WIE VIEL WACHSTUM BRAUCHT TIROL? Eine empirische Untersuchung über den Zusammenhang von Wirtschaftswachstum und Arbeitslosigkeit in Tirol Gesellschaft für Angewandte Wirtschaftsforschung Wissen schafft Werte Abteilung Wirtschaftspolitik und Strategie Vorsprung durch Information Dezember 2015 Wie viel Wachstum braucht Tirol? Studienautoren: Mag. Stefan Garbislander Wirtschaftskammer Tirol Dr. Florian Wakolbinger und Dr. Stefan D. Haigner Gesellschaft für Angewandte Wirtschaftsforschung Dezember 2015 Wie viel Wachstum braucht Tirol? Wie viel Wachstum braucht Tirol? – Kurzzusammenfassung Immer wieder wird behauptet, dass für einen spürbaren Rückgang der Arbeitslosenquote ein Wirtschaftswachstum von real 2% erforderlich sei. Eine Untersuchung, ob diese wirtschaftspolitische „Faustregel“ auch auf Ebene des Bundeslandes Tirol gilt, gab es bislang nicht, liegt nun aber mit dieser Studie vor. Grundsätzlich gilt: Um einen Rückgang der Arbeitslosenquote herbeizuführen, muss das tatsächliche reale Wirtschaftswachstum das so genannte natürliche – konjunkturunabhängige – Wachstum übersteigen. Die vorliegende Untersuchung für Tirol zeigt: Zuletzt lag das natürliche – konjunkturunabhängige – reale BIP-Wachstum in Tirol bei 1,2%. Wenn das tatsächliche reale Wirtschaftswachstum in Tirol in einem Jahr um 1 Prozentpunkt über seiner natürlichen Wachstumsrate liegt, also real bei 2,2%, so ist innerhalb eines Jahres mit einem Rückgang der Arbeitslosenquote im Ausmaß von nur 0,09 Prozentpunkten zu rechnen. Der Gesamteffekt innerhalb mehrerer Jahre ist mit 0,14 Prozentpunkten geringfügig höher. Die so genannte „2%-Faustregel“ hat also in Tirol keine Gültigkeit. Ein tatsächliches reales Wirtschaftswachstum von 2% führt nur zu einem marginalen Rückgang der Arbeitslosigkeit in Höhe von 0,07 Prozentpunkten. Auch in Österreich insgesamt ist die Reaktion der Arbeitslosenquote auf ein höheres tatsächliches als natürliches Wirtschaftswachstum eher schwach, aber tendenziell höher als in Tirol. Wenn das tatsächliche Bruttoinlandsprodukt in Österreich um einen Prozentpunkt schneller wächst als das natürliche Bruttoinlandsprodukt, ist innerhalb eines Jahres mit einem Rückgang der Arbeitslosenquote von 0,14 Prozentpunkten zu rechnen. Dieser Effekt erhöht sich innerhalb mehrerer Jahre auf 0,21 Prozentpunkte. Analoges lässt sich bei der Reaktion der Beschäftigung auf das Wirtschaftswachstum feststellen: Ein tatsächliches Wirtschaftswachstum von 2,2% führt in Tirol innerhalb eines Jahres zu einem Anstieg der Beschäftigung im Vergleich zum Vorjahr von nur 0,17%. Der über meh- rere Jahre verteilte Gesamteffekt beträgt 0,2%. Der konjunkturunabhängige Sockel an Arbeitslosigkeit (natürliche Arbeitslosenquote) ist im Zeitverlauf von etwa 2,5% auf zuletzt über 6% in Tirol und über 7% in Österreich gestiegen. Besonders deutlich war der Anstieg in den Jahren seit der Krise und bis Mitte der 1990erJahre. Die geringe Reaktion der Gesamtbeschäftigung sowie der Arbeitslosenquote in Tirol kann zum Teil dadurch erklärt werden, dass in Tirol mit der Beherbergung und Gastronomie eine Branche im Österreich-Ver- GAW – Gesellschaft für Angewandte Wirtschaftsforschung Seite 1 Wie viel Wachstum braucht Tirol? gleich überrepräsentiert ist, bei der die Reaktion der Beschäftigung (gemessen an der Anzahl der Beschäftigten) auf das Wirtschaftswachstum besonders schwach ausgeprägt ist. Die Bruttowertschöpfung im Sektor Beherbergung und Gastronomie ist zwischen 1995 und 2013 in Tirol um knapp 65% gestiegen, die Anzahl an Nächtigungen jedoch lediglich um knapp 9%. Der Zuwachs an Bruttowertschöpfung resultiert daher nicht primär aus einem Zuwachs der Menge an verkauften Dienstleistungen, welche auch mit einem gewissen Beschäftigungswachstum (gemessen an der Anzahl der Beschäftigten) einhergehen würde, sondern geht auf eine gestiegene Qualität der Dienstleistungen und damit gestiegenen Preisen zurück. Die geringe Reaktion der Beschäftigung bzw. der Arbeitslosenquote im Sektor Beherbergung und Gastronomie ist jedoch gleichzeitig auch positiv für die Wirtschaftsstandort Tirol: Denn in einem Konjunkturabschwung fungiert dieser Sektor als Stabilisator für den Arbeitsmarkt. So führt ein Rückgang der Bruttowertschöpfung lediglich zu einem geringen Anstieg der Arbeitslosenquote. Ein Blick auf den Arbeitsmarkt in den Jahren 2009 und 2010 nach Ausbruch der jüngsten Finanzkrise zeigt, dass die Arbeitslosenquote in diesem Sektor weit weniger stark gestiegen ist als in anderen Sektoren. Und da in Tirol dieser Sektor von überdurchschnittlicher Bedeutung ist (Wertschöpfungsanteil von 2012 13,8%, im Österreich Durchschnitt jedoch nur 4,9%) stieg in diesem Jahr die Arbeitslosenquote in Tirol weniger stark als im ÖsterreichDurchschnitt. Ein weiterer möglicher Grund für die geringeren Reaktionen der Beschäftigung und der Arbeitslosenquote auf Veränderungen des Bruttoregionalproduktes kann in einem Mismatching zwischen den Qualifikationseigenschaften der Arbeitnehmer und den Qualifikationsanforderungen der offenen Stellen liegen. Wenn sich die Qualifikationserfordernisse von offenen Stellen häufig von den Qualifikationen der Arbeitssuchenden unterscheiden, so wird die Arbeitslosigkeit bzw. Beschäftigung auch bei guten konjunkturellen Voraussetzungen nur wenig reagieren. Wie ausgeprägt ein derartiges Mismatching in Tirol ist, kann an dieser Stelle nicht beurteilt werden, sondern wäre Gegenstand einer weitergehenden, tiefergehenden Untersuchung. Seite 2 Wenn es am Tiroler Arbeitsmarkt tatsächlich einen Mismatch im signifikanten Ausmaß gibt, bedeutet dies auch, dass die Tiroler Unternehmen nicht ihr volles Potenzial ausschöpfen können und die Tiroler Wirtschaft hinter ihren Möglichkeiten zurückbleibt. GAW – Gesellschaft für Angewandte Wirtschaftsforschung Wie viel Wachstum braucht Tirol? Schlussfolgerungen für die Politik: Die Studie zeigt, dass die Arbeitslosenquote Tirols, aber auch jene Österreichs, kaum auf Veränderungen des Wachstums im Konjunkturverlauf reagieren. Gleichzeitig zeigt sich, dass der konjunkturunabhängige Sockel an Arbeitslosigkeit in Tirol von 1980 2,5% auf zuletzt über 6% gestiegen ist (in Österreich auf über 7%). Eine kurzfristige Rückführung der Arbeitslosigkeit durch Konjunktur- und Wachstumsprogramme erscheint daher kaum möglich. Vielmehr sind Maßnahmen angezeigt, die strukturell (d.h. unabhängig vom Konjunkturverlauf) wir- ken. Dazu zählen etwa Investitionen in Bildung und Ausbildung oder eine weitere Flexibilisierung der Arbeitsmärkte. In diesem Zusammenhang wäre zunächst die konkrete Ausrichtung strukturell wirkender Maßnahmen festzulegen. Dazu sollte zuerst erhoben werden, inwieweit und in welchen Dimensionen die Charakteristika der Arbeitssuchenden mit den Charakteristika der offenen Stellen übereinstimmen. Wird in bestimmten Dimensionen (z.B. Qualifikation) eine deutliche Diskrepanz zwischen Angebot und Nachfrage nach Ar- beitskräften (Mismatching) festgestellt, so kann in diesen Dimensionen gezielt gegengesteuert werden. Es ist zu erwarten, dass derartige Maßnahmen erst mittel- bis langfristig wirksam sind. Eine nicht ganz schlechte Nachricht: Sollte auch in den kommenden Jahren das tatsächliche Wirtschaftswachstum Österreichs (und Tirols) unter dem natürlichen Wirtschaftswachstum liegen, ist zwar mit einem weiteren Anstieg der Arbeitslosigkeit zu rechnen. Dieser Anstieg wird allerdings in Tirol aufgrund der geringeren Konjunkturabhängigkeit des Arbeitsmarktes geringer ausfallen als im Rest von Österreich. D.h. bei gleichzeitig steigender Arbeitslosigkeit wird der für Tirol positive Abstand zwischen dem Österreich-Durchschnitt und der Arbeitslosenquote in Tirol weiter zunehmen! GAW – Gesellschaft für Angewandte Wirtschaftsforschung Seite 3 Wie viel Wachstum braucht Tirol? Abstract Um einen Rückgang der Arbeitslosenquote herbeizuführen, muss das tatsächliche reale Wirtschaftswachstum das sogenannte natürliche (konjunkturunabhängige) Wachstum übersteigen. In Tirol betrug letzteres zuletzt etwa 1,2%, das tatsächliche reale Wachstum war allerdings geringer. Im Vergleich mit dem Bund zeigt sich dabei für Tirol, dass bei Überschreitung des natürlichen Wachstums die Reaktion am Arbeitsmarkt geringer ausfällt als in Österreich. Dies obwohl schon der Reaktionszusammenhang in Österreich im internationalen Vergleich als schwach bezeichnet werden kann. Konkret zeigt sich: Liegt das tatsächliche Tiroler Wirtschaftswachstum in einem Jahr um einen Prozentpunkt über seiner natürlichen Wachstumsrate, so sinkt die Arbeitslosenquote in Tirol im selben Jahr um gerade einmal 0,09 Prozentpunkte. Innerhalb von drei Jahren beträgt der Rückgang 0,14 Prozentpunkte. Ein Grund für die schwache Reaktion der Arbeitslosenquote in Tirol dürfte dabei auch die spezielle Branchenstruktur mit ihrem hohen Beherbergungs- und Gastronomieanteil sein. Ein Faktum, das nicht unbedingt negativ zu bewerten ist, konnte sich doch der Tiroler Arbeitsmarkt in den Jahren 2008/09 und folgende nicht zuletzt auch dadurch vom Bundestrend positiv abheben. Ein weiterer Grund könnte in einem gewissen „Mismatching“ am Arbeitsmarkt zu finden sein, das seinerseits zu einem abgeschwächten Reaktionszusammenhang führt. Einleitung Im Jahr 1962 berichtete der amerikanische Ökonom Arthur Melvin Okun erstmals über einen negativen Zusammenhang zwischen dem Wirtschaftswachstum und der Arbeitslosenquote, den er bei einer Analyse von makroökonomischen Daten der USA gefunden hatte. Diese empirische Regularität, auch Okun’sches Gesetz genannt, ist seither zentraler Bestandteil makroökonomischer Lehrbücher und wurde bereits in mehreren empirischen Studien nachgewiesen. Dabei wurde festgestellt, dass sich die Stärke des Zusammenhangs erheblich zwischen verschiedenen Volkswirtschaften unterscheidet. So zeigen beispielsweise Untersuchungen für Österreich einen vergleichsweise schwachen Reaktionszusammenhang (siehe beispielsweise Ball et al. (2013) für eine Untersuchung mit aktuellen Daten). Eigene Schätzungen auf regionaler Ebene, die die jeweiligen strukturellen Besonderheiten abbilden, liegen jedoch bislang noch nicht vor. In der vorliegenden Studie werden daher erstmals Schätzungen für das Bundesland Tirol durchgeführt. Die Hauptaussage des Okun’schen Gesetzes besteht dabei darin, dass ein über eine bestimmte Rate hinausgehendes reales Wirtschaftswachstum notwendig ist, damit die Arbeitslosenquote sinkt. Diese Rate wird typischerweise „natürliches Wachstum“ oder „Beschäftigungsschwelle“ genannt. Wachstum unterhalb dieser Rate reicht dabei deshalb nicht zur Reduktion der Arbeitslosenquote aus, weil etwa im Zeitverlauf die Produktivität steigt, wodurch die Arbeitsintensität der Produktion reduziert und damit Wirtschaftswachstum ohne Beschäftigungswachstum erzielt werden kann. Ein weiterer Grund kann bspw. in einer steigenden Partizipationsrate liegen, die ceteris paribus ebenso zu einem Anstieg der Arbeitslosenquote führt. Auf Tirol bezogen entspricht dabei die natürliche Wachstumsrate der Wachstumsrate des sogenannten natürlichen Bruttoregionalproduktes1. Dieses ist ein um kurzfristige konjunkturelle Schwankungen bereinigtes Bruttoregionalprodukt. Analog dazu kann auch die 1 Wird im Folgenden vom Bruttoregionalprodukt oder Bruttoinlandsprodukt gesprochen, sind immer die realen Größen gemeint. In der vorliegenden Arbeit wurden dazu immer die Basispreise 2010 zugrunde gelegt. Seite 4 GAW – Gesellschaft für Angewandte Wirtschaftsforschung Wie viel Wachstum braucht Tirol? natürliche Arbeitslosenquote bestimmt werden. Diese ergibt sich durch die Bereinigung der tatsächlich beobachteten Arbeitslosenquote um Schwankungen im Konjunkturverlauf. Die natürliche Arbeitslosenquote ist demgemäß der konjunkturunabhängige Sockel an Arbeitslosigkeit, der im Konjunkturverlauf gemäß dem Okun’schen Gesetz unter- bzw. überschritten wird. Abbildung 1 zeigt für das Bundesland Tirol das tatsächliche sowie das natürliche Bruttoregionalprodukt2 im Zeitverlauf. Wie ersichtlich ist das tatsächliche Bruttoregionalprodukt im Betrachtungszeitraum 1980 bis 2013 um etwa 160% gewachsen. In den letzten zehn Jahren lag das tatsächliche Bruttoregionalprodukt im Zeitraum 2005 bis 2008 zunächst deutlich über dem natürlichen Niveau, während es seit 2009 unterhalb des natürlichen Niveaus liegt. Abbildung 1: Tatsächliches und natürliches Bruttoregionalprodukt Tirols 30 25 Mrd. Euro 20 15 10 5 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 0 tatsächliches Bruttoregionalprodukt natürliches Bruttoregionalprodukt Basispreise 2010. Quelle: RGR (2015), VPI (2015). 2 In der vorliegenden Studie erfolgt die Bereinigung um den Konjunkturverlauf sowohl beim Bruttoinlandsprodukt bzw. Bruttoregionalprodukt als auch bei der Arbeitslosenquote mit dem Hodrick-Prescott-Filter (HPFilter). Dies ist ein Standardverfahren, dessen hauptsächlicher Vorteil darin liegt, dass dazu keine Annahmen über die funktionale Form des Trends in den zu ermittelnden Variablen (bereinigte Bruttoinlandsprodukt, Bruttoregionalprodukt, Arbeitslosenquote) erforderlich sind. GAW – Gesellschaft für Angewandte Wirtschaftsforschung Seite 5 Wie viel Wachstum braucht Tirol? Deutlicher sichtbar sind die konjunkturellen Schwankungen um die natürliche Arbeitslosenquote, welche in Abbildung 2 dargestellt sind. Bemerkenswert ist zudem der Verlauf der natürlichen Arbeitslosenquote. Während Okun von einem konstanten Verlauf der natürlichen Arbeitslosenquote ausgegangen ist, geht aus mehreren ex-post Betrachtungen unstrittig hervor (siehe z.B. Buscher et al., 2000), dass sich der konjunkturunabhängige Sockel an Arbeitslosigkeit und damit die natürliche Arbeitslosenquote im Zeitverlauf erhöht hat. Auch zeigt Abbildung 2, dass die natürliche Arbeitslosenquote im Bundesland Tirol insbesondere in den 1980er Jahren und der ersten Hälfte der 1990er Jahre stark von etwa 2,4% auf knapp über 5,5% angewachsen ist. Von der Jahrtausendwende bis zur Wirtschaftskrise 2008/09 war die natürliche Arbeitslosenquote weitgehend konstant, während sie seither auf knapp über 6% gestiegen ist.3 Dem Konjunkturverlauf entsprechend lag die tatsächliche Arbeitslosenquote in den Krisenjahren über und in den Jahren davor deutlich unter der natürlichen Arbeitslosenquote. Zum Ende des Betrachtungszeitraums lag die tatsächliche Arbeitslosenquote etwa 0,2 Prozentpunkte über der natürlichen. Abbildung 2: Tatsächliche und natürliche Arbeitslosenquote Tirols 7,0% 6,0% 5,0% 4,0% 3,0% 2,0% 1,0% 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 0,0% tatsächliche Arbeitslosenquote natürliche Arbeitslosenquote Quelle: AMS (2015). Erforderliches Wachstum Aus den oben ausgeführten Überlegungen resultiert insbesondere für wirtschaftspolitische Entscheidungsträger die Frage, welches tatsächliche Wirtschaftswachstum zu einem bestimmten Zeitpunkt erforderlich ist, um den konjunkturabhängigen Teil der Arbeitslosigkeit zu eliminieren und die Arbeitslosenquote auf ihr natürliches Niveau zurückzuführen. Dieses „erforderliche“ Wirtschaftswachstum hängt dabei entscheidend von zwei Faktoren ab. Zum einen wird es dadurch bestimmt, ob das BIP bzw. BRP zum Zeitpunkt der Betrachtung über oder unter dem natürlichen Niveau liegt. Zum anderen wird das „erforderliche Wachstum“ durch die Wachstumsrate des natürlichen BIP bzw. BRP selbst bestimmt. 3 Die natürliche Arbeitslosenquote Österreichs entwickelt sich im Zeitverlauf in etwa entsprechend der natürlichen Arbeitslosenquote Tirols, ihr Niveau ist aber durchwegs höher. Ein grafischer Vergleich der beiden Quoten (Österreich, Tirol) ist im Anhang zu finden. Seite 6 GAW – Gesellschaft für Angewandte Wirtschaftsforschung Wie viel Wachstum braucht Tirol? Liegt das tatsächliche BIP/BRP zum Zeitpunkt der Betrachtung unter dem natürlichen BIP/BRP, so muss, um die konjunkturabhängige Arbeitslosigkeit zu eliminieren, sein Wachstum die Differenz zum natürlichen BIP/BRP ausgleichen, wobei zu berücksichtigen ist, dass das natürliche BIP/BRP selbst im Zeitverlauf wächst. Wenn zum Betrachtungszeitpunkt das tatsächliche BIP beispielsweise 1% unter dem natürlichen BIP liegt und dieses eine reale Wachstumsrate von 1,5% aufweist, so sind 2,5% reales Wachstum notwendig, um den konjunkturabhängigen Teil der Arbeitslosigkeit zu eliminieren und die Arbeitslosenquote auf ihr natürliches Niveau zurückzuführen. Dementsprechend weniger Wachstum ist notwendig, wenn das BIP zum Betrachtungszeitpunkt über dem natürlichen Niveau liegt. In einem derartigen Fall wird aber auch die Arbeitslosigkeit unter ihrem natürlichen Niveau liegen, sodass eine Rückführung der Arbeitslosigkeit auf ihr natürliches Niveau einer Erhöhung der Arbeitslosigkeit gleichkommt. Abbildung 3: Tatsächliches, erforderliches und natürliches Wachstum des Bruttoregionalproduktes Tirols 10% 8% 6% 4% 2% 0% -2% 2013 2012 2011 2010 2009 2008 2007 2006 2005 2004 2002 2001 2003 erforderliches Wachstum 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 4,5% 4,5% 4,5% 4,5% 4,5% 4,5% 4,4% 4,3% 4,2% 4,0% 3,7% 3,5% 3,3% 3,2% 3,0% 2,9% 2,9% 2,8% 2,7% 2,7% 2,6% 2,4% 2,3% 2,2% 2,1% 1,9% 1,7% 1,5% 1,3% 1,2% 1,2% 1,2% 1,2% tatsächliches Wachstum des Bruttoinlandsproduktes 2000 1999 1998 1997 1996 1995 1994 1993 1992 1991 1990 1989 1988 1987 1986 1985 1984 1983 1982 1981 -4% natürliches Wachstum des Bruttoregionalproduktes Basispreis 2010. Quelle: RGR (2015), VPI (2015). GAW – Gesellschaft für Angewandte Wirtschaftsforschung Seite 7 Wie viel Wachstum braucht Tirol? In der ersten Grafik von Abbildung 3 wird das tatsächliche Wachstum des Tiroler BRP mit der für eine Rückführung der Arbeitslosigkeit auf ihr natürliches (konjunkturunabhängiges) Niveau erforderlichen Wachstumsrate verglichen. Wie ersichtlich wäre in den Jahren seit 2009 ein höheres Wachstum als das tatsächlich eingetretene erforderlich gewesen. Zumindest in drei der fünf Jahre des Betrachtungszeitraums seit 2009 ist die Arbeitslosenquote daher auch tatsächlich gestiegen, und sie lag in diesen Jahren auch über ihrem natürlichen Niveau. Für die Gegenwart oder die Zukunft betreffende Aussagen ist gemeinhin nicht bekannt, ob sich das BIP/BRP am Betrachtungszeitpunkt über oder unter dem natürlichen Niveau befindet. Das zur Rückführung der Arbeitslosigkeit auf ihr natürliches Niveau bzw. darunter erforderliche Wachstum kann daher nicht bestimmt werden. Allerdings kann bestimmt werden, wie hoch die Wachstumsrate sein muss, um die Arbeitslosenquote im Vergleich zum Vorjahr konstant zu halten. Dabei wird angenommen, dass die natürliche Arbeitslosenquote im Betrachtungszeitraum konstant bleibt. Diese Annahme ist bei kurzfristigen Betrachtungen jedenfalls und bei mittelfristigen Betrachtungen weitgehend realistisch.4 Alle nachfolgend angestellten Überlegungen basieren daher auf der Annahme einer konstanten natürlichen Arbeitslosenquote. Bei konstanter natürlicher Arbeitslosenquote steigt die tatsächliche Quote im Vergleich zum Vorjahr, wenn das tatsächliche BIP/BRP langsamer wächst als das natürliche BIP/BRP. Wächst es hingegen schneller, so sinkt die Arbeitslosigkeit im Vergleich zum Vorjahr. Das Wachstum des natürlichen BRP Tirols ist in der zweiten Grafik von Abbildung 3 dargestellt. Wie ersichtlich hat sich dieses Wachstum im Betrachtungszeitraum verlangsamt und liegt gegenwärtig etwa bei real 1,2%.5 Im Durchschnitt ist gegenwärtig diese reale Wachstumsrate erforderlich, um die Arbeitslosenquote im Vergleich zum Vorjahr konstant zu halten. Zusammenhang Wirtschaftswachstum und Arbeitslosenquote Wie eingangs erwähnt unterscheidet sich die Reaktion der Arbeitslosenquote auf Abweichungen des tatsächlichen Wirtschaftswachstums vom Wachstum des natürlichen Bruttoinlandsproduktes erheblich zwischen einzelnen Volkswirtschaften. Eine auf aktuellen Daten (1980 – 2011) basierende vergleichende Analyse des Internationalen Währungsfonds unter 20 verschiedenen entwickelten Volkswirtschaften (Ball et al., 2013) weist dabei für Österreich die geringste Reaktion unter den 20 untersuchten Volkswirtschaften aus. 4 Wie aus Abbildung 2 hervorgeht, ist die natürliche Arbeitslosenquote in den letzten 20 Jahren des Betrachtungszeitraums (1994 – 2013) um insgesamt lediglich 0,6 Prozentpunkte oder 0,029 Prozentpunkte pro Jahr gestiegen. Die üblicherweise getroffene Annahme einer konstanten natürlichen Arbeitslosenquote ist in diesem Zeitraum daher weitgehend gültig. In den Jahren zuvor (1980 – 1993) stieg die natürliche Arbeitslosenquote stärker an (0,22 Prozentpunkte pro Jahr). Bei steigender natürlicher Arbeitslosigkeit (etwa aufgrund großer Produktivitätsfortschritte) würde auch dann, wenn das tatsächliche Wachstum das natürliche übersteigt, die tatsächliche Arbeitslosenquote nicht notwendigerweise sinken. Ihr Anstieg würde im Zeitraum schnelleren Wachstums aber jedenfalls gebremst. Ob in einem derartigen Fall die tatsächliche Arbeitslosigkeit zurückgeht, hängt davon ab, inwieweit der Effekt schnelleren Wachstums den Anstieg der natürlichen Arbeitslosenquote kompensieren kann. 5 Das Wachstum des natürlichen (konjunkturunabhängigen) BIP Österreichs entwickelte sich im Zeitverlauf in etwa entsprechend dem Wachstum des natürlichen BRP Tirols. Das natürliche BRP Tirols weist aber durchwegs höhere Wachstumsraten auf. Ein grafischer Vergleich findet sich im Anhang. Seite 8 GAW – Gesellschaft für Angewandte Wirtschaftsforschung Wie viel Wachstum braucht Tirol? Ball et al. (2013) zufolge würde dann, wenn das tatsächliche BIP in Österreich um einen Prozentpunkt schneller wächst als das natürliche BIP, die Arbeitslosenquote um 0,14 Prozentpunkte zurückgehen. Ähnlich niedrig ist die gemessene Reaktion in Japan (Rückgang der Arbeitslosenquote um 0,15 Prozentpunkte), etwas höher in Italien (0,25 Prozentpunkte), der Schweiz (0,23 Prozentpunkte), Norwegen (0,29 Prozentpunkte) und Deutschland und Frankreich (jeweils 0,36 Prozentpunkte) und deutlich höher in den USA (0,43 Prozentpunkte), den Niederlanden (0,51 Prozentpunkte) und Spanien (0,85 Prozentpunkte).6 Umgekehrt jedoch erhöht sich die Arbeitslosenquote bei langsamerem tatsächlichen als natürlichem Wachstum in Ländern mit niedriger Reaktion der Arbeitslosigkeit deutlich weniger stark als in Ländern mit hoher gemessener Reaktion. Für die großen länderspezifischen Unterschiede existieren dabei mehrere plausible Begründungen. Wahrscheinlich ist, dass in Ländern mit niedriger gemessener Reaktion Konjunkturauf- und -abschwünge eher durch eine Erhöhung der individuellen Arbeitszeit bzw. Kurzarbeit abgefedert werden, während in Ländern mit hoher Reaktion eher die Anzahl der Beschäftigten mit Konjunkturauf- und -abschwüngen reagieren (Buscher et al., 2000). Darüber hinaus können geringe Reaktionen durch ein „Mismatching“ von Arbeitskräften und offenen Stellen auftreten. Passen die Qualifikationen von Arbeitssuchenden schlecht mit den Qualifikationserfordernissen bei offenen Stellen überein, so kann insbesondere in Konjunkturaufschwüngen die gemessene Reaktion der Arbeitslosigkeit schwächer ausfallen. Im Rahmen der vorliegenden Studie führen wir für Österreich und Tirol eigene Schätzungen mit einer geringfügig geänderten Spezifikation durch. Die alternative Spezifikation erlaubt uns, kurz-, mittel- und langfristige Effekte einer positiven Abweichung des tatsächlichen vom natürlichen Wachstum zu untersuchen. Wir gehen in diesem Zusammenhang davon aus, dass sich Veränderungen des Wirtschaftswachstums auf den Arbeitsmärkten zum Teil verzögert auswirken und wählen daher eine hinreichend flexible Spezifikation, die eine Messung derartiger Verzögerungen erlaubt. 7 Tabelle 1 weist die Ergebnisse für Österreich und Tirol aus. Wie ersichtlich entsprechen unsere Österreich-Schätzungen der Reaktion der Arbeitslosenquote innerhalb eines Jahres auf Basis von Daten aus dem Zeitraum 1980 bis 2013 sehr genau den von Ball et al. (2013) publizierten Werten. Auch unsere Ergebnisse zeigen, dass eine positive Überschreitung des natürlichen Wachstums um einen Prozentpunkt zu einem Rückgang der Arbeitslosenquote um 0,14 Prozentpunkte (im Vergleich zum Vorjahr) führt. 6 Ball et al. (2013) beziehen ihre Schätzungen ausschließlich auf die kurzfristige Reaktion der Arbeitslosigkeit. Sie verwenden Zeitreihen von 1980 bis 2011 und schätzen ein einfaches Regressionsmodell der Form (𝑢𝑡 − 𝑢𝑡∗ ) = 𝛽(𝑌𝑡 − 𝑌𝑡∗ ) + 𝜀𝑡 . Die Variablen 𝑢𝑡 und 𝑢𝑡∗ bezeichnen dabei die tatsächliche und natürliche Arbeitslosenquote zum Zeitpunkt t (gemessen in Anteilen, d.h. 4% = 0,04), und die Variablen 𝑌𝑡 und 𝑌𝑡∗ die Logarithmen des realen tatsächlichen und natürlichen BIP zum Zeitpunkt t. 𝜀𝑡 ist ein Störterm, der weitere die Arbeitslosigkeit beeinflussende Größen auffängt. Der Koeffizient 𝛽 gibt demgemäß an, zu welcher Änderung der Arbeitslosenquote (gemessen in Prozentpunkten) eine Abweichung des tatsächlichen vom natürlichen BIP um ein Prozent führt. Er ist typischerweise negativ. Da das Modell ohne Konstante geschätzt wird, liegt bei einem negativen Koeffizienten 𝛽 die tatsächliche Arbeitslosenquote bei einer positiven Abweichung des BIP vom natürlichen Niveau stets unter der natürlichen Arbeitslosenquote, und umgekehrt. 7 ∗ ) Unser Regressionsmodell lautet in Anlehnung an Buscher et al. (2000): (𝑢𝑡 − 𝑢𝑡∗ ) = 𝛼(𝑢𝑡−1 − 𝑢𝑡−1 + ∗) ∗ 𝛽(𝑌𝑡 − 𝑌𝑡 + 𝜀𝑡 . Eine Abweichung des tatsächlichen vom natürlichen BIP, 𝑌𝑡 − 𝑌𝑡 , wirkt sich in einem derartigen Modell einerseits direkt in derselben Zeitperiode, andererseits aber auch indirekt in den Folgeperioden aus. Dies deshalb, da 𝑌𝑡 − 𝑌𝑡∗ die Abweichung der Arbeitslosenquote 𝑢𝑡 − 𝑢𝑡∗ bestimmt, die ihrerseits gemäß ∗ unserem Modell aber auch 𝑢𝑡+1 − 𝑢𝑡+1 (mit)bestimmt. GAW – Gesellschaft für Angewandte Wirtschaftsforschung Seite 9 Wie viel Wachstum braucht Tirol? Tabelle 1: Reaktion der Arbeitslosenquote auf eine Überschreitung des natürlichen Wachstums um 1%-Punkt Reaktion innerhalb eines Jahres [in %-Punkten] Reaktion innerhalb von zwei Jahren [in %-Punkten] Reaktion innerhalb von drei Jahren [in %-Punkten] Gesamte Reaktion [in %-Punkten] Anzahl Beobachtungen R² Quelle: Eigene Berechnungen basierend auf VGR (2015), RGR (2012) und VPI (2015). Standardfehler in Klammern. *** am 1%-Niveau, ** am 5%-Niveau, * am 10%-Niveau signifikant von 0 verschieden. Als Faustregel galt bisher, dass ein reales Wachstum von 2% nötig sei, um die Arbeitslosenquote spürbar zu senken. Unseren Berechnungen zufolge würde ein derartiges Wachstum gegenwärtig die Arbeitslosigkeit zwar reduzieren, da die natürliche Wachstumsrate auf unter 2% geschrumpft ist. Die Reduktion wäre mit 0,07 Prozentpunkten innerhalb eines Jahres und 0,12 Prozentpunkten innerhalb von drei Jahren allerdings kaum spürbar. Österreich Tirol -0,143** -0,089*** (0,052) (0,030) -0,192*** -0,122*** (-0,068) (0,040) -0,203*** -0,136*** (0,076) (0,045) -0,207*** -0,144*** (0,080) (0,051) 33 33 0,26 0,42 Im Unterschied zu Ball et al. (2013) zeigt sich jedoch in der vorliegenden Spezifikation, dass dies jener Effekt ist, der innerhalb eines Jahres zu erwarten ist. Über einen Betrachtungszeitraum von drei Jahren erhöht sich dieser Effekt auf 0,20 und in Summe zu einem Gesamteffekt von 0,21 Prozentpunkten. Die für das Bundesland Tirol geschätzte Reaktion der Arbeitslosenquote ist noch schwächer als für Österreich. Innerhalb von einem Jahr würde eine Überschreitung des natürlichen Wachstums um einen Prozentpunkt (z.B. tatsächliches reales Wachstum 2,2%, natürliches Wachstum 1,2%) die Arbeitslosenquote lediglich um 0,09 Prozentpunkte senken. Der Effekt innerhalb mehrerer Jahre ist mit 0,14 Prozentpunkten geringfügig höher. Konjunkturauf- bzw. -abschwünge wirken sich am Tiroler Arbeitsmarkt demgemäß weniger stark aus als am österreichischen Arbeitsmarkt, welcher seinerseits im internationalen Vergleich ein Arbeitsmarkt mit einer geringen Reaktion auf Konjunkturschwankungen ist. Zusammenhang Wirtschaftswachstum und Beschäftigung Analog zur Reaktion der Arbeitslosenquote kann die Reaktion der Beschäftigung auf eine Abweichung des tatsächlichen vom natürlichen Wachstum geschätzt werden. Diese als Verdoorn-Relation bekannte Herangehensweise ist eine Alternative zur Okun-Relation, deren Vorteil zum einen darin besteht, direkt die Reaktion der Beschäftigung auf konjunkturbedingte Abweichungen vom natürlichen Wachstum zu messen.8, 9 Zum anderen können die Koeffizienten der Verdoorn-Relation direkt als Elastizitäten interpretiert werden. Das heißt, die Koeffizienten geben an, wie stark die prozentuale Veränderung der Beschäftigung (wiederum im Vergleich zum Vorjahr) ausfällt, wenn das natürliche Wachstum um 8 Die Reaktion der Arbeitslosenquote (Okun-Relation) ist zwar für die Ausrichtung der Wirtschaftspolitik, deren Ziel eine Reduktion der Arbeitslosigkeit ist, bedeutsamer. Sie misst jedoch nicht direkt die Beschäftigungsintensität von Konjunkturschwankungen. Denn die Arbeitslosenquote steigt und fällt nicht ausschließlich wegen Veränderungen der Beschäftigung, sondern etwa auch wegen Veränderungen der Anzahl beschäftigungswilliger Personen. ∗ ) Das Regressionsmodell lautet in diesem Fall (𝑛𝑡 − 𝑛𝑡∗ ) = 𝛼(𝑛𝑡−1 − 𝑛𝑡−1 + 𝛽(𝑌𝑡 − 𝑌𝑡∗ ) + 𝜀𝑡 , wobei 𝑛𝑡 und 𝑛𝑡∗ die Logarithmen der tatsächlichen und natürlichen Beschäftigung sind. Analog unserem Modell zur Schätzung der Reaktion der Arbeitslosenquote beeinflusst eine Abweichung vom Wachstum des natürlichen BIP/BRP sowohl im selben Jahr als auch (indirekt) in den Folgeperioden die Beschäftigung. 9 Seite 10 GAW – Gesellschaft für Angewandte Wirtschaftsforschung Wie viel Wachstum braucht Tirol? einen Prozentpunkt überschritten wird. Tabelle 2 zeigt die ermittelten Reaktionen für Österreich und Tirol. Wie ersichtlich steigt die Beschäftigung in Österreich um 0,31%, wenn das tatsächliche Wachstum das natürliche Wachstum um einen Prozentpunkt übersteigt. Die gesamte über mehrere Jahre verteilte Reaktion beträgt 0,61%. Tabelle 2: Reaktion der Beschäftigung auf eine Überschreitung des natürlichen Wachstums um 1%-Punkt Reaktion innerhalb eines Jahres [in %] Reaktion innerhalb von zwei Jahren [in %] Reaktion innerhalb von drei Jahren [in %] Gesamte Reaktion [in %] Anzahl Beobachtungen R² Quelle: Eigene Berechnungen basierend auf VGR (2015), RGR (2012) und VPI (2015). Standardfehler in Klammern. *** am 1%-Niveau, ** am 5%-Niveau, * am 10%-Niveau signifikant von 0 verschieden. Österreich Tirol 0,314*** 0,170* (0,075) (0,091) 0,465*** 0,196* (0,122) (-0,110) 0,538*** 0,200 (0,162) (0,116) 0,605*** 0,200 (0,234) (0,117) 17 17 0,639 0,213 Damit zeigt sich so wie bereits bei der Reaktion der Arbeitslosenquote auch bei der Reaktion der Beschäftigung für das Bundesland Tirol ein wesentlich geringerer Effekt. Innerhalb eines Jahres steigt die Beschäftigung im Vergleich zum Vorjahr um 0,17%, wenn das tatsächliche BRP um einen Prozentpunkt schneller wächst als das natürliche. Der über mehrere Jahre verteilte Gesamteffekt beträgt 0,2%. Welchen Effekt hat die Branchenstruktur auf die Ergebnisse? Ein reales Wachstum von 2% würde die Beschäftigung in Tirol innerhalb eines Jahres um 0,14% und innerhalb von drei Jahren um 0,17% erhöhen. Um zu untersuchen, weshalb die Beschäftigung und Arbeitslosenquoten in Tirol weniger stark auf Über- und Unterschreitungen des Wachstums des natürlichen Bruttoregionalproduktes reagieren als in Österreich, werden in weiterer Folge Unterschiede in der Branchenstruktur beleuchtet und branchenspezifische Beschäftigungsreaktionen mittels Verdoorn-Relationen geschätzt. GAW – Gesellschaft für Angewandte Wirtschaftsforschung Seite 11 Wie viel Wachstum braucht Tirol? Abbildung 4: Anteile der Branchen an der gesamten Bruttowertschöpfung 2012 Landwirtschaft Bergbau 1,5% 0,9% 0,5% 0,1% 18,7% 17,9% Sachgütererzeugung Energie, Wasser 3,0% 3,8% 6,2% 6,8% Bau 13,0% 10,9% Handel 8,9% 8,3% Verkehr, Telekommunikation 4,9% Beherbergung/Gastronomie 13,8% 4,3% 3,8% Finanz/Versicherung 18,6% Unternehmensdienstleister, freie Berufe 15,0% 5,2% 3,9% Öffentliche Verwaltung 5,5% 5,5% Erziehung/Unterricht 6,7% 6,9% Gesundheit/Soziales Kunst/Kultur/Erholung 2,8% 2,3% Österreich Tirol Quelle: RGR (2015), VGR (2015). Abbildung 4 zeigt die Anteile der Branchen gemäß ÖNACE-Einsteller-Gliederung an der gesamten Bruttowertschöpfung für Österreich und das Bundesland Tirol. Wie ersichtlich und wenig überraschend weist die Branche Beherbergung und Gastronomie in Tirol einen fast dreimal so hohen Anteil an der gesamten Bruttowertschöpfung auf wie in Österreich. In den weiteren bedeutenden Branchen Sachgütererzeugung (Industrie), Handel sowie Unternehmensdienstleister und freie Berufe sind die Anteile in Tirol hingegen etwas geringer als in Österreich. Tabelle 3 zeigt die branchenspezifischen kurzfristigen Reaktionen der Beschäftigung (in Prozent) auf eine positive Abweichung des tatsächlichen Wachstums vom natürlichen um einen Prozentpunkt. Für die Sachgütererzeugung werden beispielsweise für Österreich und Tirol ähnliche Werte gemessen. Wenn die Bruttowertschöpfung tatsächlich um einen Prozentpunkt schneller wächst als ihr natürliches Niveau, so führt dies zu einer Erhöhung Seite 12 GAW – Gesellschaft für Angewandte Wirtschaftsforschung Wie viel Wachstum braucht Tirol? der Beschäftigung von 0,27% (Österreich) bzw. 0,24% (Tirol). Für die Baubranche wird eine Reaktion in ähnlicher Größenordnung geschätzt, wobei hier der Wert für Tirol höher ist als für Österreich. Tabelle 3: Kurzfristige Reaktion der Beschäftigung auf eine Überschreitung des Wachstums der natürlichen Bruttowertschöpfung um 1%-Punkt Sachgütererzeugung [in %] Tourismus [in %] Handel [in %] Unternehmensdienstleister, freie Berufe [in %] Bau [in %] Anzahl Beobachtungen Quelle: Eigene Berechnungen basierend auf VGR (2015), RGR (2012) und VPI (2015). Standardfehler in Klammern. *** am 1%-Niveau, ** am 5%-Niveau, * am 10%-Niveau signifikant von 0 verschieden. Österreich Tirol 0,268*** 0,236** (0,078) (0,080) 0,257 -0,009 (0,344) (0,288) 0,122 0,164 (0,120) (0,123) 0,450** 0,436 (0,166) (0,572) 0,288** 0,343* (0,108) (0,167) 17 17 Für die weiteren Branchen ist die Reaktion der Beschäftigung auf Abweichungen vom natürlichen Wachstum der Bruttowertschöpfung (mit Ausnahme der Schätzung für Unternehmensdienstleister, freie Berufe in Österreich) nicht signifikant von null verschieden. Insbesondere im Tourismus und im Handel scheint die Reaktion der Beschäftigung auf Abweichungen vom natürlichen Wachstum sehr gering zu sein. Abbildung 5: Veränderung der realen Bruttowertschöpfung in Beherbergung und Gastronomie, der Anzahl an Nächtigungen sowie der Beschäftigung in Tirol 1995 bis 2013 Reale Wertschöpfung Anzahl Nächtigungen Beschäftigung 64,6% 8,6% 10,3% Quelle: RGR (2015), Land Tirol (2015). Die geringe Reaktion der Gesamtbeschäftigung (Tabelle 2) sowie der Arbeitslosenquote (Tabelle 1) in Tirol kann somit zum Teil dadurch erklärt werden, dass in Tirol mit der Beherbergung und Gastronomie eine Branche im Österreich-Vergleich überrepräsentiert ist, in der die Reaktion der Beschäftigung besonders schwach ausgeprägt ist. Eine mögliche Erklärung dafür liefert Abbildung 5. Wie ersichtlich ist die reale Bruttowertschöpfung im Sektor Beherbergung und Gastronomie zwischen 1995 und 2013 in Tirol um knapp 65% gestiegen, die Anzahl an Nächtigungen jedoch lediglich um knapp 9%. Der Zuwachs an Bruttowertschöpfung resultiert daher nicht primär aus einem Zuwachs GAW – Gesellschaft für Angewandte Wirtschaftsforschung Seite 13 Wie viel Wachstum braucht Tirol? der Menge an verkauften Gütern und Dienstleistungen, welcher auch mit einem gewissen Beschäftigungswachstum einhergehen würde. Vielmehr ist zu vermuten, dass der Wertschöpfungszuwachs in der Beherbergung und Gastronomie auch auf eine gestiegene Qualität der Dienstleistungen und damit einhergehend auf gestiegene Preise zurückzuführen ist, sodass der Zuwachs an Bruttowertschöpfung auch ohne Steigerung der Anzahl an Beschäftigten bewerkstelligt werden konnte. Die geringe Reaktion der Beschäftigung bzw. der Arbeitslosenquote im Sektor Beherbergung und Gastronomie ist jedoch gleichzeitig auch positiv. Denn in einem Konjunkturabschwung fungiert dieser Sektor als Stabilisator für den Arbeitsmarkt. So führt ein Rückgang an Bruttowertschöpfung lediglich zu einem sehr geringen Anstieg der Arbeitslosenquote. Ein Blick auf den Arbeitsmarkt in den Jahren 2009 und 2010 nach dem Ausbruch der jüngsten Finanzkrise zeigt etwa, dass die Arbeitslosenquote in diesem Sektor weit weniger stark gestiegen ist als in anderen Sektoren. Und da in Tirol dieser Sektor von überdurchschnittlicher Bedeutung ist, stieg die Arbeitslosenquote in Tirol in diesen Jahren weniger stark als in anderen Bundesländern, in denen dieser Sektor von untergeordneter Bedeutung ist. Auffallend ist weiter, dass sich die Bedeutung des Sektors Beherbergung und des Sektors Gastronomie gemessen am gesamten Sektor Beherbergung und Gastronomie teils stark zwischen den Bundesländern unterscheidet. Während etwa in Gesamtösterreich in der Gastronomie mehr als 1,5-mal so viele Personen beschäftigt sind wie in der Beherbergung, ist es in Tirol genau umgekehrt: Hier sind mehr als doppelt so viele Personen in der Beherbergung beschäftigt wie in der Gastronomie. Dies ist in diesem Zusammenhang von Interesse, da die Beschäftigung in der Beherbergung noch weniger auf eine Veränderung der Bruttowertschöpfung reagiert als in der Gastronomie. Mismatching Ein weiterer potenzieller Grund für geringe Reaktionen der Beschäftigung und in weiterer Folge der Arbeitslosenquote auf Veränderungen des Bruttoregionalproduktes könnte in einem Mismatching zwischen den Eigenschaften der Arbeitnehmer und den offenen Stellen liegen. Dieses Mismatching ist etwa auch aus der Liste an Mangelberufen ersichtlich, die der Bundesminister für Arbeit im Einvernehmen mit dem Bundesminister für Wirtschaft jährlich in der so genannten Fachkräfteverordnung kundmacht. Wenn sich beispielsweise die Qualifikationserfordernisse von offenen Stellen häufig von den Qualifikationen der Arbeitssuchenden unterscheiden, so würde die Arbeitslosigkeit bzw. Beschäftigung auch bei guten konjunkturellen Voraussetzungen nur wenig reagieren. Es ist zu vermuten, dass in derartigen Fällen der notwendige Zuwachs an Gesamtarbeitszeit verstärkt zur Ausweitung der individuellen Arbeitszeit und weniger zur Ausweitung der Anzahl an Beschäftigten führen würde. Als Alternative kämen Personen aus anderen Bundesländern oder dem Ausland in Frage, die hier als „Puffer“ am Arbeitsmarkt fungieren. Wie ausgeprägt ein derartiges Mismatching im Bundesland Tirol bzw. seinen Regionen ist, kann im Rahmen der vorliegenden Studie nicht beurteilt werden. Dazu wäre eine Untersuchung mit regional disaggregierten Daten erforderlich, was über die Fragestellung der vorliegenden Arbeit hinausginge. Eine spannende und wirtschaftspolitisch höchst relevante Forschungsfrage ist dies jedoch allemal. Denn wenn es am Tiroler Arbeitsmarkt tatsächlich einen Mismatch im signifikanten Ausmaß gibt, bedeutet dies auch, dass die Tiroler Unternehmen nicht ihr volles Potenzial ausschöpfen können und die Tiroler Wirtschaft hinter ihren Möglichkeiten zurückbleibt. Seite 14 GAW – Gesellschaft für Angewandte Wirtschaftsforschung Wie viel Wachstum braucht Tirol? Quellen AMS (2015). Arbeitsmarktdaten online - Regionale Daten zu Arbeitslosigkeit und Beschäftigung. Arbeitsmarktservice, Wien. Ball, L., Leigh, D., Loungani, P. (2013). Okun’s Law: Fit at 50? IMF Working Paper WP/13/10. Buscher, H., Falk, M., Göggelmann, K., Ludsteck, J, Steiner, V., Zwick, T. (2000). Wachstum, Beschäftigung und Arbeitslosigkeit. ZEW Mannheim. Land Tirol (2015). Tourismus in Tirol, Ankünfte und Nächtigungen 1985 – 2015. Abteilung Statistik & Budget, Innsbruck. RGR (2015). Regionale Gesamtrechnung, Bruttoregionalprodukt und Hauptaggregate. Statistik Austria, Wien. VGR (2015). Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung, Bruttoinlandsprodukt und Hauptaggregate. Statistik Austria, Wien. VPI (2015) Index der Verbraucherpreise, Warenkörbe 2010, 2005, 2000, 1996 und 1986. Statistik Austria, Wien. GAW – Gesellschaft für Angewandte Wirtschaftsforschung Seite 15 Wie viel Wachstum braucht Tirol? Anhang Natürliche Arbeitslosenquote und natürliches Wachstum des BIP/BRP in Tirol und Österreich a) natürliche (konjunkturunabhängige) Arbeitslosenquote 8,0% 7,5% 7,0% 6,5% 6,0% 5,5% 5,0% 4,5% 4,0% 3,5% 3,0% 2,5% 2,0% 1,5% 1,0% 0,5% 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 0,0% b) natürliches Wachstum des (realen) BIP/BRP 5,0% 4,5% 4,0% 3,5% 3,0% 2,5% 2,0% 1,5% 1,0% 0,5% 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 0,0% Österreich Tirol Basispreis 2010. Quelle: RGR (2015), VGR(2015), VPI (2015). Seite 16 GAW – Gesellschaft für Angewandte Wirtschaftsforschung Kontakt zu den Autoren: Mag. Stefan Garbislander: [email protected] Dr. Florian Wakolbinger: [email protected] Dr. Stefan D. Haigner: [email protected] Impressum Abteilung WIRTSCHAFTSPOLITIK und STRATEGIE der WIRTSCHAFTSKAMMER TIROL 6020 Innsbruck, Wilhelm-Greil-Straße 7 Titelfoto: fotolia@industrieblick T: 05 90 90 5-1228 E: [email protected] Verlag und Herstellungsort: 6020 Innsbruck, ZLU: 13508 | 47U Alle Rechte vorbehalten. Eine auch nur auszugsweise Wiedergabe ist nur mit genauer Quellenangabe gestattet!
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