Tekster til workshop 2

Tekster til workshop 2
Peter Bichsel
Hinterher
Hinterher fiel mir ein, dass er unfreundlich war, dass er etwas in der Hand hielt, ein
Messer vielleicht, und dass ich zitterte am ganzen Leib.
Hinterher fiel mir ein, dass er gesagt haben könnte: „Ich spiele nicht!“
Hinterher fiel mir ein, dass wir uns wohl nicht verstanden haben.
Hinterher fiel mir ein, dass ich noch lebe.
Jetzt möchte ich wissen, wie es ihm geht.
(1993)
Aus: Peter Bichsel: Zur Stadt Paris, Suhrkamp Verlag 1993
Uwe Timm
Verhältnisse
G., die ein Verhältnis mit M. hat, der mit R. verheiratet ist, die mit W. ein Verhältnis hat,
von dem G. weiß, aber nicht M., so wie W. und R. nicht von dem Verhältnis von M. und G.
wissen, G. weiß also noch am meisten. Trifft man G, erzählt sie von R. und W., wie
rücksichtslos, wie gemein, wie hinterhältig die zwei sind, während R. und W. über M.
klagen, dessen Dickfelligkeit, ja Rücksichtslosigkeit enorm sei, nur M. klagt nicht, weiß
aber auch nicht, was sonst alle wissen, was ihn, da er sich weder über R. noch W.
beschwert, überall zu einem gut gelittenen Gast macht.
(1996)
Aus: Uwe Timm: Vogel, friß die Feige nicht, Kiepenheuer & Witsch 1996
Heinrich Heine
Ich steh auf des Berges Spitze
Ich steh auf des Berges Spitze,
Und werde sentimental.
"Wenn ich ein Vöglein wäre!"
Seufz ich vieltausendmal.
Wenn ich eine Schwalbe wäre,
So flög ich zu dir, mein Kind,
Und baute mir mein Nestchen,
Wo deine Fenster sind.
Wenn ich eine Nachtigall wäre,
So flög ich zu dir, mein Kind,
Und sänge dir nachts meine
Lieder Herab von der grünen Lind'.
Wenn ich ein Gimpel wäre,
So flög ich gleich an dein Herz;
Du bist ja hold den Gimpeln,
Und heilest Gimpelschmerz.
(1822)