Ruhr Nachrichten - Schwerter Zeitung vom 21.01.2016 Seite: Ressort: Gattung: 3 RN Schwerte / Hier und Heute Tageszeitung Auflage: Reichweite: 8.031 (gedruckt) 7.392 (verkauft) 8.004 (verbreitet) 0,03 (in Mio.) „Kriminalität wird nur verwaltet“ Die Polizei in Nordrhein-Westfalen ist seit Jahren überlastet, aber braucht sie auch mehr Personal? DORTMUND. Nach den massiven sexuellen Übergriffen und Diebstählen in der Kölner Silvesternacht fordern viele Politiker, Verbände und Bürger mehr Polizei in Nordrhein-Westfalen. Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) verspricht nach dem vermeintlichen Polizeiversagen in Köln jetzt mehr Personal. Was steckt hinter der Ankündigung und wie ist die personelle Lage bei der Polizei tatsächlich? Nach Angaben eines vom Innenministerium NRW in Auftrag gegebenen Expertenberichts gab es 2015 gut 39000 Polizisten in NRW. „Jahrelang hat die Polizei in NRW Stellen abgebaut. Unabhängig von der Couleur der jeweiligen Landesregierung wurde hier gespart“, sagt Stephan Hegger, Sprecher der Gewerkschaft der Polizei (GdP) in Nordrhein-Westfalen. In den vergangenen 15 Jahren habe die Polizei rund 2000 Stellen abgebaut. Nordrhein-Westfalen verfügt statistisch über 224 Polizisten pro 100000 Einwohner, zählt aber – anders als andere Bundesländer – seine Verwaltungsmitarbeiter in die Statistik hinein. Ohne diese Zählweise wäre NRW bundesweit Schlusslicht. Zum Vergleich: Bayern beschäftigt 326 Polizisten pro 100000 Einwohner. Terrorgefahr, Gewalt von Links- und Rechtsextremisten, No-Go-Areas, steigende Einbruchszahlen und die Flüchtlingskrise haben die Politik zum Handeln gezwungen. 2015 wurde die Zahl der Einstellungen bei der Polizei in NRW von 1500 auf 1620 erhöht, 2016 sollen es sogar 1920 werden. Das Problem: „Die neuen Kommissaranwärter müssen erst mal eine dreijährige Ausbildung absolvieren“, sagt Jürgen Weibler, Professor für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Personalführung und Organisation an der Fernuni in Hagen sowie Koautor des Expertenberichts. „Polizistinnen und Polizisten gibt es nicht einfach auf dem Arbeitsmarkt.“ Der Expertenbericht, verfasst von Weibler sowie drei NRW Polizei-Chefs, geht der Frage nach, ob die Polizei auch im Jahr 2031 noch einsatz- und leistungsfähig ist. Die Antwort: Ja, aber… Bis zum Jahr 2030 prognostiziert der Expertenbericht gut 1288 Polizisten weniger in NRW als im Jahr 2014. Denn es gehen mehr Beamte in Pension, als eingestellt werden. Dabei ist zwar die neuste Erhöhung der Einstellungszahlen noch nicht eingerechnet, und viele Zahlen können nur geschätzt werden, doch die Tendenz ist eindeutig. Ressourcen besser nutzen Um die schrumpfende Polizei leistungsfähig zu halten, schlagen die Experten eine Reduzierung der Aufgaben vor. Ruhestörungen zum Beispiel gehörten nicht zu den Kernaufgaben der Polizei. Ebenso wenig der Einsatz bei Fußballspielen oder die Begleitung von Schwertransporten. Durch den Wegfall solcher Aufgaben könnten laut Berechnungen der Expertenkommission mehr als 1100 Polizisten anderen, wichtigeren Aufgaben nachgehen. Auch laut Kriminologe und Polizeiwissenschaftler Thomas Feltes von der Ruhr-Uni Bochum werden die „vorhandenen Personalressourcen oft unzureichend eingesetzt und die Polizei mit Aufgaben betraut, die andere Institutionen teilweise besser oder kostengünstiger erledigen könnten. Die Polizei müsste Ballast abwerfen und sich auf Wesentliches konzentrieren“, sagt er. Hinzukommt, dass viele Polizisten jetzt schon überlastet sind. Laut GdP haben die Beamten in NRW in den vergangenen Jahren etwa 3,6 Millionen Überstunden angesammelt. Und es werden immer mehr. Christian Werner ist bei der Einsatzhundertschaft der Bereitschaftspolizei und kennt sich mit Überstunden aus. „Ich persönlich habe mehr als 600 Überstunden. Die haben sich in meinen drei Jahren Wach- und Wechseldienst und in eineinhalb Jahren Hundertschaft angesammelt“, sagt der 27-Jährige, der auch Vorsitzender der Jungen Gruppe der GdP in Essen und Mülheim an der Ruhr ist. „Während meiner längsten Arbeitswoche von Montag bis Sonntag habe ich 74 Stunden gearbeitet“, sagt Werner. Die Regel sind 41 Stunden. Seiner Meinung nach ist das größte Problem nicht die Zahl der Überstunden, sondern die mangelnde Möglichkeit, diese abzubauen. „Die Leistungsstärke der Polizei wird bereits jetzt nur durch die fortdauernde Überlastung des Personals erreicht“, schreibt Erich Rettinghaus von der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG). Immer wieder gibt es Urlaubssperren wegen absehbarer Einsätze, wie zum Beispiel jetzt zum Karneval. Da müssen sogar 2400 Auszubildende der Polizei in Uniform auf die Straßen. „Das ist der Personalnot geschuldet und geht ausnahmsweise in Ordnung“, sagt Volker Huß, Vorstandsmitglied der GdP-NRW. Auf die Versäumnisse von Köln reagiert Ministerpräsidentin Kraft mit einem streitbaren Vorschlag: 500 Polizisten sollen freiwillig später in Pension gehen. Professor Weibler ist sich der Problematik des Vorschlags bewusst: „Das ist ein Dilemma, in dem sich viele Fragen stellen. Was ist der optimale Altersdurchschnitt für die Polizei? Wie kann man es steuern, dass auch die besonders benötigten Funktionsträger freiwillig länger arbeiten wollen?“ Trotzdem halte die Kommission eine „flexible Altersgrenze“ für eine „probate Lösung“ des drohenden Personaldefizits. Auch Polizeiwissenschaftler Feltes hält den Vorschlag für einen „Ansatz, der relativ schnell mehr Polizei verfügbar macht“. Einsätze bundesweit Ein weiterer Punkt auf Krafts Liste „für mehr Innere Sicherheit und bessere Integration vor Ort“ ist eine Reduzierung der „Unterstützungseinsätze außerhalb des Landes auf das rechtlich zulässige Maß“. Die Einsatzhundertschaften der NRW-Bereitschaftspolizei sollen also weniger in anderen Bundesländern eingesetzt werden. Solche Unterstützungs- einsätze sind keine Seltenheit. Im ersten Halbjahr 2014 leisteten die Beamten der Hundertschaft in NRW gut 1,7 Millionen Personalstunden. Mehr als 84000 davon waren bei Einsätzen außerhalb von NRW. Zum Beispiel im Januar 2014 bei einer Sicherheitskonferenz in München, im Februar bei einer Versammlung in Dresden und bei den MaiKrawallen in Berlin. Die Kosten für Abbildung: Fotograf: Wörter: © 2016 PMG Presse-Monitor GmbH diese Einsätze stellt NRW den anderen Ländern in Rechnung, doch die Arbeitsbelastung für die eingesetzten Polizisten wird dadurch höchstens mittelbar kompensiert. Eine Reduzierung solcher Einsätze soll nun die Hundertschaften entlasten. Als weitere Konsequenz nach den Kölner Übergriffen hat die Opposition im Landtag einen Untersuchungsausschuss beantragt. Darin soll auch die Polizeiarbeit und Kriminalitätsentwicklung in den vergangenen fünf Jahren untersucht werden. Für den Gewerkschafter Huß ist das Ergebnis absehbar: „Kriminalität wird in NRW nur noch verwaltet.“ „Knicken, lochen, abheften“, heißt das im Beamtenjargon. Bettina Ansorge Christoph Klemp Seit den Kölner Übergriffen zeigt die Polizei verstärkt Präsenz – wie bei dieser Razzia am Dienstag im Kölner Stadtteil Kalk auf der Suche nach Diebesbanden. dpa fg gfh 905
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