„Kriminalität wird nur verwaltet“

Ruhr Nachrichten - Schwerter Zeitung vom 21.01.2016
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„Kriminalität wird nur verwaltet“
Die Polizei in Nordrhein-Westfalen ist seit Jahren überlastet, aber braucht sie auch mehr
Personal?
DORTMUND. Nach den massiven
sexuellen Übergriffen und Diebstählen
in der Kölner Silvesternacht fordern
viele Politiker, Verbände und Bürger
mehr Polizei in Nordrhein-Westfalen.
Ministerpräsidentin Hannelore Kraft
(SPD) verspricht nach dem vermeintlichen Polizeiversagen in Köln jetzt mehr
Personal. Was steckt hinter der Ankündigung und wie ist die personelle Lage
bei der Polizei tatsächlich?
Nach Angaben eines vom Innenministerium NRW in Auftrag gegebenen
Expertenberichts gab es 2015 gut 39000
Polizisten in NRW. „Jahrelang hat die
Polizei in NRW Stellen abgebaut. Unabhängig von der Couleur der jeweiligen
Landesregierung wurde hier gespart“,
sagt Stephan Hegger, Sprecher der
Gewerkschaft der Polizei (GdP) in
Nordrhein-Westfalen. In den vergangenen 15 Jahren habe die Polizei rund
2000 Stellen abgebaut. Nordrhein-Westfalen verfügt statistisch über 224 Polizisten pro 100000 Einwohner, zählt aber –
anders als andere Bundesländer – seine
Verwaltungsmitarbeiter in die Statistik
hinein. Ohne diese Zählweise wäre
NRW bundesweit Schlusslicht. Zum
Vergleich: Bayern beschäftigt 326 Polizisten pro 100000 Einwohner.
Terrorgefahr, Gewalt von Links- und
Rechtsextremisten, No-Go-Areas, steigende Einbruchszahlen und die Flüchtlingskrise haben die Politik zum Handeln gezwungen. 2015 wurde die Zahl
der Einstellungen bei der Polizei in
NRW von 1500 auf 1620 erhöht, 2016
sollen es sogar 1920 werden. Das Problem: „Die neuen Kommissaranwärter
müssen erst mal eine dreijährige Ausbildung absolvieren“, sagt Jürgen Weibler,
Professor für Betriebswirtschaftslehre,
insbesondere Personalführung und
Organisation an der Fernuni in Hagen
sowie Koautor des Expertenberichts.
„Polizistinnen und Polizisten gibt es
nicht einfach auf dem Arbeitsmarkt.“
Der Expertenbericht, verfasst von
Weibler sowie drei NRW Polizei-Chefs,
geht der Frage nach, ob die Polizei auch
im Jahr 2031 noch einsatz- und leistungsfähig ist. Die Antwort: Ja, aber…
Bis zum Jahr 2030 prognostiziert der
Expertenbericht gut 1288 Polizisten
weniger in NRW als im Jahr 2014. Denn
es gehen mehr Beamte in Pension, als
eingestellt werden. Dabei ist zwar die
neuste Erhöhung der Einstellungszahlen
noch nicht eingerechnet, und viele Zahlen können nur geschätzt werden, doch
die Tendenz ist eindeutig.
Ressourcen besser nutzen
Um die schrumpfende Polizei leistungsfähig zu halten, schlagen die Experten
eine Reduzierung der Aufgaben vor.
Ruhestörungen zum Beispiel gehörten
nicht zu den Kernaufgaben der Polizei.
Ebenso wenig der Einsatz bei Fußballspielen oder die Begleitung von Schwertransporten. Durch den Wegfall solcher
Aufgaben könnten laut Berechnungen
der Expertenkommission mehr als 1100
Polizisten anderen, wichtigeren Aufgaben nachgehen. Auch laut Kriminologe
und Polizeiwissenschaftler Thomas Feltes von der Ruhr-Uni Bochum werden
die „vorhandenen Personalressourcen
oft unzureichend eingesetzt und die
Polizei mit Aufgaben betraut, die andere
Institutionen teilweise besser oder
kostengünstiger erledigen könnten. Die
Polizei müsste Ballast abwerfen und
sich auf Wesentliches konzentrieren“,
sagt er. Hinzukommt, dass viele Polizisten jetzt schon überlastet sind. Laut
GdP haben die Beamten in NRW in den
vergangenen Jahren etwa 3,6 Millionen
Überstunden angesammelt. Und es werden immer mehr.
Christian Werner ist bei der Einsatzhundertschaft der Bereitschaftspolizei und
kennt sich mit Überstunden aus. „Ich
persönlich habe mehr als 600 Überstunden. Die haben sich in meinen drei Jahren Wach- und Wechseldienst und in
eineinhalb Jahren Hundertschaft angesammelt“, sagt der 27-Jährige, der auch
Vorsitzender der Jungen Gruppe der
GdP in Essen und Mülheim an der Ruhr
ist. „Während meiner längsten Arbeitswoche von Montag bis Sonntag habe ich
74 Stunden gearbeitet“, sagt Werner.
Die Regel sind 41 Stunden. Seiner Meinung nach ist das größte Problem nicht
die Zahl der Überstunden, sondern die
mangelnde Möglichkeit, diese abzubauen. „Die Leistungsstärke der Polizei
wird bereits jetzt nur durch die fortdauernde Überlastung des Personals
erreicht“, schreibt Erich Rettinghaus
von der Deutschen Polizeigewerkschaft
(DPolG).
Immer wieder gibt es Urlaubssperren
wegen absehbarer Einsätze, wie zum
Beispiel jetzt zum Karneval. Da müssen
sogar 2400 Auszubildende der Polizei in
Uniform auf die Straßen. „Das ist der
Personalnot geschuldet und geht ausnahmsweise in Ordnung“, sagt Volker
Huß, Vorstandsmitglied der GdP-NRW.
Auf die Versäumnisse von Köln reagiert Ministerpräsidentin Kraft mit
einem streitbaren Vorschlag: 500 Polizisten sollen freiwillig später in Pension
gehen. Professor Weibler ist sich der
Problematik des Vorschlags bewusst:
„Das ist ein Dilemma, in dem sich viele
Fragen stellen. Was ist der optimale
Altersdurchschnitt für die Polizei? Wie
kann man es steuern, dass auch die
besonders benötigten Funktionsträger
freiwillig länger arbeiten wollen?“
Trotzdem halte die Kommission eine
„flexible Altersgrenze“ für eine „probate Lösung“ des drohenden Personaldefizits. Auch Polizeiwissenschaftler
Feltes hält den Vorschlag für einen
„Ansatz, der relativ schnell mehr Polizei verfügbar macht“.
Einsätze bundesweit
Ein weiterer Punkt auf Krafts Liste „für
mehr Innere Sicherheit und bessere Integration vor Ort“ ist eine Reduzierung
der „Unterstützungseinsätze außerhalb
des Landes auf das rechtlich zulässige
Maß“. Die Einsatzhundertschaften der
NRW-Bereitschaftspolizei sollen also
weniger in anderen Bundesländern eingesetzt werden. Solche Unterstützungs-
einsätze sind keine Seltenheit. Im ersten
Halbjahr 2014 leisteten die Beamten der
Hundertschaft in NRW gut 1,7 Millionen Personalstunden. Mehr als 84000
davon waren bei Einsätzen außerhalb
von NRW. Zum Beispiel im Januar
2014 bei einer Sicherheitskonferenz in
München, im Februar bei einer Versammlung in Dresden und bei den MaiKrawallen in Berlin. Die Kosten für
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diese Einsätze stellt NRW den anderen
Ländern in Rechnung, doch die Arbeitsbelastung für die eingesetzten Polizisten wird dadurch höchstens mittelbar
kompensiert. Eine Reduzierung solcher
Einsätze soll nun die Hundertschaften
entlasten. Als weitere Konsequenz nach
den Kölner Übergriffen hat die Opposition im Landtag einen Untersuchungsausschuss beantragt. Darin soll auch die
Polizeiarbeit und Kriminalitätsentwicklung in den vergangenen fünf Jahren
untersucht werden. Für den Gewerkschafter Huß ist das Ergebnis absehbar:
„Kriminalität wird in NRW nur noch
verwaltet.“ „Knicken, lochen, abheften“,
heißt das im Beamtenjargon. Bettina
Ansorge
Christoph Klemp
Seit den Kölner Übergriffen zeigt die Polizei verstärkt Präsenz – wie bei dieser Razzia am Dienstag im
Kölner Stadtteil Kalk auf der Suche nach Diebesbanden. dpa
fg gfh
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