich um gleichzeitig zu verwirklichende und daher gemeinsam die maßgebliche
Schwelle zur UVP-Pflicht überschreitende Antragsverfahren
handelt, oder ob es zeitlich nachfolgend zu verwirklichende
Maßnahmen sind. Bei letzteren muss festgelegt werden,
welches von den Vorhaben im Sinne des § 3b Abs. 3 Satz 1
UVPG zu einem bestehenden Vorhaben hinzutritt und somit
die maßgebliche Schwelle überschreitet. Die Bestandsvorhaben hingegen werden vor weiteren UVP-Anforderungen
geschützt.
In der Rechtsprechung und Literatur werden als bestehende Vorhaben solche anerkannt, die einen Status aufweisen, den das Recht als schützenswert ansieht (vgl. z.B. Sangenstedt, in: Landmann/Rohmer, Umweltrecht, § 3b UVPG,
Rn. 21; OVG Weimar, Beschluss vom 02.09.2008 - 1 EO
448/08 -). Eine solche Schutzwürdigkeit ist anzunehmen,
wenn der Antrag einen verfahrensrechtlich verfestigten Status erreicht hat und der Antragsteller seinerseits alles zur
Erteilung der Genehmigung Erforderliche getan hat. Im
immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsverfahren wird
hierfür der Zeitpunkt der Feststellung herangezogen, der die
Vollständigkeit der eingereichten Unterlagen gemäß § 7 der
9. Bundesimmissionsschutzverordnung (BImSchV) bescheinigt. Zu diesem Zeitpunkt hat die zuständige Genehmigungsbehörde bereits die eingereichten Unterlagen im Hinblick auf
die Anforderungen der 9. BImSchV überprüft und der Antragsteller gegebenenfalls auf Nachforderung der Behörde
etwaige fehlende Unterlagen ergänzt. Mithin hat er zu diesem
Zeitpunkt das seinerseits Erforderliche für den Genehmigungsantrag getan, der weitere Verfahrensablauf obliegt
demgegenüber der zuständigen Genehmigungsbehörde bzw.
den im weiteren Verfahren zu beteiligenden Behörden.
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3. Praxishinweis:
Vollständigkeitsbescheinigung anstreben
Wird somit die Vollständigkeit bescheinigt, ist der Antrag auf
einen immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsbescheid
verfahrensrechtlich gesichert. Dies hat zur Folge, dass weitere Anträge, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht über eine
Vollständigkeitsbescheinigung verfügen, die schon vorliegenden, vollständigen Anträge als „bestehende“ Anlagen
berücksichtigen müssen. Durch ein solches Vorgehen wird
dem Gesichtspunkt der Verfahrensfairness Rechnung getragen. Denn ab diesem Zeitpunkt darf der Antragsteller, der
bereits einen umfassenden Planungsaufwand betrieben hat,
darauf vertrauen, dass der von ihm betriebene Aufwand –
sowohl in zeitlicher als auch in finanzieller Hinsicht – nicht
durch das Vorziehen eines später anhängig gemachten
Genehmigungsantrags entwertet wird. Während er somit die
„Früchte seines Handelns“ behalten darf, werden weitere, insbesondere konkurrierende Antragsteller ihrerseits nach
einem sachgerechten Prinzip behandelt und das Ziel des
Gesetzes, den Größen- und Leistungswerten des UVPG
Wirksamkeit zu verleihen, wird realisiert.
Nina Drüke, BRANDI Rechtsanwälte
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EuGH-Urteil zur Weservertiefung –
Aus für jedes industrielle Vorhaben oder
Infrastrukturvorhaben?
Mit seinem Urteil zur Weservertiefung vom 01.07.2015 - Rs.
C-461/13 - hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) auf
eine Vorlageentscheidung des Bundesverwaltungsgerichts
(BVerwG) eine weitreichende Entscheidung zur wasserrechtlichen Beurteilung der geplanten Weservertiefung zur Ermöglichung der Durchfahrt größerer Containerschiffe zu den
Häfen Bremerhaven, Brake und Bremen getroffen. Der EuGH
legt die Wasserrahmenrichtlinie 2000/60/EG so aus, dass die
Mitgliedstaaten vorbehaltlich der Gewährung einer Ausnahme verpflichtet sind, die Genehmigung für ein konkretes Vorhaben zu versagen, wenn es eine
Verschlechterung des Zustands eines Oberflächengewässers verursachen kann oder wenn es die Erreichung
eines guten Zustandes eines Oberflächengewässers
gefährdet. Der EuGH trifft damit eine (nicht nur auf den ersten
Blick) sehr weitreichende Aussage, wenn er ausführt,
die Wasserrahmenrichtlinie 2000/60/EG enthalte nicht nur
Zielvorgaben für die Gewässerbewirtschaftungsplanung,
sondern gewissermaßen „harte“ Kriterien für die genehmigungsrechtliche Prüfung einzelner Vorhaben. Die Entscheidung kommt nicht überraschend. Auf denselben Standpunkt
zu beiden Fragen hatte sich bereits das BVerwG in seinem
Vorlagebeschluss an den EuGH vom 11.07.2013 gestellt.
Die Entscheidung kann für jedes wasserrechtliche Planfeststellungsverfahren, für Erlaubnis- oder Bewilligungsverfahren nach dem Wasserhaushaltsgesetz (WHG) von Bedeutung sein. Es können also auch andere Infrastrukturträger,
Industrieunternehmen oder auch die Kommunen mit ihren
Kläranlagen von dieser Entscheidung betroffen sein. Auch
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Oktober 2015
Einzelvorhaben, die nicht die Reichweite einer Weservertiefung haben müssen, sind an der Wasserrahmenrichtlinie zu
messen, die in Deutschland durch die §§ 25 ff. WHG in
deutsches Recht umgesetzt ist. Genehmigungen, deren Ausnutzung sich auf den Zustand eines Oberflächengewässers
auswirken würde, dürfen deshalb grundsätzlich nicht erteilt
werden, wenn sie eine Verschlechterung des Zustandes
verursachen können oder wenn sie die Erreichung eines
guten Zustandes eines Oberflächengewässers gefährden.
Soll ein Vorhaben dennoch zugelassen werden, so bedarf
es - wie im Naturschutzrecht für Vorhaben mit Beeinträchtigungen von Fauna-Flora-Habitat-Gebieten - einer Ausnahme, die nur unter strengen Voraussetzungen erteilt
werden darf. Diese Entscheidung betrifft alle Vorhaben, die
sich auf ein Oberflächengewässer auswirken, also z.B. auch
Genehmigungen für die Einleitung von behandeltem Wasser
(Schmutzwasser oder Niederschlagswasser) in Gewässer,
sei es aus industriellen oder gewerblichen Betrieben, oder
sei es aus öffentlichen Kläranlagen.
Die Entscheidung hat noch einen zweiten Schwerpunkt,
der die Frage betrifft, wann denn eine „Verschlechterung des
Zustands“ eines Oberflächengewässers vorliegt. Das ist der
Fall, wenn sich der Zustand mindestens einer Qualitätskomponente nach der Wasserrahmenrichtlinie um eine Klasse
verschlechtert. Diese Kriterien sind in der Richtlinie aufgeführt.
Für die behördliche Zulassungspraxis und für die „Wünsche“ von Industrie und Kommunen ist diese Rechtsprechung
begrifflich erst einmal ein harter Brocken. Andererseits muss
beachtet werden, dass die Bewirtschaftungsplanung für
Oberflächengewässer in Deutschland nicht „bei Null“ steht,
sondern dass sich die Zulassung von Einzelvorhaben in der
Praxis schon sehr weit nach den Zielen der Wasserrahmenrichtlinie ausrichtet, auch soweit die Ziele noch nicht in geltenden Wasserbewirtschaftungsplänen formalisiert sind. Es
ist also bekannt, an welchen wasserwirtschaftlichen Kriterien
sich entsprechende Vorhaben auszurichten haben.
Praxishinweis: Jeder Antragsteller, sei es aus dem kommunalen oder sonstigen öffentlichen Bereich, sei es aus dem
Bereich gewerblicher Unternehmen, tut gut daran, sich an
den in Aufstellung befindlichen oder schon geltenden Bewirtschaftungsplänen für „sein“ Gewässer auszurichten, wenn
z.B. Erlaubnisse für die Einleitung geklärten Abwassers in
ein Oberflächengewässer beantragt werden sollen. Das
setzt in der Praxis voraus, dass der Zustand des Gewässers
bekannt ist und dass weiterhin gutachterlich geprüft ist, wie
sich die Abwassereinleitung auf den Zustand des Gewässers
auswirken würde, insbesondere ob sie zu einer Verschlechterung des Gewässerzustandes führen würde. Ohne eine solche Prüfung werden z.B. wasserrechtliche Erlaubnisse zur
Einleitung von geklärtem Schmutz- oder Niederschlagswasser nicht erteilt werden können.
Prof. Dr. Martin Dippel, BRANDI Rechtsanwälte
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Oktober 2015
Die Untersuchung gewerblichen/industriellen
Abwassers durch die Kommune – die Kommune
untersucht, das Unternehmen zahlt die Kosten?
Immer wieder ist in kommunalen Abwassersatzungen – oft
auch Entwässerungssatzungen genannt – zu lesen, die
Gemeinde (oder auch ein Zweckverband, soweit ein solcher
für die Abwasserbeseitigung zuständig ist) könne das betriebliche Abwasser von gewerblichen oder industriellen Unternehmen jederzeit oder in bestimmten Abständen auf Kosten
des jeweiligen Anschlussnehmers untersuchen lassen. Bei
Betrieben, die nicht über eine eigene Kläranlage verfügen,
sondern ihr Produktionsabwasser in die kommunale Kanalisation einleiten, kann das je nach dem zu untersuchenden
Schadstoffspektrum und je nach der Häufigkeit der Untersuchungen erhebliche Beträge ausmachen, vor allem dann,
wenn sich das Unternehmen durch die Analyse einer Rückstellprobe (die es ohnehin selbst bezahlt) vergewissern will,
ob die von der Gemeinde veranlassten Untersuchungen und
deren Ergebnisse richtig sind.
Mehrfach wurde in der Rechtsprechung schon betont,
dass die Rechtsgrundlage für solche Kostenregelungen in
Abwassersatzungen/Entwässerungssatzungen der Kommunen fehlt. Ausgangspunkt dieser Rechtsprechung ist die
Feststellung, dass satzungsrechtlich angeordnete Kostentragungspflichten – z.B. für Abwasseruntersuchungen – eine
formell-gesetzliche Ermächtigungsgrundlage benötigen.
Denn die Satzung ist selbst keine Ermächtigungsgrundlage,
sondern benötigt – im Gegenteil – selbst eine Ermächtigungsgrundlage hinsichtlich ihres Erlasses, soweit sie beispielsweise durch die Auferlegung von Kostenpflichten in Freiheit und Eigentum von Bürgern oder Unternehmen eingreift.
So hat jüngst der Bayerische Verwaltungsgerichtshof mit
Urteil vom 03.11.2014 – 4 N 12.2074 – festgestellt, dass es in
Bayern für eine in einer Entwässerungssatzung geregelte
Kostentragungspflicht eines Anschlussnehmers für die von
der Gemeinde veranlassten Abwasseruntersuchungen an
einer gesetzlichen Rechtsgrundlage fehlt. Eine solche
Ermächtigungsgrundlage ergibt sich weder aus der Gemeindeordnung (GO) noch aus dem Kommunalabgabengesetz
(KAG) oder dem Verwaltungskostenrecht. Ähnlich hat dies für
Nordrhein-Westfalen das Oberverwaltungsgericht (OVG)
Münster bereits durch Beschluss vom 10.02.2011 - 15 A
405/10 - entschieden. Auch für Nordrhein-Westfalen fehlt es
an einer Ermächtigungsgrundlage zur Aufbürdung von
Kostenpflichten für Abwasseruntersuchungen, die die
Gemeinde veranlasst hat. Sie ergibt sich auch in NRW weder
aus der GO noch aus dem KAG, ebenso wenig aber auch aus
dem Wassergesetz NRW. Die Rechtslage ist in vielen anderen Bundesländern genau vergleichbar. Im Zweifel ist die
jeweilige landesrechtliche Regelungssituation in den Blick zu
nehmen.
Praxishinweis: Unternehmen, die von der Gemeinde zur
Kostenerstattung für die von der Gemeinde (oder dem Zweckverband) durchgeführten Abwasseruntersuchungen aufgefordert werden, sollten „ihre“ Gemeinde oder „ihren“ Zweckverband darauf hinweisen, dass es an einer ausreichenden
Rechtsgrundlage für eine Kostenerstattungspflicht fehlt – die
Abwassersatzung jedenfalls stellt keine ausreichende Grundlage dar. Entsprechende Kostenbescheide können und
sollten nicht akzeptiert werden, es sei denn, das Unternehmen entscheidet aus eher „politischen Gründen“, die Aufforderung ihrer Standortgemeinde zur Kostenerstattung letztlich
zu akzeptieren. Kommunen bzw. Zweckverbände sollten ihre
Satzungsbestimmungen kritisch daraufhin durchsehen, ob
Kostenerstattungsregelungen ohne ausreichende gesetzliche Grundlage in der Satzung enthalten sind. Solche Regelungen sollten gestrichen werden. Jedenfalls dürfen sie bei
rechtsstaatlicher Verhaltensweise nicht als „Schein-Rechtsgrundlagen“ für behördliche Kostenforderungen genutzt werden.
Prof. Dr. Martin Dippel, BRANDI Rechtsanwälte
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Veröffentlichung von Berichten über behördliche
Umweltinspektionen bei Industrieanlagen
In unserem Rundbrief „Umwelt und Planung“ aus Oktober
2014 (S. 4 f.) haben wir über eine nicht rechtskräftige Entscheidung des Verwaltungsgerichts (VG) Arnsberg berichtet,
die sich mit der Veröffentlichung von Berichten über behördliche Umweltinspektionen bei Industrieanlagen im Internet
befasst. Die Entscheidung ist, wie wir auch angenommen
hatten, im Ergebnis durch das Oberverwaltungsgericht (OVG)
Münster durch Beschluss vom 30.10.2014 - 8 B 721/14 bestätigt worden. Das OVG Münster hat aber in dieser und
einigen weiteren Entscheidungen die Rahmenbedingungen
für die Veröffentlichung von Umweltinspektionsberichten
weiter präzisiert.
Zur Erinnerung: Berichte über Vor-Ort-Besichtigungen
einer Anlage (Umweltinspektionsberichte) sind nach den Vorschriften über den Zugang zu Umweltinformationen der
Öffentlichkeit innerhalb von vier Monaten nach der Umweltinspektion zugänglich zu machen, vgl. § 52a Abs. 5 Bundesimmissionsschutzgesetz (BImSchG). Diese Verknüpfung mit
dem Umweltinformationsrecht macht deutlich, dass ein
Rechtsanspruch auf Zugang zu Umweltinformationen besteht,
von dem grundsätzlich auch die Umweltinspektionsberichte
nicht ausgenommen sind. Dieser Anspruch ist an keinerlei
weitere Voraussetzungen geknüpft, insbesondere braucht
nach § 3 Abs. 1 Umweltinformationsgesetz (UIG) kein „rechtliches Interesse“ vorzuliegen. Das bedeutet, dass Nachbarn
einer Industrie- oder Entsorgungsanlage oder eines Kraftwerks auch Zugang zu den Berichten über die Umweltinspektionen haben (müssen), denen diese Anlagen unterzogen
worden sind. Stellt die Behörde bei einer Umweltinspektion
(vermeintliche oder wirkliche) Mängel fest, so kann die Veröffentlichung eines Umweltinspektionsberichts bei den Lieferanten oder Kunden eines Unternehmens zur „Verstimmung“
und letztlich auch zur Störung von Geschäftsbeziehungen
führen, ganz unabhängig davon, dass auch Handlungsbedarf
für den Anlagenbetreiber im Sinne der Beseitigung wirklich
vorhandener Mängel erkennbar wird, der schnell abgedeckt
werden muss. Das macht die hohe Praxisrelevanz deutlich,
die behördliche Umweltinspektionen für Anlagenbetreiber
haben. Dazu ist der Stand der Rechtsprechung inzwischen
Folgender:
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1. Umweltinspektionsbericht darf mit Mängelbewertung veröffentlicht werden
Das OVG Münster steht auf dem Standpunkt, dass aus § 52a
Abs. 5 Satz 3 BImSchG eine ausreichende Ermächtigungsgrundlage für die Veröffentlichung von Umweltinspektionsberichten einschließlich der Mängelbewertung folgt. Denn nach
dem Gesetz hat der Umweltinspektionsbericht nicht nur die
Feststellungen über die Einhaltung der Genehmigungsanforderungen zu enthalten, sondern auch Schlussfolgerungen
dazu, ob weitere Maßnahmen notwendig sind. Danach – so
das OVG Münster – sei die Behörde gehalten, eine Beurteilung der von ihr angenommenen Verstöße vorzunehmen.
Dazu reiche eine lediglich technische Beschreibung eines
von der Behörde angenommenen Mangels überwiegend nicht
aus, so dass dieser Anforderung nur genügt werde, wenn die
relevanten Feststellungen in Umweltinspektionsberichten
auch Aussagen zur Umweltrelevanz von Verstößen – also
eine Bewertung der festgestellten Mängel – enthielten.
2. Schutz der Anlagenbetreiber vor unrichtigen
Feststellungen
Anders als bei einer antragsabhängigen Herausgabe von
Umweltinformationen muss die Behörde vor einer aktiven
Unterrichtung der Öffentlichkeit, z.B. vor der Veröffentlichung
von Umweltinspektionsberichten im Internet, die Richtigkeit
der Informationen überprüfen. Hat sie Zweifel, muss sie das
kenntlich machen. Wenn sich eine Information nachträglich
als falsch herausstellt oder auf Grund einer nachträglichen
Veränderung der Umstände (z.B. auf Grund einer Mangelbeseitigung durch den Anlagenbetreiber) nicht mehr zutrifft,
muss die Behörde mit der Löschung oder der Richtigstellung
bzw. Aktualisierung der Information reagieren. Das hat das
OVG Münster ausdrücklich gefordert, weil sich dies aus dem
Grundrechtsschutz der betroffenen Anlagenbetreiber ergebe.
3. Inhaltliche Ausgestaltung der Umweltinformationen
Notwendig ist eine hinreichend klare und verständliche Darstellung der Bewertung der von der Behörde festgestellten
Mängel gegenüber der Öffentlichkeit. Die ursprünglich im
Erlass des NRW-Umweltministeriums vorgesehene, etwas
„holzschnittartige“ Qualifizierung der Mängel als „geringfügig“
oder „erheblich“ reicht nach ausdrücklicher Feststellung des
OVG Münster allein nicht aus. Hinzukommen müssen nähere
Erläuterungen oder eine Offenlegung der die Qualifizierung
des Mangels tragenden Maßstäbe. Dass die Informationen
außerdem nicht unsachlich sein dürfen, hat das OVG Münster
ausdrücklich betont. Dies ist zwar eine rechtsstaatliche
Selbstverständlichkeit, muss aber leider zuweilen – wie uns
auch aus eigener Erfahrung mit der Informationstätigkeit von
Behörden bekannt ist – in Erinnerung gerufen werden.
4. Umfang der Umweltinspektion
Die Vor-Ort-Besichtigung (Umweltinspektion) und der darauf
bezogene Bericht nach § 52a Abs. 5 BImSchG haben grundsätzlich die gesamte Anlage zu umfassen. Denn die Aufgabe
der Umweltinspektion ist grundsätzlich die Inspektion der
gesamten Anlage, nicht lediglich von Teilen der Anlage,
worauf das OVG Münster – mit Recht – hinweist. Nur in Aus-
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Oktober 2015
nahmefällen wird die Behörde auf eine erneute Besichtigung
solcher Anlagenteile verzichten dürfen, die bei einer vorhergehenden Umweltinspektion als mängelbehaftet erkannt worden ist. Das gilt z. B. dann, wenn die Beseitigung des Mangels
ein Genehmigungsverfahren voraussetzt, welches aber noch
nicht abgeschlossen ist. Ansonsten muss die Behörde ihre
Umweltinspektion auf die gesamte Anlage erstrecken, wobei
der Inspektionsbericht keine allgemeine Beschreibung der
Rechtskonformität einer Anlage darstellt, sondern Feststellungen im Zusammenhang mit der Umweltinspektion enthalten muss.
In der Rechtsprechung noch nicht beantwortet ist die
Frage, ob sich die Umweltinspektion auf der Basis des § 52a
BImSchG auch auf selbständige Anlagen desselben Betreibers beziehen muss, die nicht der gesetzlichen Inspektionspflicht unterliegen. Daran anknüpfend stellt sich die Frage, ob
die Behörde den Inspektionsbericht hinsichtlich solcher Anlagen überhaupt veröffentlichen darf, denn die Ermächtigungsgrundlage im BImSchG erstreckt sich darauf nicht. Nach
unserer Einschätzung darf die Behörde Umweltinspektionsberichte über Anlagen, die nicht von Gesetzes wegen der
Inspektionspflicht unterliegen, nicht veröffentlichen. Auch
dies wird in Kürze verwaltungsgerichtlich geklärt sein.
5. Verfahrensfragen
Vor der Veröffentlichung des Umweltinspektionsberichts ist
der Anlagenbetreiber anzuhören. Das OVG Münster leitet
dies aus der Staffelung der Fristen in § 52a Abs. 5 Satz 2
BImSchG (Übermittlung des Berichts an den Betreiber innerhalb von zwei Monaten; Öffentlichkeit innerhalb von vier
Monaten zu informieren) ab.
Wird die zweimonatige Frist zur Information des Anlagenbetreibers überschritten, soll das nach Auffassung des OVG
Münster nicht zu einem generellen Veröffentlichungsverbot
oder zur Rechtswidrigkeit der Veröffentlichung führen. Das
OVG begründet das damit, dass dem Gesetz bzw. der zu
Grunde liegenden EU-Richtlinie keine Rechtsfolge bei Überschreitung der Übermittlungsfrist zu entnehmen sei. Auch
dem Sinn und Zweck der Vorschrift sei nicht zu entnehmen,
dass nach Ablauf der Zweimonatsfrist zur Information des
Anlagenbetreibers keine Veröffentlichung des Inspektionsberichts mehr zulässig sei. Diese Argumentation ist dürftig, denn
jedenfalls ist dem Gesetzeswortlaut und dem Sinn und Zweck
der Regelung nicht zu entnehmen, dass es sich um eine letztlich unbeachtliche reine „Ordnungsvorschrift“ handelt. Einen
Sinn ergibt die Zweimonatsfrist zur Information des Betreibers
nur dann, wenn sich mit einem Fristenverstoß auch eine
strikte Rechtsfolge verbindet, nämlich das Verbot der Veröffentlichung. So hat das immerhin auch das VG Düsseldorf in
zwei jüngeren Entscheidungen gesehen (Beschluss vom
12.01.2015 – 3 L 2899/14 – und Urteil vom 22.01.2015 – 3 K
5152/14 –). Gänzlich folgenlos soll allerdings eine Fristüberschreitung auch nach der Ansicht des OVG Münster nicht
sein. Wenn die Zweimonatsfrist zur Übermittlung des Inspektionsberichts an den Anlagenbetreiber überschritten ist und
dieser sich nachvollziehbar darauf beruft, er könne die Richtigkeit der behördlichen Feststellungen trotz einiger Anstrengung nicht mehr überprüfen, so kann das dazu führen, dass
er im gerichtlichen Verfahren eine verringerte Darlegungslast
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hat, was einen Anspruch auf Unterlassung der Veröffentlichung (ganz oder teilweise) betrifft. Im Gegenzug muss dann
die Behörde in einem erhöhten Maße darlegen, dass die von
ihr zusammengestellten Informationen in jeder Hinsicht
richtig und zutreffend bewertet sind.
6. Praxishinweis
Die durch § 52a Abs. 5 BImSchG begründete Pflicht zur Information der Öffentlichkeit über durchgeführte Umweltinspektionen gilt zwar bundesweit, hat aber bisher – soweit erkennbar – die Rechtsprechung nur in NRW beschäftigt, was
möglicherweise auf eine besonders „eifrige“ Informationspraxis der NRW-Umweltbehörden hindeutet. Die bisherige
Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte in NRW ist zwar
nicht in jeder Hinsicht einheitlich. Jedoch kann für die Praxis
sowohl den Umweltbehörden als auch den betroffenen Anlagenbetreiber nur angeraten werden, sich an den oben
genannten „Eckpfeilern“ zu orientieren, die die NRW-Rechtsprechung bisher gesteckt hat (OVG Münster, Beschlüsse
vom 30.10.2014 - 8 B 721/14 -, vom 06.11.2014 - 8 B 1101/14 und vom 04.08.2015 - 8 B 328/15 -). Der Anlagenbetreiber
wird insbesondere darauf zu achten haben, dass er vor einer
Veröffentlichung des Umweltinspektionsberichts im Internet
angehört wird. Sind Mängel nach seiner Einschätzung unzutreffend dargestellt und/oder bewertet, muss er dies schnell
und deutlich gegenüber der Behörde zum Ausdruck bringen.
Bleibt die Behörde bei ihrer Ansicht, ist ggf. ein Antrag auf
Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes beim Verwaltungsgericht angezeigt. Ist ein Umweltinspektionsbericht veröffentlicht, muss der Betreiber schon im Sinne seiner Geschäftsbeziehungen zu Kunden und Lieferanten und seines Ansehens
in der Öffentlichkeit darauf achten, dass die Beseitigung festgestellter Mängel ebenfalls veröffentlicht wird. Spiegelbildlich
hat sich auch die Umweltbehörde der Mühe zu unterziehen,
einen Umweltbericht - ist er erst einmal veröffentlicht - nicht
nach dem Motto „aus den Augen, aus dem Sinn“ gleichsam
sich selbst zu überlassen. Vielmehr bedarf es der Ergänzung,
gegebenenfalls Löschung von Umweltberichten, wenn sich
neuere Erkenntnisse ergeben haben.
Prof. Dr. Martin Dippel, BRANDI Rechtsanwälte
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Presserechtliche Auskunftsansprüche vs.
Geheimhaltungsinteressen
In der Verwaltungspraxis ist zunehmend festzustellen, dass
presserechtliche Auskunftsansprüche gegenüber Behörden
mit Geheimhaltungsinteressen kollidieren. Zur rechtlichen
Auflösung dieses Spannungsverhältnisses ist eine umfassende Abwägung der widerstreitenden Rechte und
Interessen vorzunehmen. Eine besondere Rolle kann dabei
eine im Rahmen einer Mediation vereinbarte Verschwiegenheitspflicht spielen. Auch beamtenrechtlichen Geheimhaltungsvorgaben kann dabei eine besondere Bedeutung
zukommen. Grundsätzlich auskunftsverpflichtete Behörden
stehen dabei nicht selten vor einem Dilemma: Geben sie die
beantragte Auskunft, so kann sich dagegen ein Betroffener
rechtlich zur Wehr setzen, verweigern sie diese, droht eine
Klage der Presse. Der vorliegende Beitrag befasst sich mit
einigen Teilaspekten zu diesem Themenkreis.
1. Die Konfliktlage
Die Presse erfüllt eine öffentliche Aufgabe insbesondere
dadurch, dass sie Nachrichten beschafft und verbreitet, Stellung nimmt, Kritik übt oder auf andere Weise an der
Meinungsbildung mitwirkt, vgl. § 3 Landespressegesetz
(LPresseG) NRW. Die Pressefreiheit genießt gemäß Art. 5
Abs. 1 Grundgesetz (GG) Verfassungsrang. Damit einhergehend sind Behörden gemäß § 4 Abs. 1 LPresseG NRW verpflichtet, den Vertretern der Presse die der Erfüllung ihrer
öffentlichen Aufgaben dienenden Auskünfte zu erteilen. Ein
dahingehender Anspruch besteht allerdings unter anderem
dann nicht, soweit Vorschriften über die Geheimhaltung entgegenstehen (§ 4 Abs. 2 Nr. 2 LPresseG NRW) oder ein überwiegendes öffentliches oder ein schutzwürdiges privates
Interesse verletzt würde (§ 4 Abs. 2 Nr. 3 LPresseG NRW).
Soweit ein Antrag auf Auskunftserteilung aufgrund eines
Ausschlussgrundes abgelehnt wird, ist diese Ablehnung verwaltungsgerichtlich überprüfbar. Ein von der beantragten
Auskunft Betroffener wird im gerichtlichen Verfahren regelmäßig beigeladen und damit Prozessbeteiligter. Inhaltlich
haben die Gerichte eine Abwägung der widerstreitenden Interessen (Pressefreiheit einerseits, Geheimhaltungsinteressen
andererseits) unter Beachtung des allgemeinen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes vorzunehmen.
2. Auskunft aus Mediationsverfahren?
Für den Fall, dass die begehrte Auskunft einen Sachverhalt
betrifft, der Gegenstand eines Mediationsverfahrens war,
kann sich ein entgegenstehendes Geheimhaltungsinteresse
und/oder ein überwiegendes schutzwürdiges privates Interesse aus einer Verschwiegenheitsverpflichtung ergeben. In
der Praxis wird im Rahmen einer außer- oder gerichtlichen
Mediation regelmäßig Verschwiegenheit zwischen den Parteien/Beteiligten (Medianden) vereinbart. Denn die Vertraulichkeit der Kommunikation und des Inhaltes des Mediationsverfahrens ist nach § 1 Mediationsgesetz (MediationsG)
Wesensmerkmal einer jeden Mediation, da es sich bei einem
Mediationsverfahren um ein nichtöffentliches Verfahren handelt. Vertraulichkeit ist damit als tragendes Prinzip einer Medi-
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ation tatsächliche Leitlinie für eine erfolgreiche Tätigkeit des
jeweiligen Mediators.
Als maßgebliche Ausprägung des Vertraulichkeitsgrundsatzes ist die allgemeine Verschwiegenheitspflicht gesetzlich
in § 4 MediationsG geregelt. Diese Norm verpflichtet allerdings nur den Mediator und die in die Durchführung des
Mediationsverfahrens eingebundenen Personen, nicht aber
die Medianden. Daraus würde folgen, dass sich eine an einem
Mediationsverfahren mit vereinbarter Verschwiegenheitsverpflichtung als Mediand beteiligte Behörde als Ausschlussgrund nicht auf § 4 MediationsG berufen könnte. Gleichwohl
ist aber eine Vereinbarung zur Verschwiegenheit zumindest
dann nicht unbeachtlich, wenn es einem Medianden maßgeblich darauf ankommt, durch diese Vereinbarung sein allgemeines Persönlichkeitsrecht und in Ausprägung dazu sein
Recht auf informationelle Selbstbestimmung aus Art. 2 Abs. 1
i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG wahren zu können. Dem Grundrecht
auf informationelle Selbstbestimmung kommt im Rahmen der
vorzunehmenden Abwägung ein besonderes Gewicht zu, da
es einen besonders hohen Verfassungsrang genießt.
Da auch der Pressefreiheit Verfassungsrang zukommt,
sind die widerstreitenden grundrechtlich geschützten Rechtspositionen im Rahmen einer Gesamtabwägung unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und unter Berücksichtigung der Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalles in
einen angemessenen Ausgleich zu bringen (sog. „praktische
Konkordanz“). Bei der Abwägung kommt es insbesondere
darauf an, welches Maß das für die Auskunft stehende Informationsinteresse aufweist, in welche Sphäre des Persönlichkeitsrechts durch die Auskunftserteilung eingegriffen würde,
wie schwer dessen Beeinträchtigung voraussichtlich wäre
und welche Folgen sich aus einer Auskunftserteilung ergeben
würden.
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des Dritten die Auskunftserteilung zwingend erfordert. Abhängig von der jeweiligen Fallkonstellation kann daher ein beamtenrechtliches Geheimhaltungsinteresse allein oder auch in
Verbindung mit einer Verschwiegenheitsverpflichtung in
einem Mediationsverfahren als Ausschlussgrund greifen.
3. Fazit
Die besondere Zielrichtung eines Mediationsverfahrens,
nämlich den Medianden ein vertrauliches Verfahren zu
gewährleisten, kann im Zusammenhang mit einer vereinbarten Verschwiegenheitspflicht nur dann nachhaltig gewährleistet werden, wenn die verfassungsrechtlich gewährleistete
Pressefreiheit unter Berücksichtigung des besonders hohen
verfassungsrechtlichen Ranges des ebenfalls verfassungsrechtlich geschützten Rechts auf informationelle Selbstbestimmung eingeschränkt wird. Anderenfalls steht zu
befürchten, dass zukünftig deutlich weniger Mediationsverfahren durchgeführt werden, da die in der Praxis nahezu
durchgehend vereinbarte Pflicht zur Verschwiegenheit einem
presserechtlichen Auskunftsanspruch gegenüber „nicht
standhalten“ würde. Hierdurch würde das MediationsG entgegen der Intention des Gesetzgebers, die Mediation durch
Erlass des Gesetzes weiter zu fördern, im Wesentlichen „leer
laufen“.
Es bleibt abzuwarten, wie die Rechtsprechung zu diesem
praxisrelevanten Themenkreis entscheiden wird. Interessant
ist dabei, dass einige Richter in der Verwaltungsgerichtsbarkeit bekanntlich selbst als Mediatoren in gerichtlichen Verfahren tätig sind und man daher von einer besonderen „Sachnähe“ ausgehen kann, zumal auch Gerichte auskunftsverpflichtete Behörden nach dem Presserecht sind.
Andreas Wiemann, BRANDI Rechtsanwälte
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Soweit ersichtlich liegt noch keine gefestigte einschlägige
verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung zu der Bedeutung
einer vereinbarten Verschwiegenheitsverpflichtung im Rahmen eines Mediationsverfahrens vor. Unseres Erachtens „Scheinzwerge“? – Kleine und mittlere Unternehkann einer solchen Vereinbarung ein solches Gewicht zukom- men in der Rechtspraxis
men, dass demgegenüber ein presserechtlicher Auskunftsanspruch zurücktreten muss.
Kleine und mittlere Unternehmen (KMU) sind in vielerlei Hinsicht Adressaten von Gesetzen, Verordnungen und sonstigen
Dies müsste zumindest in den Konstellationen gelten, in Vorschriften. Regelungsziel ist dabei zumeist die Privilegiedenen sich wenigstens einer der Medianden auf beamten- rung und zum Teil sogar die gezielte Förderung der KMU. Entrechtliche Geheimhaltungsvorgaben stützen kann. Dabei ist scheidend kommt es dabei auf den Begriff, mithin auf die
zunächst die allgemeine Fürsorgepflicht des Dienstherren Frage an, wann ein Unternehmen ein KMU ist. Die besondere
nach § 45 Beamtenstatusgesetz (BeamtStG) zu beachten. Tragweite dieser Festlegung zeigt sich aktuell am Beispiel der
Diese zählt zu den hergebrachten Grundsätzen des Berufs- Pflicht zur Durchführung eines Energieaudits nach dem Enerbeamtentums im Sinne des Art. 33 Abs. 5 GG und umfasst giedienstleistungsgesetz (EDL-G). Häufig erweisen sich
die gesetzlich ausdrücklich ausgesprochene Verpflichtung, dabei angebliche KMU als „Scheinzwerge“. Die Folgen könden Beamten bei seiner amtlichen Tätigkeit und in seiner Stel- nen mitunter drastisch sein.
lung als Beamten zu schützen. Nach § 50 Satz 4 BeamtStG
dürfen Personalaktendaten nur für Zwecke der Personalver- 1. Einführung
waltung oder Personalwirtschaft verwendet werden, es sei
denn, der Beamte willigt in die anderweitige Verwendung ein. Viele kennen den „Scheinriesen“, auf den Jim Knopf in der
Gemäß § 88 Abs. 2 Satz 1 Landesbeamtengesetz NRW dür- Augsburger Puppenkiste trifft. Dieser Riese wirkt nur aus der
fen Auskünfte aus der Personalakte an Dritte nur mit Einwilli- Ferne betrachtet groß. Je näher er kommt desto kleiner wird
gung des Beamten erteilt werden, es sei denn, dass die er. Das Gegenstück hierzu könnte der „Scheinzwerg“ sein.
Abwehr einer erheblichen Beeinträchtigung des Gemein- Aus der Ferne betrachtet wirkt er klein. Je näher man ihn
wohls oder der Schutz berechtigter, höherrangiger Interessen betrachtet, desto unwahrscheinlich und übermäßig viel grö-
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ßer wird er. Übertragen auf Unternehmen zeigt sich dieses
Phänomen häufig bei Betrieben, die nach bestem Wissen
und Gewissen zu der Auffassung gelangt sind, sie seien als
sogenanntes KMU in besonderer Weise rechtlich privilegiert.
Nicht selten nehmen diese Unternehmen Fördermittel in
Anspruch, die gerade auf KMU zugeschnitten sind.
Durch Gesetz vom 15.04.2015 wurde das EDL-G maßgeblich geändert. Das Gesetz enthält nunmehr die Pflicht zur
Durchführung eines sogenannten Energieaudits. Das Energieaudit hat bis zum 05.12.2015 stattzufinden und ist alle vier
Jahre zu wiederholen. Bei Verstößen droht ein Bußgeld in
Höhe von bis zu 50.000,00 Euro. Die Pflicht zur Durchführung
eines Energieaudits betrifft allerdings nur Unternehmen, die
nicht als KMU anzusehen sind.
nehmen ist in diesem Fall kein KMU mehr, weil sich der
Maßstab der Betrachtung auf das beherrschende Unternehmen ausweitet. Gleiches gilt, wenn eine Partnerschaft zu
einem anderen Unternehmen besteht. Dies wiederum ist der
Fall, wenn 25 % oder mehr des Kapitals oder der Stimmrechte
der Gesellschaft einem anderen Unternehmen zustehen.
Solange es sich bei diesem Partnerunternehmen nicht um
privilegierte Unternehmen handelt (staatliche Beteiligungsgesellschaften, Universitäten usw.), führt diese Partnerschaft
dazu, dass das zu betrachtende Unternehmen nicht mehr als
KMU anzusehen ist.
In der Praxis zeigt sich, dass zahlreiche Unternehmen in
der sicheren Einschätzung, sie seien ein KMU, auf die Durchführung eines Energieaudits verzichten. Gräbt man tiefer, so
stellt man häufig fest, dass diese Unternehmen auch in anderer Hinsicht von ihrem angeblichen Status als KMU profitiert
haben.
Gleiches gilt, wenn 25 % oder mehr des Kapitals oder der
Stimmrechte des zu betrachtenden Unternehmens direkt oder
indirekt von einem oder mehreren öffentlichen Stellen oder
Körperschaften des öffentlichen Rechts kontrolliert werden.
Auch in diesem Fall handelt es sich bei dem zu betrachtenden
Unternehmen nicht um ein KMU, obwohl die vordergründigen
Kennziffern erfüllt sind. Bei diesen Unternehmen handelt es
sich damit um „Scheinzwerge“. Je näher man sich die Beteiligungsstrukturen und Einflussrechte bei dem Unternehmen
ansieht, desto unwahrscheinlich größer wird es.
2. Merkmale eines KMU
4. Mögliche Folgen für die „Scheinzwerge“
Die Definition eines KMU wird durch das Europarecht geprägt.
Entscheidend sind hierbei in erster Linie zwei Kennziffern:
Die Zahl der Mitarbeiter und der Umsatz bzw. die Bilanzsumme. Als KMU gilt danach ein Unternehmen, dessen Mitarbeiterzahl unter 250 liegt und welches einen Umsatz in
Höhe von bis zu 50 Mio. Euro erwirtschaftet bzw. eine Bilanzsumme von bis zu 43 Mio. Euro ausweist.
Stellt sich bei einer näheren Betrachtung heraus, dass das
erst klein wirkende Unternehmen immer größer wird und
letztlich nicht mehr als KMU anzusehen ist, so ergeben sich
zahlreiche rechtliche Folgen. Bezogen auf die Pflicht zur
Durchführung eines Energieaudits nach dem EDL-G ist die
schlichte Folge, dass das jeweilige Unternehmen verpflichtet
ist, bis zum 05.12.2015 ein Energieaudit durchzuführen.
Wenn hier von „dem Unternehmen“ die Rede ist, so ist
damit die Gesellschaft gemeint. Maßstab der Betrachtung ist
nicht etwa ein Konzern oder ein Konzernverbund, sondern
jede einzelne angehörige Gesellschaft. Erfüllt eine Gesellschaft diese Vorgaben, ist sie allerdings noch nicht zwingend
ein KMU.
Hat das angebliche KMU Fördermittel bezogen, so folgt
aus der Tatsache, dass es sich bei dem Unternehmen nicht
um ein KMU handelt, dass die Fördermittel grundsätzlich
zurück zu gewähren sind. Erfolgte die Förderung aus europäischen Mitteln, so ist die Rückforderung von Fördermitteln
zwingend.
3. Unternehmen im Konzernverbund
5. Fazit
Denn tatsächlich ist es so, dass die soeben dargestellte
Betrachtung nur den ersten Schritt bildet. Hält die betroffene
Gesellschaft die o. g. Kennziffern ein, beschäftigt sie also
weniger als 250 Mitarbeiter und erwirtschaftet sie bis zu 50
Mio. Euro Umsatz bzw. weist sie eine Bilanzsumme von bis
zu 43 Mio. Euro aus, so ist die entsprechende Gesellschaft
nur möglicherweise ein KMU. Es kommen weitere Anforderungen hinzu.
Die Praxis zeigt, dass es viele „Scheinzwerge“ gibt. Die Erfahrung zeigt auch, dass früher oder später der Schein verblasst
und Behörden aufmerksam werden. Wenngleich dem einzelnen Unternehmen im Regelfall nicht vorgeworfen werden
kann, dass hier bewusst die KMU-Eigenschaft vorgetäuscht
wurde, so sind die Rechtsfolgen für das betroffene Unternehmen erheblich. Dies gilt insbesondere für diejenigen Fälle, in
denen Fördermittel bezogen und schließlich zurückgezahlt
werden müssen. Auch darüber hinaus gibt es zahlreiche
Pflichten, welche angebliche KMU nicht erfüllen oder nicht
erfüllt haben und daher schnellstmöglich nachzuholen
haben.
Von entscheidender Bedeutung ist, ob es sich bei dem
Unternehmen um ein verbundenes Unternehmen handelt
oder ob eine Partnerschaft zu anderen Unternehmen besteht. Ein verbundenes Unternehmen liegt vor, wenn ein
anderes Unternehmen die Mehrheit der Stimmrechte der
Aktionäre oder Gesellschafter eines anderen Unternehmens
hält oder es sonstige Vereinbarungen, Regelungen oder
organisatorische Maßnahmen gibt, die dazu führen, dass ein
anderes Unternehmen einen beherrschenden oder maßgeblichen Einfluss auf die geschäftliche Praxis des zu betrachtenden Unternehmens ausübt. Das zu betrachtende Unter-
Sollten Sie sich nicht sicher sein, ob es sich bei Ihrem
Unternehmen um ein KMU handelt, sprechen Sie uns an.
Gern analysieren wir für Sie und mit Ihnen Ihre rechtliche Situation und helfen, mögliche Risiken frühzeitig zu erkennen.
Dr. Christoph Worms, BRANDI Rechtsanwälte
[email protected]
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Umgang mit Staatlichen Fördermitteln:
Besonderheiten des Weiterleitungsverhältnisses
„Wes Brot ich ess, des Lied ich sing“ könnte die Situation, in
der sich die Empfänger staatlicher Subventionen befinden,
treffend beschreiben. Die staatlichen Gelder sind mit einer
Vielzahl von Verpflichtungen verbunden: Die Einhaltung vergaberechtlicher Regelungen, Vorhalte- und Zweckbindungsfristen und nicht zuletzt zahlreiche Nachweis- und
Berichtspflichten.
Oktober 2015
haben daher weder im Weiterleitungsbescheid, noch im Weiterleitungsvertrag ihren Platz.
Auf den ersten Blick erscheint die Weiterleitung per Vertrag für beide Seiten, d. h. für den privaten Letztempfänger
und auch für die Stadt oder Gemeinde als Erstempfänger einfach: Im Rahmen eines Vertrags ist vieles aushandelbar. Auch
hier sind allerdings Grenzen gesetzt. Letztlich muss Maßgabe dessen, was im Weiterleitungsvertrag vereinbart wird,
immer der Rahmen der Förderrichtlinie sein. Auch der
Gedanke, das Risiko weitergehend auf den Letztempfänger
zu verlagern, als dies beispielsweise bei einer Weiterleitung
per Bescheid möglich wäre, sollte nicht aufkommen. Bei der
Gestaltung des Weiterleitungsverhältnisses per Vertrag sind
daher folgende grundsätzliche Rahmenbedingungen einzuhalten:
Noch komplizierter wird es, wenn die Subventionen nicht
vom Subventionsgeber direkt an den Empfänger gehen, sondern eine weitere staatliche Stelle, z.B. die Gemeinde,
zwischengeschaltet ist. Eine ganze Reihe von Förderprogrammen sieht ein solches „Weiterleitungsverhältnis“ vor. -- Der Vertrag darf vom Letztempfänger keine weiteren Pflichten fordern, als dies in der Förderrichtlinie vorgesehen ist,
Insbesondere im Bereich der Städtebauförderung ist Antragda dies dem Förderzweck durch den Aufbau zusätzlicher
steller und (Erst-)Empfänger der staatlichen Mittel die Stadt
Hürden zuwiderlaufen kann.
oder Gemeinde. Sie wird durch den Förderbescheid des
Bundes oder des Landes (je nach Programm) direkt gebun- -- Das Risikogefüge des Weiterleitungsvertrages darf nicht
zulasten des Letztempfängers im Vergleich zu einer Weiterden. Sie verwendet die Mittel aber nicht direkt, sondern leitet
leitung per Bescheid verschlechtert werden.
sie an den privaten Letztempfänger weiter. Diese Weiterleitung kann entweder im Wege eines Verwaltungsaktes (Wei- -- Bei Unklarheiten über Nebenbestimmungen, Grundlagen,
Projektbeschreibungen o. ä. des Ausgangsbescheides
terleitungsbescheid) erfolgen oder aber – und dies ist inzwioder Regelungen der Förderrichtlinie reicht eine Regelung
schen die Regel – im Rahmen eines Weiterleitungsvertrages,
im Weiterleitungsvertrag nicht aus; zur Sicherheit aller Förder insoweit an die Stelle des Verwaltungsaktes tritt.
derempfänger ist hier eine eindeutige (schriftliche) Auslegungsregelung mit dem ursprünglichen Fördergeber zu
Der Stadt oder Gemeinde als Erstempfängerin steht es
treffen oder eine Änderung des Förderbescheides zu erwirdabei grundsätzlich frei, für welchen Weg der Weiterleitung
ken.
sie sich entscheidet. Zwingend ist für sie, dass die vertragliche Regelung im Weiterleitungsvertrag die Bindungen abbil- -- Vor Abschluss eines Weiterleitungsvertrages ist konkret
das Prozedere bei Planung, Vergabe, Abrechnung, Mitteldet, denen sie selbst unterliegt. Wenn daher der Förderbeanforderung etc. abzustimmen. Nur so fallen eventuelle
scheid, den sie selbst erhalten hat, bestimmte NebenUnklarheiten bei der Auslegung der Richtlinie und des Förbestimmungen enthält, so wird auch der Weiterleitungsvertrag
derbescheides auf und können vertraglich geregelt und ggf.
diese Nebenbestimmungen enthalten müssen. Dies allein
mit dem Fördermittelgeber geklärt werden.
schon, um die Gemeinde oder Stadt vor einer Aufhebung des
Förderbescheides und eventuellen Rückforderungen zu -- Gerade bei umfangreicheren Projekten sollten sich der private Letztempfänger und die Gemeinde/Stadt als Erstschützen.
empfängerin vor Abschluss des Weiterleitungsvertrages
darüber klar werden, ob sie sämtliche Planungs- und KoorEine ganze Reihe von Förderprogrammen sieht vor, dass
dinierungsaufgaben und den teilweise erheblichen Prüdie Stadt oder Gemeinde sich mit einem Eigenanteil an dem
fungsaufwand und Organisationsaufwand im Bereich
Projekt beteiligt. So soll das örtliche Engagement und auch
Vergabe von Aufträgen tatsächlich selbst stemmen können;
die Sinnhaftigkeit der Projekte sichergestellt werden. Häufig
hier kann die Einschaltung eines (entgeltlich handelnden
entsteht dann allerdings in den politischen Gremien der
und auch später haftenden) beauftragten Dritten sehr sinnGebietskörperschaft der Wunsch, die Leistung dieses Eigenvoll sein.
anteils an zusätzliche Bedingungen zu knüpfen, die dem
ursprünglichen Förderbescheid so nicht zu entnehmen sind.
Dies ist allerdings nicht ohne Weiteres rechtmäßig möglich: Die Anforderungen an den Umgang mit staatlichen SubventiDen Rahmen für die Förderung insgesamt bildet die Förder- onen sind hoch und werden stetig höher. Ein zweistufiges
richtlinie. Sie gibt daher auch den Rahmen für mögliche Subventionsverhältnis, wie es bei einigen FördergegenstänNebenbestimmungen vor. Im Sinne der Gleichbehandlung den die Regel ist, führt hier sogar noch zu einer erhöhten
dürfen somit nicht einzelnen Förderempfängern andere Fehleranfälligkeit. Der Aufwand eines „geistigen Probelaufs“
Nebenbestimmungen bei einer Förderung nach der Richtlinie und der sorgfältigen Abstimmung und genauen rechtlichen
auferlegt werden, als allen anderen. Weiter fortgedacht muss Prüfung bei der Erarbeitung und dem Abschluss des Weiterdies dann auch im Weiterleitungsverhältnis gelten: Es dürfen leitungsvertrages ist daher aus Gründen der Risikominimienicht zusätzliche Hürden geschaffen werden, die letztlich die rung für alle Beteiligten dringend erforderlich.
Zweckerreichung für das Programm gefährden. Der Letztempfänger darf daher nicht weiter gebunden werden, als dies Daniela Deifuß-Kruse, BRANDI Rechtsanwälte
in der Förderrichtlinie vorgesehen ist. Zusätzliche Forderun- [email protected]
gen, die in politischen Gremien oftmals aufgestellt werden,
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Seite 15
Oktober 2015
Not macht erfinderisch – Aktuelles zum
„Steuererfindungsrecht“ der Kommunen
Die angespannte Lage der kommunalen Haushalte hat in den
vergangenen Jahren unzählige Kommunen dazu bewegt,
neue Steuern und Abgaben zu erheben. Diese Vorgehensweise beschäftigt regelmäßig auch die deutschen Verwaltungsgerichte. So hat das Bundesverwaltungsgericht
(BVerwG) am 08.08.2015 entschieden, dass die Gemeinden
grundsätzlich berechtigt sind, auf das Halten und das entgeltliche Benutzen von Pferden für den persönlichen Lebensbedarf eine örtliche Aufwandsteuer („Pferdesteuer“) zu erheben
(vgl. Pressemitteilung Nr. 69/2015).
Die Entscheidung des BVerwG geht zurück auf den Vorstoß der Hessischen Stadt Bad Sooden-Allendorf (ca. 8.500
Einwohner), welche erstmals eine sog. Pferdesteuer eingeführt hat. Nachdem der Hessische Verwaltungsgerichtshof in
Kassel die Pferdesteuersatzung der beklagten Stadt im Rahmen eines Normkontrollverfahrens überprüft und für rechtmäßig gehalten hatte, lehnte das BVerwG die Durchführung
eines Revisionsverfahrens ab. Denn – so die Begründung
des Gerichts – schon nach dem bisher entwickelten Maßstäben stehe fest, dass eine örtliche Aufwandsteuer auf das Halten und entgeltliche Benutzen von Pferden erhoben werden
dürfe, soweit es sich um eine Einkommensverwendung für
den persönlichen Lebensbedarf handele. Die Befugnis zur
Erhebung örtlicher Aufwandsteuern stehe nach Art. 105
Abs. 2a Grundgesetz (GG) den Ländern zu und sei auf die
Gemeinden übertragen. Eine Aufwandsteuer solle die in der
Einkommensverwendung für den persönlichen Bedarf zum
Ausdruck kommende wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des
Steuerschuldners treffen. Örtlich sei eine Aufwandsteuer
dann, wenn sie an einen Vorgang im Gemeindegebiet
anknüpfe. Das Halten bzw. entgeltliche Benutzen eines
Pferdes gehe – vergleichbar der Hundehaltung oder dem
Innehaben einer Zweitwohnung – über die Abdeckung des
allgemeinen Lebensbedarfs hinaus und erfordere einen
zusätzlichen Vermögensaufwand. Besteuert werden dürfte
das Halten und die Benutzung von Pferden „zur Freizeitgestaltung“. Pferde, die nachweislich zum Haupterwerb im Rahmen der Berufsausübung eingesetzt würden, seien von der
Steuerpflicht ausgenommen.
Der nunmehr für zulässig erachteten Pferdesteuer
stehen – durchaus skurrile – „Steuern“ gegenüber, deren Einführung an den rechtlichen Vorgaben gescheitert ist. So etwa
der Versuch der brandenburgischen Stadt Luckau eine Steuer
auf Windräder gegen die „Verspargelung der Landschaft“ einzuführen, um die städtischen Einnahmen in sechsstelliger
Höhe zu verbessern. Die Stadt Remscheid in NRW plante die
Einführung einer sog. Handy-Mastensteuer, die immerhin
knapp 1 Million Euro pro Jahr einbringen sollte. Die Stadt
Essen wiederum erwog die Einführung einer sog. Solariensteuer, mit der ca. 150.000,00 Euro pro Jahr eingenommen
werden sollten.
Diese gescheiterten Versuche dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern fester Bestandteil der Kommunalfinanzierungen
sind. Besonders prominent sind etwa die Hundesteuer und
die Vergnügungsteuer. Die Kommunen finanzieren ihre Betätigung – grob unterteilt – aus sog. originären Einnahmen (insbesondere Gemeinschaftsteueranteile und Kommunalabgaben) und aus Zuweisungen (Finanzausgleich, Finanzzuweisung), die die Gemeinde von Bund oder Land erhält. Die
kommunalen Steuern gehören zu den sog. Kommunalabgaben. Art. 105 Abs. 2a GG weist den Ländern die Befugnis zur
Gesetzgebung über die örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern zu, solange und soweit sie nicht bundesgesetzlich
geregelten Steuern gleichartig sind. Aus dieser Vorschrift ist
abzuleiten, dass den Gemeinden kein originäres „Steuererfindungsrecht“ zusteht, sondern die Befugnis zur Steuererhebung vom Landesgesetzgeber abgeleitet ist, so dass sich das
„Erfinden“ neuer Steuern im Rahmen des Landesrechts, insbesondere §§ 2 und 3 Kommunalabgabengesetz NRW halten muss. Danach bedarf insbesondere eine Satzung, mit der
eine im Land nicht erhobene Steuer erstmalig oder erneut
eingeführt werden soll, zu ihrer Wirksamkeit der Genehmigung des Innenministeriums und des Finanzministeriums.
Allerdings sollte jede Kommune, welche die Erhebung
einer örtlichen Steuer plant, sehr genau den prognostizierten
Ertrag dem benötigten Verwaltungsaufwand gegenüberstellen, um keine bösen Überraschungen zu erleben.
Dr. Jörg Niggemeyer, BRANDI Rechtsanwälte
[email protected]
Diese Entscheidung des BVerwG wirft ein Schlaglicht auf
die aktuell sehr dynamische Entwicklung im Bereich der sog.
örtlichen Verbrauch- und Aufwandsteuern. In einer Zeitung
war zu lesen, dass allein in Nordrhein-Westfalen jährlich mit
einem deutlich zweistelligen Millionenbetrag möglicher Steuereinnahmen zu rechnen wäre, würden sich alle Städte und
Gemeinden NRW zur Einführung einer Pferdesteuer entschließen. Bislang sollen lediglich vier Kommunen Pferdesteuer erheben, keine davon aus NRW. Allerdings sollen mehr
als 220 Kommunen Interesse an der Einführung dieser neuen
Steuer gezeigt haben. Dieses Interesse dürfte sich sehr bald
in dem Erlass entsprechender Steuersatzungen konkretisieren, da nunmehr die grundsätzliche Zulässigkeit dieser neuen
Steuer höchstrichterlich feststeht.
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Seite 16
Die Modernisierung des Vergaberechts –
ein weiteres Mal
Für Neuerungen der vergaberechtlichen Vorschriften waren
in den letzten Jahren die Bundesländer verantwortlich. Bevor
aber die Vergabepraxis zur Ruhe kommen kann – auch dank
verschiedener Anwendungshinweise der Länder, einer zum
Teil maßvollen Umsetzung durch öffentliche Auftraggeber und
wegen klarstellender Entscheidungen der Nachprüfungsinstanzen –, ergreift der Bundesgesetzgeber wieder die Initiative. Mit dem „Entwurf eines Gesetzes zur Modernisierung
des Vergaberechts (VergRModG)“ hat die Bundesregierung
ein Gesetzgebungsverfahren eingeleitet, dessen Notwendigkeit sich aus den EU-Vergaberichtlinien ergibt. Die drei Richtlinien über die öffentliche Auftragsvergabe (2014/24/EU) über
die Vergabe von Aufträgen in sogenannten Sektorenbereichen (2014/25/EU) und über die Vergabe von Konzessionen (2014/23/EU) sind am 17.04.2014 in Kraft getreten und
innerhalb von zwei Jahren in deutsches Recht umzusetzen,
d.h. bis zum 18.04.2016. Im Folgenden soll ein Abriss versucht werden, indem einige wesentliche Neuerungen dargestellt und der Anspruch des Gesetzgebers geprüft wird, das
deutsche Vergaberecht „einfacher und anwenderfreundlicher“, zugleich „moderner“ und „rechtssicherer“ zu gestalten. So lauten die Ziele des Gesetzgebers.
1. Eckdaten und Strukturentscheidungen
Oktober 2015
Leistungen nicht mehr auf drei Normebenen, sondern „nur“
im GWB und in der Vergabeverordnung zu suchen sind.
2. Einige inhaltliche Highlights
Eine Auftragsänderung während der Vertragslaufzeit darf
bekanntlich dann ohne eine Neuvergabe vereinbart werden,
wenn sie nicht als „wesentliche Änderung“ anzusehen ist. Die
durch den EuGH in den Rechtssachen „pressetext“ und „Wall“
(Urteile vom 19.06.2008 – C-454/06 – und vom 13.04.2010 –
C-91/08 –) beschriebenen Fallgruppen wesentlicher Vertragsänderungen, die eine Ausschreibungspflicht nach sich
ziehen, sollen in § 132 GWB-E normiert werden (dort in Abs. 1
Satz 3 Nr. 1 bis 4). Das ist nicht überraschend. Diese Fallgruppen definieren qualitative, inhaltliche Kriterien, von denen
die Einordnung als wesentliche Vertragsänderung abhängt.
Dagegen finden sich in § 132 Abs. 2 Nr. 2 und 3 sowie
Abs. 3 GWB-E Regelungen zu Vertragsänderungen, die
quantitative Merkmale in den Vordergrund stellen. Beispielsweise können zusätzliche Leistungen in einem Auftrag einbezogen werden, wenn eine Neuvergabe aus wirtschaftlichen
oder technischen Gründen nicht möglich ist, wenn die Notwendigkeit hierfür bei Abschluss des ursprünglichen Vertrages nicht vorhersehbar war und wenn der „Preis um nicht
mehr als 50 Prozent des Werts des ursprünglichen Auftrags
erhöht“ wird. Eine weitere quantitative Anknüpfung beschränkt
vergaberechtsfreie Änderungen darauf, dass ihr Wert den
jeweiligen Schwellenwert nicht übersteigen darf und gleichzeitig nicht mehr als 10 % (bei den Liefer- und Dienstleistungsaufträgen) bzw. 15 % (bei Bauaufträgen) des ursprünglichen
Auftragswerts beträgt. Dies eröffnet Gestaltungsspielräume
für die Anpassung von bestehenden Verträgen an geänderte
Beschaffungsprofile öffentlicher Auftraggeber und an geänderte technische Rahmenbedingungen.
Der deutsche Gesetzgeber hatte keine Wahl: Das EU-Richtlinienpaket erfasst nahezu sämtliche Vergaben, deren Auftragswert die Schwellenwerte erreicht. Erstmals einbezogen
sind auch Dienstleistungskonzessionen; lediglich Vergaben
in den Bereichen Verteidigung und Sicherheit bleiben ausgeklammert. Der Bundesgesetzgeber will, um diesen Regelungsvorgaben der drei genannten Richtlinien Rechnung zu
Die damit verbundenen Möglichkeiten können als
tragen, die bisher auf nur 35 Paragrafen begrenzten Regelungen im Vierten Teil des Gesetzes gegen Wettbewerbsbe- „moderne“ Gestaltung des Vergaberechts gelten. Sie erhöhen
schränkungen (GWB) auf 88 Paragrafen erweitern (Siehe sicher auch die Rechtssicherheit. Allerdings geht dies auf
den Entwurf der GWB-Novelle (GWB-E)). Diese neue Kosten der Marktöffnung langjähriger Vertragsverhältnisse
„Normenflut“ erweckt auf den ersten Blick nicht den Eindruck, und damit möglicherweise auf Kosten der Wirtschaftlichkeit.
dass das (Kartell-)Vergaberecht anwenderfreundlicher gestalEine Kündigung von öffentlichen Aufträgen nach auftet wird. Auf der anderen Seite steht der Gewinn an Rechtsklarheit, da viele Anforderungen nun in den Gesetzestext getretenen Vergaberechtsverstößen soll § 133 GWB-E
übernommen werden sollen, die dort bisher überhaupt nicht ermöglichen. In Einzelfällen war bisher zu beobachten, dass
erwähnt waren, weil sie ihre Quelle in der Rechtsprechung (auch schwere) Vergaberechtsverstöße auftraten, die nicht
insbesondere des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), aber zur Unwirksamkeit öffentlicher Aufträge führten, weil sie nicht
in einem Nachprüfungsverfahren festgestellt wurden (vgl.
auch der deutschen Nachprüfungsinstanzen hatten.
§ 101b Abs. 2 GWB). Traten sie später zu Tage, fanden öffentDie Struktur des deutschen Vergaberechts wird sich liche Auftraggeber oftmals keinen Rechtsgrund, um das Verebenfalls merklich ändern. Unterhalb der Ebene gesetzlicher tragsverhältnis zu beenden. Das ist als Defizit empfunden
Vorschriften im Vierten Teil des GWB wird es zusätzlich eine worden, wenn der EuGH die Bundesrepublik Deutschland in
Konzessionsverordnung (KonzVO) geben. Und unterhalb der einem Vertragsverletzungsverfahren verurteilt hatte, diese
Vergabeverordnung wird voraussichtlich nur noch eine Ver- jedoch nicht als Vertragspartei an dem öffentlichen Auftrag
gabe- und Vertragsordnung für Bauleistungen (VOB) aufrecht beteiligt war und die handelnde Kommune als Vertragspartei
erhalten, nicht aber mehr die Vergabe- und Vertragsordnung den mit dem festgestellten Vergaberechtsverstoß verbunfür Leistungen (VOL) und die Vergabeverordnung für freibe- denen Zustand einer dauerhaften Verletzung des Unionsrufliche Dienstleistungen (VOF). Diese Regelwerke sollen in rechts nicht einseitig beenden konnte (so etwa in der Rechtsdie Vergabeverordnung integriert werden. Auch diese Neue- sache „Abfallentsorgung Braunschweig II“ des EuGH, Urteil
rung kann als eine Verbesserung der Anwenderfreundlichkeit vom 18.07.2007 – C-503/04 – sowie in der Rechtssache
verstanden werden, weil die zu beachtenden Vorschriften für „Abfallentsorgung Donau-Wald“ des Landgerichts München,
Liefer- und Dienstleistungen sowie für freiberufliche Urteil vom 20.12.2005 – 33 O 16465/04 –).
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Die GWB-Novelle verschafft dem öffentlichen Auftraggeber nun auch nach Vertragsschluss ein gesetzliches Kündigungsrecht in drei Fällen:
-- Eine wesentliche Vertragsänderung wurde ohne ein erforderliches neues Vergabeverfahren vorgenommen;
-- der Zuschlag ist trotz eines zwingenden Ausschlussgrundes
erteilt worden;
-- der EuGH stellt eine schwere Verletzung der Verpflichtungen aus dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union oder der neuen Vorschriften des GWB
fest.
Interessant ist, dass die Rechtsfolge einer solchen Kündigung
die Interessen der öffentlichen Auftraggeber weitgehend
schützt. Sie schulden dann lediglich eine Teilvergütung für
diejenigen erbrachten Leistungen, die trotz der Kündigung
noch von Interesse sind. Nicht einmal dies kann ein Auftragnehmer beanspruchen, wenn die Kündigung darauf beruht,
dass der Zuschlag nicht hätte erteilt werden dürfen, weil der
Auftragnehmer wegen bestimmter Katalogtaten verurteilt
wurde oder ein Bußgeld gegen sein Unternehmen verhängt
wurde und deshalb ein zwingender Ausschlussgrund gegeben war.
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Die Grenzen einer vergaberechtsfreien öffentlich-öffentlichen Zusammenarbeit werden in § 108 GWB-E umfassend und erstmals gesetzlich normiert. Unter diesem Oberbegriff fasst der Gesetzgeber zum einen die Inhouse-Vergabe,
zum anderen die interkommunale Zusammenarbeit zusammen. Erstere beschreibt vertikale, letztere horizontale Strukturen der Zusammenarbeit. In § 108 GWB-E wird nicht nur
der Stand der Rechtsprechung (insbesondere des EuGH) der
letzten 15 Jahre wiedergegeben, sondern es finden sich auch
Konkretisierungen bisher streitiger Merkmale und Normierungen zu Konstellationen, zu denen die Spruchpraxis bisher
keine Entscheidungen produziert hat. Beispielsweise wird der
kontrollierten juristischen Person, d. h. dem Auftragnehmer
einer Inhouse-Vergabe, eine „Fremdtätigkeit“ auf dem Markt
von bis zu 20 % gestattet. Auch die Bezugsgröße wird definiert: Maßgeblich sind „der durchschnittliche Gesamtumsatz
oder andere tätigkeitsgestützte Werte“ (§ 108 Abs. 7 GWB-E).
Dieser Grenzwert gilt ebenso für die an einer horizontalen
Zusammenarbeit Beteiligten.
Wenngleich noch verschiedene Fragen zu klären sein
werden, wird eines deutlich: Die Einordnung einer öffentlichöffentlichen Zusammenarbeit als Delegation (von Zuständigkeiten) oder als Zweckverbandsgründung führt nicht ohne
Weiteres zu einer Ausnahme von vergaberechtlichen AusDiese Neuerungen entziehen sich der Bewertung als schreibungspflichten. Diese stehen gesondert zur Prüfung.
„anwenderfreundlich“ oder „modern“. Sie erhöhen allerdings Dadurch wird der von kommunalen Interessenverbänden zum
die Rechtssicherheit des Vergaberechts für die Bundesrepu- Teil lautstark begrüßte erweiterte Handlungsspielraum für
blik Deutschland, die nun als Mitgliedsstaat allen staatlichen eine öffentlich-öffentliche Zusammenarbeit eingeschränkt.
Handlungsebenen die Möglichkeit gibt, rechtskräftig festge- Ob sich der Trend der letzten Jahre zu einer verstärkten Komstellte Vertragsverletzungen auch zu beenden. Dieser munalisierung der wirtschaftlichen Betätigung durch die
neuen vergaberechtlichen Vorschriften fortsetzt, ist noch
Lückenschluss war überfällig.
nicht klar vorherzusagen.
Eine Berücksichtigung strategischer Vergabeziele soll
Die Gründe für einen Angebotsausschluss sind in
§ 97 Abs. 3 GWB-E unterstützen. Das klingt in der Tat modern.
Gemeint ist, dass Aspekte wie die Qualität, Innovation, ferner §§ 123 bis 125 GWB-E neu strukturiert, erstmals auf die
soziale und umweltbezogene Aspekte „in jeder Phase des gesetzliche Ebene „gehoben“ und inhaltlich erweitert worden.
Vergabeverfahrens“ eine Rolle spielen sollen. Öffentliche Erstmals sind die Anforderungen an eine wirksame SelbstAuftraggeber sind bisher insbesondere durch Landesverga- reinigung von Bietern geregelt worden. Deren Angebot muss
begesetze gehalten, (tarifliche) Mindestlohnanforderungen nicht ausgeschlossen werden, wenn sie für verursachte
sowie Umwelt- und Effizienzkriterien zu berücksichtigen. Schäden einen Ausgleich gezahlt, die Aufklärung von StrafAuch die Frauenförderung wurde ihnen vorgeschrieben taten oder sonstigen Fehlverhaltens aktiv unterstützt und
(vgl. §§ 4, 17 bis 19 Tariftreue- und Vergabegesetz Maßnahmen ergriffen haben, die weitere vergleichbare
(TVgG-NRW)). Diese Ansätze überholt der Bundesgesetzge- Vorfälle wirksam unterbinden. Damit werden Anforderungen
ber nun insofern, als sie thematisch breiter gefasst und von normiert, die die Rechtsprechung in den letzten Jahren
Beginn bis zum Abschluss des Verfahrens zu beachten sind. herausgearbeitet hat (bspw. Oberlandesgericht München,
Die Norm räumt öffentlichen Auftraggebern kein Ermessen Beschluss vom 22.11.2012 - Verg 22/12 -).
ein, ob die genannten Aspekte berücksichtigt werden sollen.
In der Vergangenheit ist eine Vielzahl von Streitigkeiten
Lediglich deren konkrete Definition in einem Verfahren bleibt
darüber geführt worden, dass Bieter verpflichtet waren,
ihnen überlassen.
Vergaberechtsverstöße unverzüglich zu rügen. Was
Ob diese Neuerung „modern“ ist, liegt wohl im Auge des darunter im Einzelfall zu verstehen war, ob dieser unbeBetrachters. Das ist eine ordnungspolitische Frage. Es darf stimmte Rechtsbegriff mit rechtsstaatlichen Anforderungen
aber daran erinnert werden, dass die genannten Aspekte an klare Fristvorgaben überhaupt vereinbar ist und welche
noch vor wenigen Jahren als „vergabefremd“ angesehen wur- (zum Teil subtilen, zum Teil offenen) taktischen Erwägungen
den. Fest steht auch, dass die ursprünglichen Ziele vergabe- sinnvoll oder abwegig seien, sind nun weitgehend gegenrechtlicher Beschaffungsverfahren an Bedeutung verlieren, standslos. Der Gesetzgeber hat den ihm durch das Richtliniöffentliche Mittel zur Beschaffung von Leistungen möglichst enpaket eröffneten Handlungsspielraum dahingehend
sparsam einzusetzen (Minimalprinzip) oder für ein bestimmtes genutzt, eine Rügefrist von zehn Kalendertagen zu normieBudget die qualitativ oder quantitativ beste Leistung zu ren. Diese Frist wird dadurch ausgelöst, dass ein Bieter einen
Vergaberechtsverstoß positiv erkennt (§ 160 Abs. 3 Satz 1
beschaffen (Maximalprinzip).
Nr. 1 GWB-E).
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Seite 18
Durch diese Fristvorgabe entsteht ein Gleichlauf mit der
„Wartefrist“, die die Mitteilung eines öffentlichen Auftraggebers über die beabsichtigte Zuschlagserteilung auslöst.
Dadurch wird öffentlichen Auftraggebern die Bewertung
erleichtert, ob ein Zuschlag rechtssicher erteilt werden kann.
Liegt weder eine Rüge noch ein Nachprüfungsantrag vor,
nachdem eine begründete Mitteilung über die beabsichtigte
Zuschlagserteilung versandt wurde, kann das Verfahren
abgeschlossen werden. Für diese Normierung einer Rügefrist, die erstmals in Kalendertagen bemessen ist, kann dem
Gesetzgeber attestiert werden, dass die GWB-Novelle sowohl
anwenderfreundlich als auch rechtssicher und modern ausgefallen ist.
Zuletzt muss noch erwähnt werden, dass die elektronische Kommunikation in Vergabeverfahren gestärkt wird.
Die aus den EU-Richtlinien übernommene Regelung unterscheidet drei Zeitstufen: Ab 18.04.2016 sind Bekanntmachungen elektronisch beim EU-Amtsblatt einzureichen
und es müssen sämtliche Vergabeunterlagen elektronisch
abgerufen werden können, ab 18.04.2017 müssen Bieter ihre
Angebote an eine zentrale Beschaffungsstelle elektronisch
einreichen können, ab 18.10.2018 muss dies gegenüber allen
öffentlichen Auftraggebern möglich sein.
Zurzeit werden viele Bieter diese Anforderungen noch als
wenig anwenderfreundlich empfinden. Die Kosten der Einrichtung der erforderlichen Software, vor allem aber der zu
erlernende Umgang mit den Software-Tools werden als Einwände ins Feld geführt. Vergleichbare Anforderungen des
Gesetzgebers aus anderen Bereichen zeigen, dass in der Tat
erhebliche Schwierigkeiten auftreten können, die sowohl auf
Seiten der Verwender, hier: der öffentlichen Auftraggeber, als
auch von den Unternehmen zu verantworten sind. Modern
aber und auch rechtssicher ist die elektronische Kommunikation zweifellos. Und sie ist nach den Erfahrungen einiger
öffentlicher Auftraggeber, die sie bereits seit Jahren erfolgreich einsetzen, ein geeignetes Instrument zur Steigerung der
Wirtschaftlichkeit von Vergabeverfahren.
3. Bewertung und Ausblick
Das neue deutsche Kartellvergaberecht im GWB wird einige
wenige Regelungen „rechtssicherer“ und „anwenderfreundlicher“ fassen, einige weitere auch „moderner“ erscheinen
lassen. Viele Vorschriften und der Vierte Teil des GWB insgesamt werden aber auch wesentlich umfangreicher ausfallen.
Und sicher ist auch, dass die Überarbeitung des Vergaberechts damit keinen Abschluss findet. Bald geht es weiter mit
der überarbeiteten Vergabeordnung und einer neuen VOB.
Dazu bald mehr.
Dr. Christoph Jahn, BRANDI Rechtsanwälte
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Oktober 2015
Lange Leitung? – Aktuelle Rechtsprechung zur
Vergabe von „Strom- und Gaskonzessionen“ für
die Nutzung öffentlicher Verkehrswege (Update)
In unserem Rundbrief vom Oktober 2014 (S. 18 f.) hatten wir
ausführlich über die aktuelle Rechtsprechung zur Vergabe
von „Strom- und Gaskonzessionen“ für die Nutzung öffentlicher Verkehrswege für Energieversorgungsnetze der allgemeinen Versorgung berichtet. Wir nutzen diese Gelegenheit
zu einem „Update“:
Zunächst ist noch einmal in Erinnerung zu rufen, dass die
Kommunen bei der Vergabe von Konzessionsrechten für die
Nutzung ihrer öffentlichen Verkehrswege nicht hoheitlich,
sondern unternehmerisch tätig sind. Damit sind sie Verbotsadressaten des Kartellrechts, insbesondere der Vorgaben zur
Verhinderung des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung, vgl. §§ 19, 20 Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB). Die Gemeinden sind insofern
sogar Monopolisten (§ 18 Abs. 1 Nr. 1 GWB), denn sie allein
sind in der Lage, Leitungsrechte für ihre öffentlichen Verkehrswege zu verschaffen. Deshalb verlangt die gefestigte
Rechtsprechung von den Gemeinden, in ihrem Gebiet den
Nutzungsberechtigten in einem transparenten, diskriminierungsfreien Wettbewerb auszuwählen, der vorrangig an
Kriterien auszurichten ist, die das Ziel des § 1 Energiewirtschaftsgesetzes (EnWG) konkretisieren (Gewährleistung
einer sicheren, preisgünstigen, verbraucherfreundlichen, effizienten und umweltverträglichen leitungsgebundenen örtlichen Versorgung der Allgemeinheit mit Elektrizität und
Gas).
In unserem Beitrag vom Oktober 2014 hatten wir die Vorgaben an das Verfahren zur Vergabe der „Strom- oder Gaskonzession“ geschildert. Seither sind zahlreiche Entscheidungen der Kartellgerichte ergangen, von denen wir die
Folgenden ausdrücklich erwähnen wollen:
Lässt sich die Gemeinde in einem Konzessionsvertrag
Nebenleistungen versprechen, die nach § 3 Abs. 2 Nr. 1
Konzessionsabgabenverordnung (KAV) unzulässig sind, so
kann das zur Nichtigkeit des Konzessionsvertrags führen.
Das gilt allerdings dann nicht, wenn die unzulässigen
Leistungen weder ein Kriterium für die Auswahl des Konzessionärs waren noch sich in anderer Weise auf die Auswahlentscheidung der Gemeinde ausgewirkt haben (Bundesgerichtshof (BGH), Urteil vom 07.10.2014 – EnZR 86/13 –).
Nichtig ist der Konzessionsvertrag aber in jedem Fall,
wenn die Gemeinde gegen ihre Pflicht verstößt, eine vorzeitige Beendigung des laufenden Stromkonzessionsvertrags im Bundesanzeiger zu veröffentlichen (§ 46 Abs. 3 Satz
3 i. V. m. Satz 1 EnWG). Die Form der Bekanntgabe dient der
Ermöglichung eines Wettbewerbs um die Netze, deren ordnungsgemäße Erfüllung das Transparenzgebot verlangt,
welches die Vergabe von Konzessionen beherrscht. Nur
wenn bekannt ist, dass ein Wegenutzungsvertrag (vorzeitig)
zum Neuabschluss ansteht, kann auch ein Wettbewerb entstehen. Darauf weist der BGH in seiner Entscheidung „Stromnetz Schierke“ vom 18.11.2014 – EnZR 33/13 – ausdrücklich
hin. Interessant und weitreichend ist der Hinweis des BGH,
Seite 19
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dass der übergangene Wettbewerber den Nichtigkeitseinwand des Vertrages wegen des Verstoßes gegen die
Bekanntgabepflicht kaum verwirken kann. Eine nach § 134
BGB im öffentlichen Interesse (Wettbewerb um das Wegerecht zwecks Verbesserung der Versorgungsbedingungen)
angeordnete Nichtigkeit kann nämlich allenfalls in ganz engen
Grenzen überwunden werden. Deshalb ist dieser Nichtigkeitseinwand regelmäßig nicht verwirkbar.
Untersagung durch die Hintertür Verhinderung gewerblicher Sammlungen durch
fragwürdige straßenrechtliche Praxis
Die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts (OVG) Lüneburg vom 19.02.2015 - 7 LC 63/13 - war nichts weniger als ein
Paukenschlag. Sie steht in einer Reihe mit gleich mehreren
straßenbezogenen Entscheidungen des OVG in der letzten
Zeit zu Fragen der Aufstellung von Wertstoffcontainern im
öffentlichen Straßenraum. Mit seinen Entscheidungen zeigt
das OVG den betroffenen Kommunen sehr deutlich Grenzen
auf. Die vielfach anzutreffende kommunale Praxis einer pauschalen Ablehnung von Anträgen zur Aufstellung von Wertstoffcontainern im öffentlichen Straßenraum ist danach
vielfach rechtswidrig.
Zwei weitere Entscheidungen von Oberlandesgerichten
betreffen die Frage, ob von § 46 Abs. 2 EnWG – also vom
Recht der Konzessionsvergabe für Versorgungsleitungen –
auch Flüssiggasleitungen erfasst sind. Nach dem Wortlaut
des § 46 Abs. 2 EnWG werden alle Leitungen erfasst, die zu
einem Energieversorgungsnetz der allgemeinen Versorgung im Gemeindegebiet gehören. Einerseits kommt es also
darauf an, dass der Energieträger leitungsgebunden verteilt
wird. Andererseits kommt es darauf an, dass das Netz der
allgemeinen Versorgung dient. Eine Differenzierung nach der 1. Problemstellung
Art des Energieträgers nimmt das EnWG damit nicht vor.
Nach der bisherigen Tendenz der Rechtsprechung ist auch Seit Einführung des Kreislaufwirtschaftsgesetzes (KrWG)
unter Berücksichtigung des Gesetzeszwecks nicht anzuneh- zum 01.06.2012 hat sich in der Rechtsprechung eine wichtige
men, dass Flüssiggasleitungen vom Gesetz ausgenommen Tendenz herausgebildet: Die Untersagung von gewerblichen
wären. Darauf weist der Kartellsenat des Oberlandesgerichts Sammlungen ist nur in besonders gelagerten Einzelfällen
(OLG) Sachsen-Anhalt in einem Urteil vom 29.01.2015 möglich. Auch auf Grundlage einer angeblich bestehenden
(– 2 W 67/14 – EnWG) hin; auch das OLG Düsseldorf Gefährdungslage für den öffentlich-rechtlichen Entsorgungs(Urteil vom 17.09.2014 – 27 U 14/13 –) hat diesen Standpunkt träger sind die Hürden für eine Untersagung hoch und werden
vertreten.
regelmäßig gerissen. Eine systematische und strategische
Untersagung gewerblicher Sammlungen ist damit kaum mögPraxishinweis: Wir weisen auch an dieser Stelle noch- lich. Vor diesem Hintergrund weichen die betroffenen Kommals darauf hin, dass die Gemeinden gehalten sind, die Ver- munen zunehmend auf das Straßenrecht aus, um eine
fahrensanforderungen, die das EnWG und das Kartellrecht Untersagung gewerblicher Sammlungen de facto doch zu
stellen, genau einzuhalten, wenn sie sich nicht dem Nichtig- erreichen.
keitsrisiko ihrer Konzessionsverträge aussetzen wollen. Dazu
gehört insbesondere, dass das Ende bisher laufender Kon- 2. Der öffentliche Straßenraum
zessionsverträge ordnungsgemäß veröffentlicht wird – nach
der oben dargestellten Entscheidung auch und gerade dann, Der öffentliche Straßenraum bietet in aller Regel die besten
wenn der laufende Konzessionsvertrag vorzeitig beendet Möglichkeiten zur Aufstellung von Wertstoffcontainern. Hier
werden soll. Ebenfalls gehört zu den Regularien, dass recht- verfügt die öffentliche Hand zunächst über das Zugriffsrecht
lich einwandfreie Auswahlkriterien im Vorfeld festgelegt und und damit über einen strategischen Vorteil. Anträge zur Aufdann auch konsequent befolgt werden. Das EnWG schließt in stellung von Wertstoffcontainern im öffentlichen Straßenraum
§ 46 Abs. 4 Vorabfestlegungen auf kommunale Unternehmen werden zur Wahrung dieses Vorteils in aller Regel negativ
(Eigenbetriebe, Eigengesellschaften) aus. Auch die Bieter, beschieden. Immer wieder findet sich hier der Hinweis der
die sich für den Betrieb von Netzen der allgemeinen Versor- Kommunen, man wolle ein Konzept der Entsorgung der Wertgung interessieren, müssen spiegelbildlich auf die Einhaltung stoffe aus einer Hand erreichen. Die Zulassung mehrerer
dieser Verfahrensanforderungen achten.
gewerblicher Sammler im öffentlichen Straßenraum sei nicht
gewünscht. Vielfach wird diese Praxis von den gewerblichen
Sammlern
hingenommen. Dabei gibt es gewichtige Gründe
Prof. Dr. Martin Dippel, BRANDI Rechtsanwälte
dafür,
die
Zulässigkeit
dieser Praxis in Frage zu stellen.
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3. Zuständiger Entscheidungsträger
Vielfach wird in den betroffenen Kommunen schon übersehen, dass nicht ein Behördenvertreter allein über die Frage
entscheiden kann, ob der gesamte öffentliche Straßenraum
der gewerblichen Nutzung zur Aufstellung von Wertstoffcontainern entzogen wird. Das OVG Lüneburg hat in einer Vorgängerentscheidung bereits sehr klar formuliert, dass es
sich bei derartigen Entscheidungen nicht um sogenannte
„Geschäfte der laufenden Verwaltung“ handelt. Damit hat der
Rat hierüber zu befinden. Er hat in Form eines sogenannten
Sondernutzungskonzepts Kriterien festzulegen und Maßga-
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Seite 20
ben aufzustellen, die bei der Vergabe öffentlicher Stellplätze
verbindlich zugrunde zu legen sind.
Ein solches Sondernutzungskonzept existiert in vielen
Kommunen nicht. Die Vergabe des gesamten öffentlichen
Straßenraums bspw. an ein teilweise kommunales Unternehmen ist damit schon aus diesem Grunde rechtlichen Bedenken ausgesetzt.
4. Maßgaben der Entscheidung
Hinzu kommt noch, dass die Vergabe der Stellplätze regelmäßig nicht in einer Weise vonstattengeht, die den rechtlichen
Anforderungen von Transparenz und Diskriminierungsfreiheit
entspricht. Nach diesen Grundsätzen haben die Kommunen
ein Verfahren zu etablieren, das etwaige Bewerber gleich
behandelt. Die Vergabeentscheidung selbst darf nur nach
straßenrechtlichen Kriterien getroffen werden. Das OVG
Lüneburg geht in seiner Entscheidung vom 19.02.2015 sogar
noch einen Schritt weiter: Das OVG führt ausdrücklich aus,
dass das kommunale Sondernutzungskonzept das Leitbild
des § 18 KrWG i. V. m. § 17 KrWG zu berücksichtigen hat.
Sondernutzungskonzepte müssen dementsprechend in einer
Weise ausgestaltet sein, dass gewerbliche Sammler nicht
prinzipiell und von vorherein von der Vergabeentscheidung
ausgeschlossen werden. Auf diese Weise würde letztlich, so
auch das OVG, eine Untersagung der gewerblichen Sammler
durch die Hintertür erfolgen. Die Rechtsordnung würde sich
hier als in sich widersprüchlich darstellen.
5. Die kommunale Praxis
Die kommunale Praxis hingegen sieht ganz anders aus:
Häufig findet sich lediglich das Argument, es sei politisch
gewollt, dass eine Entsorgung „aus einer Hand“ erfolge.
Daher könne der Antragsteller leider nicht berücksichtigt werden. Die Entscheidung zur Vergabe öffentlicher Stellplätze ist
eine Ermessensentscheidung. Allein der Hinweis auf den
Wunsch einer „Entsorgung aus einer Hand“ wird den Anforderungen an eine Ermessensentscheidung nicht gerecht. Regelmäßig sind die entsprechenden Entscheidungen daher
angreifbar.
6. Fazit
Viele Kommunen versuchen, über den (Um-)Weg des
Straßenrechts gewerbliche Sammlungen aus dem Stadtgebiet fernzuhalten. Was ihnen hierbei über das Kreislaufwirtschaftsrecht nicht gelingt, versuchen sie über das öffentliche
Straßenrecht umzusetzen. Die Prognose lautet: Dieser Versuch wird vielfach misslingen. Jedenfalls in der bisherigen
Form stößt die kommunale Praxis an ihre Grenzen. Sie ist
häufig rechtswidrig. Allerdings gilt ebenso: Wo kein Kläger,
dort kein Richter. Allzu oft akzeptieren die gewerblichen
Sammler ablehnende Entscheidungen. Auf diese Weise wird
sich die kommunale Praxis nicht ändern. Es bedarf der aktiven
Beteiligung der Betroffenen, dass Recht bekommt, wer Recht
hat.
Dr. Christoph Worms, BRANDI Rechtsanwälte
[email protected]
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Oktober 2015
EU-Kommission erweitert Spielräume für die
öffentliche Finanzierung kommunaler Unternehmen
Kommunale Unternehmen sind vielfach auf öffentliche Finanzierungen angewiesen. Die Spielräume dafür werden durch
das EU-Beihilferecht definiert. Allerdings sind Beihilfen im
Grundsatz unzulässig und nach Art. 107 Abs. 1 des Vertrages
über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) verboten. Nur ausnahmsweise können sie nach einer Notifizierung durch die Kommission gebilligt werden. Dieser Weg ist
jedoch dornig und langwierig. Deshalb versucht die kommunale Praxis häufig, die öffentliche Finanzierung von kommunalen Unternehmen beihilferechtskonform auszugestalten,
indem sie durch einen Betrauungsakt transparent gesteuert
oder auf Beträge reduziert wird, die bestimmte Grenzwerte
unterschreiten (De minimis-Beihilfen).
Nun hat die EU-Kommission einen neuen Begründungsweg aufgezeigt, um die öffentliche Finanzierung kommunaler
Unternehmen dem Beihilfeverbot zu entziehen. Am 29.04.2015
hat sie sieben Entscheidungen verkündet, die von der bisherigen Entscheidungspraxis der Kommission und des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in einem wichtigen Merkmal
abweichen: Für eine (verbotene) Beihilfe ist es kennzeichnend, dass sie geeignet ist, den Wettbewerb zu verfälschen
oder den Handel zwischen den Mitgliedsstaaten zu beeinträchtigen. Schon wenn die Möglichkeit bestand, dass eine
öffentliche Finanzierung diese Folgen hat, wurde sie als Beihilfe eingeordnet (seit der Rechtssache „Philip Morris“, Urteil
vom 17.09.1980 – C-730/79 –). Nur in sehr wenigen Einzelfällen erkannte die Kommission an, dass eine grenzüberschreitende Wirkung nicht festgestellt werden konnte, beispielsweise für das „Freizeitbad Dorsten“ (Entscheidung der
EU-Kommission vom 12.01.2001 – M-258/2000 –).
Nun aber weist die EU-Kommission in den Entscheidungen vom 29.04.2015 darauf hin, dass rein hypothetische
oder vermutete Auswirkungen auf den Handel zwischen den
Mitgliedsstaaten nicht ausreichen. Vielmehr müsse festgestellt werden können, aus welchen Gründen eine untersuchte
Finanzierung den Wettbewerb tatsächlich verfälscht oder ihn
zu verfälschen droht und geeignet ist, den zwischenstaatlichen Handel zu beeinträchtigen. Diese Feststellungen sollen
auf der Grundlage der vorhersehbaren Auswirkungen der
Maßnahme beruhen. An die Stelle der Möglichkeit von Handelsbeeinträchtigungen tritt damit das Erfordernis, eine spürbare Auswirkung auf den zwischenstaatlichen Handel tatsächlich aufzuzeigen.
Zu diesem Zweck untersucht die Kommission in jedem der
sieben entschiedenen Einzelfälle sehr detailliert, welche
Leistungen durch die kommunalen Unternehmen angeboten
wurden, welche Wettbewerbsalternativen verfügbar waren
und ob Anzeichen für eine Auswirkung der Finanzierung positiv festgestellt werden konnten. Dabei wird zum einen die
Nachfrageseite betrachtet. Beispielsweise stellte die Kommission in der Entscheidung „Landgrafenklinik“ (SA.38035)
fest, dass von den im Jahr 2013 insgesamt aufgenommenen
3.080 Patienten kein einziger Patient einen Wohnsitz in einem
benachbarten (oder anderen) Mitgliedsstaat hatte; in der Ent-
Oktober 2015
scheidung „Public Hospitals“ (SA.37432) wurde festgestellt,
dass nicht mehr als 3 % der Patienten, die in den Jahren vor
2013 behandelt wurden, aus anderen Mitgliedsstaaten
stammten.
Zum anderen hat die EU-Kommission die Anbieterseite
untersucht. Waren auch ausländische Investoren mit vergleichbaren Angeboten vor Ort am Markt vertreten? Soweit
das der Fall war, wurde daraus abgeleitet, dass die untersuchte öffentliche Finanzierung ausländische Investoren nicht
beeinträchtigte.
Und noch etwas wird in den Begründungen der einzelnen
Entscheidungen deutlich: Die EU-Kommission sucht konkrete
Anknüpfungspunkte, die eine Spürbarkeitsschwelle beschreiben. Im Gegensatz zu sogenannten De minimis-Beihilfen
werden wettbewerbsverfälschende oder handelsbeeinträchtigende Effekte nicht quantitativ-schematisch mit einem
bestimmten „Bruttosubventionsäquivalent“ verbunden. Vielmehr nimmt die EU-Kommission an, dass Wettbewerbs- und
Handelseffekte „allenfalls marginal“ sind, wenn die gewährte
Finanzierung eher klein war, die Ressourcen der kommunalen
Unternehmen vergleichsweise begrenzt waren, die geografische Entfernung zu benachbarten Märkten anderer Mitgliedsstaaten eher groß war oder es sich um Leistungen handelte, die auf Grund ihrer Beschaffenheit nur in einem
geografisch begrenzten Markt angeboten und nachgefragt
werden.
Bewertung und Praxishinweis: Die sieben Einzelentscheidungen der EU-Kommission vom 29.04.2015 brechen in
einem wichtigen Prüfungskriterium mit der bisherigen
Entscheidungspraxis der EU-Beihilfekontrolle. Anstelle einer
hypothetischen Annahme, die bereits potenzielle Effekte
genügen ließ, wird nun konkret untersucht, welche Hinweise
auf eine Wettbewerbsbeschränkung und eine Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels tatsächlich erkennbar
sind. Ob allerdings der EuGH diese „Zeitenwende“ zu Gunsten der öffentlichen Finanzierung kommunaler Unternehmen
absegnet und die kommunalfreundlichen Prüfungen der EUKommission bestätigt, wird sich bald erweisen. Wenn es nicht
erforderlich ist, eine auf viele Jahre rechtssichere Lösung zu
finden, kann eine öffentliche Finanzierung durchaus die
Begründungsspielräume nutzen, welche sich aus den neuen
Entscheidungen der EU-Kommission ergeben. Die bisher
gebotene Absicherung durch einen Betrauungsakt oder durch
De minimis-Erklärungen kann dann zurückgestellt werden.
In jedem Fall sollten allerdings die in den Entscheidungen
geprüften Kriterien untersucht und die Ergebnisse dokumentiert werden.
Dr. Christoph Jahn, BRANDI Rechtsanwälte
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Seite 21
TVgG NRW weiter auf dem Prüfstand – Verstoß
gegen EU- und Landesverfassungsrecht?
Das Nordrhein-Westfälische Tariftreue- und Vergabegesetz
(TVgG) NRW kommt nicht aus den Schlagzeilen. Im August
2015 hat das Verwaltungsgericht Düsseldorf das Gesetz dem
Verfassungsgerichtshof NRW wegen Verstößen gegen die
Landesverfassung zur Prüfung vorgelegt.
Das TVgG NRW macht die Vergabe öffentlicher Aufträge
bekanntlich von einer Vielzahl von Faktoren abhängig, die mit
der Auswahl eines für die Erfüllung des konkreten Beschaffungsbedarfs der öffentlichen Hand geeigneten Unternehmens und der Ermittlung des wirtschaftlichsten Angebotes
wenig zu tun haben. Mit dem Ziel, einen fairen Wettbewerb
um das wirtschaftlichste Angebot bei der Vergabe öffentlicher
Aufträge unter gleichzeitiger Berücksichtigung von Sozialverträglichkeit, Umweltschutz und Energieeffizienz sowie Qualität und Innovation der Angebote zu fördern und zu unterstützen, gibt der Gesetzgeber vor, öffentliche Aufträge nur an
solche Unternehmen zu vergeben, die sich an tarifliche
Mindestarbeitsbedingungen und die Kernarbeitsnormen der
Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) halten, sowie ggf. in
ihren Betrieben Maßnahmen zur Förderung von Frauen sowie
der Vereinbarkeit von Beruf und Familie durchführen.
Die Unvereinbarkeit einzelner Regelungen des TVgG
NRW mit höherrangigem Recht hat der Europäische
Gerichtshof (EuGH) im vergangenen Jahr bereits festgestellt. In dem am 18.09.2014 (Bundesdruckerei GmbH/Stadt
Dortmund) entschiedenen Fall ging es um die Ausführung
eines öffentlichen Auftrags durch Arbeitnehmer in einem Mitgliedsstaat (hier: Polen), in dem die Mindestlohnsätze niedriger sind, als in dem Mitgliedsstaat, dem der öffentliche Auftraggeber (hier: Deutschland) angehört.
Der EuGH akzeptiert grundsätzlich das Ziel eines EUMitgliedsstaates eine angemessene Bezahlung der die öffentlichen Aufträge ausführenden Arbeitnehmer zu gewährleisten.
Mit landesgesetzlichen Regelungen kann „Sozialdumping“
ebenso entgegengewirkt werden, wie einer Benachteiligung
konkurrierender Unternehmen, welche ihren Arbeitnehmern
ein angemessenes Entgelt zahlen. Allerdings gibt § 4 TVgG
NRW die Zahlung eines festen Mindestentgeltes vor, das
erforderlich sein mag, um eine angemessene Entlohnung vor
dem Hintergrund der in Deutschland bestehenden Lebenshaltungskosten zu gewährleisten. Das feste Mindestentgelt
hat aber keinen Bezug zu den in anderen EU-Mitgliedsstaat
bestehenden Lebenshaltungskosten. Die Regelung nimmt
den in einem EU-Mitgliedsstaat ansässigen Unternehmen mit
geringeren Lebenshaltungskosten als in Deutschland die
Möglichkeit, aus den zwischen den jeweiligen Lohnniveaus
bestehenden Unterschieden einen Wettbewerbsvorteil zu
ziehen. Diese Regelung geht über das Ziel des Arbeitnehmerschutzes hinaus und ist daher mit der Dienstleistungsfreiheit, vgl. Art. 56 des Vertrages über die Arbeitsweise der
Europäischen Union (AEUV) nicht vereinbar.
Bereits in der „Rüffert“-Entscheidung vom 03.04.2008
zum damaligen Berliner Landesvergabegesetz hatte der
EuGH klargestellt, dass sich ausschließlich auf öffentliche
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Seite 22
Auftragsvergaben beziehende nationale Rechtsvorschriften
nicht dazu geeignet sind, eine angemessene Entlohnung von
Arbeitnehmern sicherzustellen, wenn es keine Anhaltspunkte
dafür gibt, dass die auf dem privaten Markt tätigen Arbeitnehmer nicht desselben Schutzes bedürfen, wie die im Rahmen
öffentlicher Aufträge tätigen Arbeitnehmer. Auf diesen Grundsatz hat der EuGH in der aktuellen Entscheidung zum TVgG
NRW noch einmal ausdrücklich hingewiesen, obgleich dieser
Aspekt im konkreten Fall nicht entscheidungserheblich war.
Ein aus diesem Grunde möglicher Verstoß des TVgG NRW
gegen EU-Recht steht daher weiterhin im Raum.
Das Urteil des EuGH aus 2014 hat in der Praxis zur Folge,
dass bei einer Dienstleistungserbringung in einem anderen
EU-Mitgliedsstaat von Bietern und Nachunternehmern eine
Zahlung des sogenannten vergabespezifischen Mindestlohns
gemäß § 4 Abs. 3 TVgG NRW nicht verlangt werden darf.
Hierauf weist zwischenzeitlich auch das Ministerium für Wirtschaft, Energie, Industrie, Mittelstand und Handwerk des
Landes NRW auf seiner Homepage hin.
Zwischenzeitlich steht auch eine weitere Detailregelung in
§ 4 TVgG NRW wegen eines Verstoßes gegen höherrangiges
Recht auf dem Prüfstand. Nach § 4 Abs. 2 TVgG NRW dürfen
öffentliche Aufträge im Bereich des öffentlichen Personenverkehrs auf Straße und Schiene nur an Unternehmen vergeben werden, die sich bei der Angebotsabgabe verpflichten,
ihren Arbeitnehmer mindestens den Lohn zu zahlen, der in
einem sogenannten repräsentativen Tarifvertrag vereinbart ist. Dies gilt auch dann, wenn das Unternehmen einem
anderen Tarifvertrag mit einem geringeren Lohn unterliegt.
Dabei muss sich das Unternehmen nicht nur an eine absolute
Lohnuntergrenze halten, sondern es muss seine Mitarbeiter
vollständig nach der Entgeltordnung des Tarifvertrages entlohnen, den der Arbeitsminister für repräsentativ erklärt hat.
In NRW gelten im Bereich des ÖPNV zwei unterschiedliche Branchentarifverträge, der Spartentarifvertrag für die
kommunalen Verkehrsbetriebe und der NWO-Tarifvertrag für
die privaten Omnibusunternehmen. Im November 2012 hatte
das Arbeitsministerium des Landes NRW entschieden, dass
der Spartentarifvertrag der kommunalen Verkehrsbetriebe
der sogenannte „repräsentative“ Tarifvertrag, gemäß § 4 Abs.
2 TVgG NRW ist und somit bei der Vergabe öffentlicher Aufträge Beachtung finden muss.
Gegen diese Entscheidung hat der Verband NordrheinWestfälischer Omnibusunternehmer (NWO) erfolgreich Klage
erhoben. Das Verwaltungsgericht Düsseldorf hält das
TVgG NRW im ÖPNV für verfassungswidrig und hat das
Gesetz deshalb mit Beschluss vom 27.08.2015 (Az. 6 K
2793/13) dem Verfassungsgerichtshof für das Land NRW
zur Prüfung vorgelegt.
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Oktober 2015
Der Volltext des Vorlagenbeschlusses ist noch nicht veröffentlicht. Aus der Pressemitteilung des Gerichtes ergibt sich
jedoch das Folgende:
Als monopolartiger Nachfrager von ÖPNV-Dienstleistungen unterläuft das Land NRW – so das VG Düsseldorf – die vom Grundgesetz und in der Landesverfassung
garantierte Tarifautonomie. Die landesrechtliche Tariftreuepflicht sei jedenfalls seit dem Inkrafttreten des bundesrechtlichen Mindestlohngesetzes Anfang 2015 verfassungsrechtlich nicht mehr hinnehmbar. Der gesetzliche Mindestlohn
nach dem Mindestlohngesetz biete bereits ausreichenden
Schutz vor Lohn- und Sozialdumping. Prekäre Löhne im
ÖPNV seien zudem nicht feststellbar. Die Landesregierung
habe trotz ausdrücklicher Aufforderung keine Belege dafür
vorgelegt, dass im ÖPNV von NRW tatsächlich prekäre Löhne
gezahlt werden. Die durchschnittlichen Tariflöhne im ÖPNV
NRW lägen – so das VG Düsseldorf – bei etwa 13,00 Euro pro
Stunde und damit weit oberhalb des gesetzlichen Mindestlohns von 8,50 Euro. Außerdem sei nicht nachvollziehbar,
warum anstelle einer einzigen Lohnuntergrenze das gesamte
Entgeltsystem des repräsentativen Tarifvertrages einschließlich aller Alters- und sonstigen Zuschläge übernommen werden müsse. Die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs bleibt abzuwarten.
Wegen der nicht abreißenden Kritik an dem Landesvergabegesetz wurde die ursprünglich erst vier Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes vorgesehene wissenschaftliche Evaluierung des Gesetzes hinsichtlich Effizienz und Zielerreichung
vorgezogen. Durch das Ministerium für Wirtschaft, Energie,
Industrie, Mittelstand und Handwerk des Landes NRW wurde
ein Evaluationsgutachten bei der Kienbaum Management
Consultants GmbH in Auftrag gegeben. Das im Frühjahr 2015
vorgestellte Gutachten kam zu dem Ergebnis, dass das
Gesetz zu Umsetzungsschwierigkeiten beim Anwendungsvollzug und einem erheblichen bürokratischen
Mehraufwand geführt habe. Vergebene Aufträge hätten sich
durch die Anforderungen des TVgG NRW um durchschnittlich rund 12 Prozent verteuert. Dies sei darauf zurückzuführen, dass sich der Bieterkreis verkleinert habe bzw. die
teilnehmenden Bieter den Aufwand für die erhöhten Anforderungen des TVgG in ihre Angebote eingepreist hätten. Es
bleibt daher zu hoffen, dass der Landesgesetzgeber die
erheblichen rechtlichen Bedenken und das Ergebnis des Evaluierungsgutachtens alsbald zum Anlass für deutliche Vereinfachungen nehmen wird.
Dr. Annette Mussinghoff-Siemens, BRANDI Rechtsanwälte
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Seite 23
Oktober 2015
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BRANDI Rechtsanwälte wurde für die JUVE
Awards 2015 in der Kategorie „Kanzlei des
Jahres für den Mittelstand“ nominiert.
BRANDI feiert Jubiläum
Wir blicken zurück auf 120 Jahre innovative Rechtsberatung für Familienunternehmen: Die Wirtschaftskanzlei BRANDI feierte am Samstag, den 11.07.2015 ihr 120jähriges Jubiläum. Weitere Informationen finden Sie unter www.brandi.net.
Dr. Jörg Niggemeyer hält am 05.11.15 in Bielefeld ein vhw-Seminar über Vorkaufsrechte der Gemeinde nach dem BauGB. Weitere Informationen finden Sie unter
www.brandi.net.
Prof. Dr. Martin Dippel referiert am 27.11.2015 im Rahmen der Berliner Abfallrechtstage 2015 zum Thema „Aktuelle Streitfragen im Bereich der gewerblichen und
gemeinnützigen Abfallsammlungen – Stand der Rechtsprechung“.
Weitere Informationen finden auf www.brandi.net.
Dr. Sven Hasenstab lehrt ab Oktober 2015 erstmals an der International Hellenic
University (IHU) in Thessaloniki in deren internationalem Master-Studiengang „LLM
in Transnational and European Commercial Law, Mediation, Arbitration and Energy
Law“. Sein Kurs „Transnational Commercial Law I“ wird sich u.a. mit dem UN-Kaufrecht (CISG) und anderen Texten zur Rechtsvereinheitlichung im grenzüberschreitenden Vertragsrecht befassen.
Bastian Reuter wurde durch den Vorstand der Rechtsanwaltskammer Hamm die
Befugnis verliehen, die Bezeichnung „Fachanwalt für Medizinrecht“ zu führen.
Unsere Bielefelder Notare haben weitere Unterstützung bekommen: Herr Robert
Herold ergänzt seit dem 01.09.2015 mit seiner langjährigen Erfahrung unser Team
der Bürovorsteher und Notarfachwirte Herbert Wagner, Thomas Nolte und Andrea
Heinig.
Die in unseren Beiträgen allgemein erteilten Hinweise und Empfehlungen können und sollen
eine anwaltliche Beratung nicht ersetzen. Für Anregungen und Rückfragen stehen Ihnen die
jeweiligen Autoren der Beiträge oder die Redaktion ([email protected]) gern zur Verfügung.
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