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Predigt zum 3. Fastensonntag 2016-02-29 zu Lk 23, 43 ff
Thema: Nie allein
Liebe Schwestern und Brüder,
Filippo war Schüler der vierten Klasse. Er wurde ein Leben lang gequält
und gepiesackt. Sie drängten ihn an den Rand des Wahnsinns.
Sein ganzes Leben bestand aus einem einzigen Test; denn alles wurde
ständig auf die Probe gestellt: seine Geduld, seine Nerven, seine
Gefühle. Pausenlos hackten sie auf ihn rum. Die Schüler, die Lehrer,
sogar der Schulleiter, alle schikanierten ihn, schmierten ihn an, machten
ihn ständig fertig.
Eines Tages gab die Religionslehrerin, Frau Melchior, den Schülern den
Auftrag, Kreuze zu malen. Ricardo, der Banknachbar von Filippo, sprang
plötzlich auf und rief: „Ha, ha, ha, guckt euch mal den Filippo an. Der hat
wieder nichts kapiert. Der malt doch tatsächlich ein Kreuz mit zwei
Köpfen. So ein Schwachsinn.“
Frau Melchior schaute sich das Bild an und fragte Filippo: „Was hast Du
dir denn dabei gedacht?“ Da sagte Filippo: “Genau wie ich.“ „Wer ist
genau wie du?“ fragte Frau Melchior zurück. Der Jesus, genau wie ich!
Genauso behandelt wie ich. Genauso rumgeschubst, angepöbelt,
ausgeschimpft und angespuckt wie ich. Darum zwei Köpfe: Ein Kopf für
Jesus, ein Kopf für mich.“
Von Menschen verstoßen, ausgegrenzt zu werden ist wie Töten.
Bert Brecht sagt: Es gibt viele Arten zu töten: Man kann mit Blicken, mit
Worten töten, mit dem Gerede hinter dem Rücken. Man kann jemand so
lange durch den Kakao ziehen, bis er jedes Renommee verloren hat.
Man kann jemanden mobben, fertigmachen, ihn in den Herzinfarkt
treiben. Man kann ihn merken lassen: Nur ich bin der Gute, Du taugst
nichts. Es gibt in unserem Lande viele Arten zu töten, die wenigsten
davon sind verboten.
Menschen, die in den sozialen Tod getrieben werden wie Filippo, stehen
auf dieser Welt ganz allein da. Sie sind lebend schon tot, tot für die
Liebe. In dieser abgrundtiefen Verzweiflung stellt Filippo plötzlich fest:
Da bin ich nicht allein. Da ist einer neben mir, der kennt diese
Verzweiflung, weil er genauso behandelt wurde wie ich. Der kann mein
Trost sein.
Mich erinnert das an die Kreuzscene des Evangeliums. Da ist neben
Jesus einer gekreuzigt. Kein Opfer wie Filippo, sondern ein Täter, ein
Schächer, ein Verbrecher, vielleicht sogar ein Mörder. Auch er ist in
seiner Todesangst ganz allein und sieht plötzlich Jesus neben sich und
erkennt sofort: „Der ist meine einzige Hoffnung. In dem steckt eine
Wirklichkeit, die ist größer als mein Tod.“ Und dann äußert er seine
große Sehnsucht: „Denk an mich, wenn Du in Dein Paradies kommst.“
Und Jesus? Selbst im allergrößten Schmerz wendet er sich ihm zu. Er
fragt gar nicht nach seiner Schuld, nach dem Verbrechen. Er sagt auch
nicht: Geh erst einmal zur Beichte, dann erwecke Reue, und dann
können wir darüber reden, ob Dir das Paradiese zusteht. Nein, das alles
kommt nicht über seine Lippen. Er sagt einfach nur: „Deine Sehnsucht
nach einem endlich geglückten Leben reicht aus. Noch heute wirst Du
mit mir im Paradies sein.“
Viele Menschen fragen sich, wenn sie älter werden: „Bin ich in meiner
letzten Stunde allein gelassen? Schaffe ich es dann noch, im letzten
Augenblick eine Lebensbeichte abzulegen, um Vergebung zu bitten für
alles, was im Wege steht?“ Hier wird gesagt: „Gott ist nicht kleinlich.
Wenn Du allein die Sehnsucht nach ihm hast, bist Du gerettet.“
Liebe Mitchristen, das Christentum ist eine Erlösungsreligion. Und diese
Erlösung wird niemanden vorenthalten, der sich danach sehnt, und wenn
er noch so schuldig geworden ist wie der Schächer am Kreuz.
Und Gott lässt in seiner Verzweiflung niemanden allein. Er gibt ihm seine
Kraft wie Filippo und dem Schächer.
Ganz allein bist Du in keiner Situation deines Lebens. Denn dieser
Jesus, er ist genau wie Du. Das zeigt sich auch in ganz anderen
Situationen. Letzte Woche habe ich in Brilon in einem Altenheim eine
Buchlesung gemacht. Ich habe aus dem Buch erzählt von einer 18jährigen, die im Januar 2015 nach Dortmund fuhr, um dort eine
Aufnahmeprüfung für die Musikschule zu machen. Sie war
unwahrscheinlich nervös und hatte große Angst vor der Prüfung. Und
jetzt auch noch ein Schneesturm auf der Autobahn. Ein Stau folgte dem
anderen. Und dann die Panik: Hoffentlich bin ich pünktlich. Verzweifelt
betete sie zu Gott. Aber der löste den Stau auch nicht auf. Dann
erinnerte sie sich daran, dass am Abend vorher die Mutter ihre
Nervosität bemerkt und ihr die Hand auf die Stirn gelegt und gesagt
hatte: „Pia, Du bist morgen nicht allein. Gott ist auch im Chaos bei Dir.“
Das beruhigte sie. Sie kam gerade noch pünktlich an und bestand die
Prüfung. Nachdem ich diese Geschichte vorgelesen hatte, meldete sich
eine Frau und sagte: Ich habe hier im Altenheim meine Mutter. Jetzt
weiß ich, dass sie nicht allein ist, auch nicht wenn ich sie abends
verlasse. Göttliche Kraft ist bei mir, auch wenn sie irgendwann plötzlich
sterben und ich nicht da sein sollte.
Dieser Jesus, genau wie ich. Sagt Filippo. Zu ihm kann ich sprechen wie
zu einem Freund, z.B. mit diesem Gebet:
Gib mir die Gabe zu reden, o Gott,
von dem, was mich zuinnerst bewegt,
führ mich heraus aus der Sprachlosigkeit,
führ mich in das Land des Lebens, o Gott,
lass blühen wie Blumen meine Worte,
gib mir die Gabe der Tränen, o Gott,
genährt aus dem Grundwasser der Seele,
lass fließen die erstarrten Gefühle,
wasch ab die seelenlos-schweigsame Erziehung,
gib mir die Gabe der Tränen, o Gott,
hilf mir zu trinken aus dem See der Erinnerung,
reinige mich vom Staub sinnloser Gebote,
gib mir den Mut in dein Licht zu schauen,
gib mir das Wasser des Lebens, o Gott.